01. Oktober 2024
Die sich abzeichnende neue Blockkonfrontation beweist, dass es keine vereinte globale Kapitalistenklasse mehr gibt. Zweifellos lassen sich nicht alle Konflikte mit ökonomischem Kalkül erklären. Und dennoch: Die Konkurrenz zwischen den Staaten ist materiell verankert.
Werbung für die Bank of China auf einem Gebäude in Budapest.
Die heutige globale Geopolitik ist von Spannungen und bewaffneten Konflikten geprägt, die sogar die Gefahr eines Weltkriegs beinhalten – vor allem in der Ukraine, im Nahen Osten und in Taiwan. Seit Anfang der 2010er-Jahre erinnert die Haltung führender Staatsmächte immer mehr an die Jahre vor dem großen imperialistischen Weltkrieg ab 1914. Eine solche Entwicklung wäre in den 1990er-Jahren noch undenkbar gewesen, als die neoliberale Globalisierung die vorherrschende Ideologie war, das »Ende der Geschichte« erreicht schien und die USA als einzige verbleibende Supermacht die Weltgeschicke lenkten.
Die Vereinigten Staaten sind zweifellos noch immer der wichtigste (und aggressivste) Akteur auf der internationalen Bühne. Dies gilt insbesondere mit Blick auf China. Interessant ist, dass keiner der potenziellen Rivalen der Amerikaner aus den »alten« imperialistischen Mächten hervorgegangen ist, sondern sie alle Teil der ehemaligen sogenannten Zweiten oder Dritten Welt sind: China tritt als wichtigster ökonomischer, Russland als wichtigster militärischer Herausforderer auf. Dies spiegelt einen tiefgreifenden Wandel der Weltwirtschaft in den vergangenen Jahrzehnten wider.
Die Verschärfung der Spannungen findet zudem zu einer Zeit statt, in der die bisherigen Kernländer der Weltwirtschaft historisch gesehen unterdurchschnittlich performen, insbesondere seit der großen Krise von 2007–2009. Die Wirtschaftstätigkeit in diesen Kernländern ist in Bezug auf Wachstum, Investitionen, Produktivität etcetera bemerkenswert schwach, und es gibt keine ernsthaften Anzeichen für einen Ausweg aus dieser Lage. Die Zeit seit der Krise von 2007–2009 ist ein historisches »Interregnum« im klassischen Gramsci’schen Sinne: Die alte Welt liegt im Sterben, die neue ist noch nicht geboren. Im aktuellen Kontext zeigt sich bisher lediglich die Unfähigkeit der kapitalistischen Akkumulation, sich sowohl im nationalen Sinne als auch international einen neuen Weg zu bahnen. Was darauf folgt? Wer weiß das schon.
Das dramatische Wiederaufflammen imperialistischer und hegemonialer Auseinandersetzungen und die Notwendigkeit entsprechender politischer Schlussfolgerungen sind für die sozialistische Linke von größter Bedeutung, wie in einem kürzlich in Jacobin erschienenen Beitrag dargelegt wurde. In diesem Artikel möchte ich einige wichtige Punkte zur Debatte beitragen, wobei ich mich in erster Linie auf den kürzlich veröffentlichten Sammelband The State of Capitalism: Economy, Society, and Hegemony stütze.
In der marxistischen Theorie wurde immer wieder versucht, den Imperialismus mit der politischen Ökonomie des Kapitalismus in Verbindung zu bringen. Am deutlichsten wird dies in Wladimir Lenins Analyse, die auf Rudolf Hilferdings Das Finanzkapital aufbaut. Das derzeitige Wiederauftreten imperialistischer und hegemonialer Auseinandersetzungen lässt sich am besten auf dem von diesen Autoren eingeschlagenen Weg analysieren.
Ansätze, die auf nicht-ökonomischen Erklärungen beruhen oder gar versuchen, Imperialismus und Kapitalismus zu trennen (wie die von Joseph Schumpeter) haben nur eine begrenzte Erklärungskraft. Dennoch muss auch die Theorie von Hilferding und Lenin mit großer Vorsicht behandelt werden. Die aktuelle geopolitische Lage der Welt mag an die Zeit vor 1914 erinnern – aber der Schein kann eben auch trügen.
In jedem Fall war für beide Autoren der entscheidende Faktor des Imperialismus eine Umwandlung der grundlegenden Kapitaleinheiten in den Kernbereichen der Weltwirtschaft. Dies führte zur Entstehung des Finanzkapitals. Zusammengefasst lässt sich sagen: monopolistisches Industriekapital und Bankkapital verschmolzen zum Finanzkapital, das auf zwei Arten nach Expansion im Ausland strebte: erstens mit dem Verkauf von Waren und zweitens mit dem Export von darlehensfähigem Geldkapital.
Kurz gesagt wurde der klassische Imperialismus durch die beschleunigte Internationalisierung des Waren- und Geldkapitals im Rahmen einer Verschmelzung von Industrie- und Bankmonopolkapital angetrieben.
»Der Imperialismus ist daher sowohl eine geopolitische Praxis als auch eine ökonomische Erscheinung.«
Natürlich konkurrierten die Finanzkapitale verschiedener Länder auf dem Weltmarkt gegeneinander. Daher suchten sie – in der Regel, aber nicht ausschließlich – die Unterstützung ihrer jeweiligen Heimatstaaten. Was folgte, war die Schaffung von Kolonialreichen, um exklusive Territorien für den Export von Warenkapital zu erschließen sowie günstige Bedingungen für den Export von Darlehenskapital zu schaffen.
Die kolonisierten Länder befanden sich in der Regel auf einer niedrigeren Stufe der kapitalistischen Entwicklung oder waren überhaupt nicht kapitalistisch. Indes wäre die koloniale Expansion ohne Militarismus nicht möglich gewesen. So verstärkte sich der Drang zur bewaffneten Konfrontation zwischen den nationalstaatlichen Konkurrenten.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Drang, Kolonien zu schaffen, letztlich aus den aggressiven Aktionen der Finanzkapitalisten heraus entstand, die sich Gewinne sichern wollten. Zu diesem Zweck nutzten sie die Dienste ihres jeweiligen Staates. Dies führte langfristig zu Kriegstreiberei. Staaten sind keine kapitalistischen Unternehmen, und ihre Beziehungen werden nicht von einer groben Überschlagsrechnung nach Gewinn und Verlust bestimmt. Sie handeln auf der Grundlage von Macht, Geschichte, Ideologie und einer Vielzahl anderer nicht-ökonomischer Faktoren. Der ultimative Machtfaktor ist dabei die militärische Stärke.
Die imperialistische Expansion wurde also im Wesentlichen durch die Interessen des Privatkapitals angetrieben, führte aber unweigerlich zur Unterdrückung und Ausbeutung von Nationen sowie zu Konflikten. Dabei konnten die Einnahmen für das Heimatland aus Unternehmensgewinnen stammen, aber auch aus Steuern, wie beispielsweise in Indien. Auf der anderen Seite der Rechnung standen die erheblichen Kosten für die Aneignung von und fortgeführte Kontrolle über Kolonien.
Der Imperialismus ist daher sowohl eine geopolitische Praxis als auch eine ökonomische Erscheinung. Er hat seine Wurzeln im wirtschaftlichen Verhalten und in den Profiten global agierender kapitalistischer Unternehmen, führt aber zeitgleich zu staatlichen Maßnahmen mit komplexen und gegebenenfalls widersprüchlichen Ergebnissen. Im Grunde ist der Imperialismus das historische Ergebnis einer ausgereiften kapitalistischen Akkumulation.
Im Gegensatz zur Zeit Hilferdings und Lenins ist das entscheidende Merkmal des heutigen Imperialismus die Internationalisierung des Produktivkapitals und nicht nur der Rohstoffe und des verleihbaren Geldkapitals.
Große Teile der modernen kapitalistischen Produktion finden grenzüberschreitend in Wertschöpfungsketten statt, die in der Regel von multinationalen Unternehmen kontrolliert werden, die diese Kontrolle entweder direkt über Tochtergesellschaften oder indirekt durch Verträge mit lokalen Kapitalisten im jeweiligen Drittstaat ausüben. Der quantitative Sprung beim Volumen des internationalen Handels in den vergangenen Jahrzehnten ist ein Ergebnis des Handels entlang solcher Wertschöpfungsketten.
Die Produktion im Ausland ist mit weitaus anspruchsvolleren Anforderungen verbunden als der bloße Handel mit Waren oder die Kreditvergabe. Der internationale Kapitalist muss über umfassende Kenntnisse der lokalen Wirtschaftsbedingungen in den Drittstaaten, verlässlichen Zugriff auf lokale Ressourcen und vor allem Zugang zu qualifizierten Arbeitskräften verfügen. Das macht direkte oder indirekte Beziehungen zum Staat sowohl im Herkunfts- als auch im Drittland erforderlich.
Der zweite und ebenso einschneidende Unterschied ist die Form, die das Finanzkapital in den letzten Jahrzehnten angenommen hat und die ein wichtiger Faktor für die Finanzialisierung des Kapitalismus war.
Der Export von Kreditkapital hat enorm zugenommen, aber der Großteil dieser Ströme floss und fließt weiterhin hauptsächlich von kapitalistischem Kernland zu kapitalistischem Kernland und nicht von einem Kernland zur Peripherie. Das derzeitige Interregnum ist aber zusätzlich dadurch gekennzeichnet, dass es ein erhebliches Wachstum der Geldströme von China in die Peripherie sowie von Peripherie- zu Peripheriestaat gibt.
»Heutzutage tätigen Industrieunternehmen in kapitalistischen Kernländern oftmals nur geringe Investitionen, während sie gleichzeitig riesige Mengen an Geldkapital in Reserve halten.«
Darüber hinaus wurden bis zur Krise von 2007–2009 sowohl die nationale als auch die internationale Finanzialisierung hauptsächlich von Geschäftsbanken vorangetrieben. Während des aktuellen Interregnums verlagert sich der Schwerpunkt hingegen auf ein »Schattenbankwesen«. Damit werden Finanzinstitutionen bezeichnet, die keine Banken sind, beispielsweise Investmentfonds, die Gewinne aus dem Wertpapierhandel und -besitz ziehen. Drei dieser Fonds – BlackRock, Vanguard und State Street – halten derzeit einen erheblichen Anteil des gesamten Aktienkapitals der USA in ihren Portfolios.
Der heutige Imperialismus ist, kurz gesagt, durch die Internationalisierung des Produktiv- sowie des Waren- und Geldkapitals gekennzeichnet, wiederum im Rahmen der Monopolisierung des Industrie- und des Finanzkapitals. Im Gegensatz zur Zeit Hilferdings und Lenins gibt es jedoch keine Verschmelzung von Industrie- und Finanzkapital – und schon gar keine, bei der das Letztere das Erstere dominieren würde.
Dominanz ist schließlich kein Ergebnis der grundsätzlichen Bewegung des Kapitals, sondern ergibt sich aus den konkreten Realitäten kapitalistischer Aktivitäten in spezifischen historischen Kontexten. Im frühen 20. Jahrhundert konnten Banken das Industriekapital dominieren, weil Letzteres zur Finanzierung langfristiger Anlageinvestitionen stark auf Bankkredite angewiesen war. Solche Kredite ermöglichten es (und ermutigten) Banken, sich aktiv in die Führung von Großunternehmen einzuschalten.
Heutzutage tätigen Industrieunternehmen in kapitalistischen Kernländern oftmals nur geringe Investitionen, während sie gleichzeitig riesige Mengen an Geldkapital in Reserve halten. Beides sind charakteristische Merkmale der Finanzialisierung von Industrieunternehmen sowie der unterdurchschnittlichen Performance der Kern-Volkswirtschaften während des aktuellen Interregnums. Das bedeutet auch, dass die großen internationalen Konzerne weit weniger vom Finanzkapital abhängig sind als zu Zeiten des klassischen Imperialismus.
Die umfangreichen Aktienbeteiligungen von »Schattenbanken« sind sicherlich insofern wichtig, dass sie Stimmrechte in großen Unternehmen beinhalten. Sie spielen daher eine Rolle bei der Entscheidungsfindung von Unternehmen, die nicht im Finanzsektor anzusiedeln sind. Es wäre aber eine Übertreibung zu behaupten, dass die großen drei Investmentfonds die Bedingungen für »Corporate America« diktieren. Sie sind Inhaber von Aktien und streben nach Gewinnen, indem sie Wertpapierportfolios verwalten. Ihre Position erinnert an die eines Rentiers, der über die Wertpapiermärkte eine Art ausbalancierte Koexistenz mit dem Industriellen anstrebt.
Dies ist die treibende Kraft des zeitgenössischen Imperialismus: Eine Paarung von internationalisiertem Industriekapital und internationalisiertem Finanzkapital. Keiner der beiden Sektoren dominiert den anderen und es gibt keinen grundlegenden Konflikt zwischen ihnen. Gemeinsam bilden sie die aggressivste Kapitalform, die es jemals gab.
Die Kombination dieser »Kapitale«, die den heutigen Imperialismus antreibt, braucht keinen Zugang zu exklusiven Territorien mehr und strebt entsprechend nicht danach, Kolonialreiche zu bilden. Im Gegenteil, sie lebt vom ungehinderten Zugang zu globalen Ressourcen, billigen Arbeitskräften, niedrigen Steuern, lockeren Umweltstandards und unzähligen Märkten für ihre industriellen, kommerziellen und finanziellen Bausteine.
»Übrigens gibt es entgegen Lenins Behauptung in den kapitalistischen Kernländern auch keine ›Arbeiteraristokratie‹, die herausragende Privilegien gegenüber anderen Arbeiterinnen und Arbeitern hätten.«
In diesem Kontext ist aber festzustellen, dass es trotzdem keine »global« agierende und vereinte Kapitalistenklasse gibt. Dies ist eine Illusion aus vergangenen Tagen, als die Ideologie der neoliberalen Globalisierung zu triumphieren schien und die USA die einzige verbleibende Hegemonialmacht waren. Sicherlich gibt es Ähnlichkeiten bei den Ansichten der international tätigen Kapitalisten (die letztlich immer noch die Hegemonialmacht der Vereinigten Staaten widerspiegelt). Doch die beachtliche Eskalation der Spannungen in den vergangenen Jahren zeigt, dass die Kapitalisten international in sich potenziell feindlich gegenüberstehende Gruppen gespalten sind und dies auch bleiben werden.
Übrigens gibt es entgegen Lenins Behauptung in den kapitalistischen Kernländern auch keine »Arbeiteraristokratie«, die herausragende Privilegien gegenüber anderen Arbeiterinnen und Arbeitern hätten. Widerlegt wurde diese Illusion durch den enormen Druck, dem die Arbeiterklasse in den kapitalistischen Kernländern in den vergangenen vier Jahrzehnten ausgesetzt war.
Das international tätige Industrie- und Finanzkapital hat zwei grundlegende Anforderungen. Erstens muss es klare und durchsetzbare Regeln für die Ströme von Produktivinvestitionen, Waren und darlehensfähigem Geldkapital geben. Dies ist nicht nur über Verträge zwischen Staaten geregelt, sondern muss vor allem durch entsprechend strukturierte Institutionen wie den Internationalen Währungsfonds, die Weltbank, die Welthandelsorganisation, die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich und ähnliche sichergestellt werden. Zweitens muss es eine verlässliche Form eines »Weltgelds« geben, das als Rechnungseinheit, Zahlungsmittel und Wertreserve dient.
Beide Anforderungen – insbesondere die letztere – spiegeln den besonderen Charakter der Weltwirtschaft wider, bei dem (im Gegensatz zur nationalen Ebene) natürlicherweise die koordinierende und organisierende Einflussnahme eines Nationalstaates fehlt. Andererseits benötigen Industrie- und Finanzkapitalien nach wie vor die Unterstützung ihrer jeweiligen Nationalstaaten, um auf dem Weltmarkt bestehen zu können.
Hier kommt unweigerlich der Nationalstaat – auch als Gegenpol zum System der international konkurrierenden Kapitale – zurück ins Spiel und bringt seine eigenen nicht-ökonomischen Überlegungen und Interessen ein.
Das charakteristische Merkmal des Nationalstaatensystems ist die Hegemonie. Es gibt entsprechend kaum einen besseren Wegweiser als Gramsci, um sich diesem Thema zu nähern, wie Robert Cox schon vor langer Zeit feststellte. Gramscis Fokus lag eigentlich auf dem innerstaatlichen Kräfteverhältnis zwischen den Klassen und den daraus resultierenden politischen Folgen, nicht auf den internationalen Beziehungen zwischen Staaten. Dennoch ist für unsere Zwecke der Punkt von Bedeutung, dass Hegemonie für Gramsci sowohl Zwang als auch Zustimmung beinhaltet und benötigt. Beides ist auch entscheidend für die Funktionsweise des modernen Imperialismus.
Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren die USA rund drei Jahrzehnte lang der einzige Hegemon. Ihre Macht basierte auf der wirtschaftlichen Vormachtstellung, ausgedrückt in der Größe des BIP, dem Umfang des internationalen Handels der USA und der Größe der Kapitalzuflüsse und -abflüsse. Vor allem aber beruhte die Hegemonialstellung auf der einzigartigen Position, die eigene Landeswährung als Weltgeld zu etablieren.
Die Zwang-Kapazitäten der USA sind somit teilweise wirtschaftlicher Natur, wie übrigens auch die enorme Bandbreite an Sanktionen zeigt, die regelmäßig gegen andere Staaten verhängt werden. Vor allem aber ist sie militärischer Natur und basiert auf den enormen Ausgaben für die Streitkräfte, die aktuell bei über einer Billion Dollar pro Jahr liegen. Dies ist deutlich mehr als in den »alten« imperialistischen Staaten – und finanziert ein riesiges Netzwerk von Militärbasen auf der ganzen Welt. Im Gegensatz zur klassischen Periode sind Militarisierung und ein riesiger militärisch-industrieller Komplex permanente und integrale Merkmale der heutigen US-Wirtschaft.
Zustimmung für die Positionen der USA beruht hingegen auf ihrer dominierenden Rolle in zahlreichen internationalen Institutionen, die die globale Wirtschaftstätigkeit regulieren. Diese Form der Macht basiert auch auf Universitäten und Thinktanks, die die vorherrschende Ideologie in internationalen Institutionen (re-) produzieren. Sie haben sich seit Jahrzehnten als wirksames Instrument erwiesen, eine weitgehend konvergente und konsistente Sichtweise unter international tätigen Kapitalisten auf der ganzen Welt zu schaffen.
»Es gibt keine global agierende und vereinte Kapitalistenklasse. Dies ist eine Illusion aus vergangenen Tagen, als die Ideologie der neoliberalen Globalisierung zu triumphieren schien und die USA die einzige verbleibende Hegemonialmacht waren.«
Als alleinige Hegemonialmacht bemühten sich die US-Regierungen, die Interessen ihrer weltweit aktiven Kapitale konsequent zu unterstützen. Dadurch wurden Bedingungen geschaffen, die auch den Kapitalen anderer »alter« imperialistischer Länder gewinnbringendes internationales Agieren ermöglichten, nicht zuletzt, da ein kontrollierter Zugang zum Weltgeld Dollar in kritischen Momenten wie 2008 oder auch 2020 gewährleistet war. Auch in dieser Hinsicht unterscheidet sich der heutige Imperialismus dramatisch von der klassischen Version.
Das Hegemonieproblem für die Vereinigten Staaten ergab sich im Laufe der Zeit aus der widersprüchlichen Natur dieser beiden Tendenzen. Erstens führte die Bevorzugung der Interessen international tätiger Kapitalgesellschaften zu erheblichen Kosten für Teile der US-Binnenwirtschaft: Die Produktion wanderte ab und führte zu (Langzeit-) Arbeitslosigkeit, Unternehmen verlegten ihre Sitze in Steueroasen, um Steuern zu umgehen, und technische Kompetenzen gingen schlicht verloren. Zweitens trug diese Verlagerung der Produktionskapazitäten zur Entstehung neuer, unabhängiger Zentren der kapitalistischen Akkumulation in Weltregionen bei, die zuvor als Zweite und Dritte Welt bezeichnet worden waren. Die Hauptrolle spielten dabei erneut Nationalstaaten, die ihre heimischen Kapitalisten auf dem umkämpften Weltmarkt mit einer globalisierten Produktion, globalisiertem Handel und globalisierten Finanzen unterstützen. Die Verlagerung der Produktion war ein entscheidender Faktor.
Das beste Beispiel ist selbstverständlich China, das sich zur größten Produktions- und Handelsmacht der Welt entwickelt hat. Freilich haben die großen chinesischen Industrie- und Finanzunternehmen im Vergleich zu ihren US-amerikanischen Pendants besondere Merkmale und Beziehungen (nicht zuletzt, weil viele von ihnen in Staatsbesitz sind). Doch auch die jeweiligen Finanzkapitale unterscheiden sich erheblich voneinander, wie beispielsweise Kozo Uno anmerkt.
Für unsere Zwecke ist festzuhalten, dass riesige chinesische, indische, brasilianische, koreanische, russische und andere Industrie- und Finanzunternehmen zunehmend auf globaler Ebene agieren und dabei staatliche Unterstützung suchen, um die Spielregeln zu beeinflussen und langfristig auch die Weltwährung zu bestimmen. Dabei bauen sie in erster Linie auf den eigenen Heimatstaat, wobei aber auch Beziehungen zu anderen Ländern gepflegt werden.
Die Wurzeln der sich heute stetig verschärfenden imperialistischen Auseinandersetzungen sind in diesem Aufbau des modernen globalen Kapitalismus zu suchen. Die USA werden sich der neuen Konkurrenz natürlich nicht beugen und setzen ihre enorme militärische, politische und finanzielle Macht ein, um ihre Hegemonie zu schützen. Das macht sie allerdings auch zur größten Bedrohung für den Weltfrieden.
»Es gibt absolut nichts Progressives am chinesischen, indischen, russischen oder irgendeinem anderen Kapitalismus.«
Die aktuellen Konflikte erinnern in gewisser Weise an die Zeit vor 1914: Sie werden im Wesentlichen von wirtschaftlichen Motiven angetrieben. Das bedeutet nicht, dass hinter jedem Aufflammen eine direkte ökonomische Kalkulation steckt; aber es bedeutet, dass die Konflikte insgesamt tiefliegende materielle Wurzeln haben. Sie sind daher außerordentlich gefährlich und schwer zu bewältigen.
Darüber hinaus unterscheiden sich diese neuen Auseinandersetzungen in ihrer Qualität vom früheren Antagonismus zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion, der in erster Linie politischer und ideologischer Natur war. Im Interregnum haben sich die USA auf die Unterstützung der »alten« imperialistischen Mächte verlassen. Dabei konnten sie vor allem auf die alte Aversion gegen und Konfrontationserfahrung mit der Sowjetunion bauen. Doch nichts garantiert, dass die USA dies für immer tun können.
Die Linke steht angesichts der Weltlage vor einer schwierigen, aber gleichzeitig klaren Entscheidung. Das allmähliche Aufkommen einer »multipolaren Welt« mit mehreren mächtigen Staaten, die die Hegemonie der USA in Frage stellen, hat kleineren Ländern etwas Raum verschafft, um ihre eigenen Interessen zu verteidigen. Das mag einige freuen, aber es gibt absolut nichts Verdienstvolles oder Progressives am chinesischen, indischen, russischen oder irgendeinem anderen Kapitalismus. Es sei auch daran erinnert, dass die Welt im Jahr 1914 ebenfalls multipolar war. Am Ende stand die Katastrophe.
Antworten können selbst heute noch in Lenins Schriften gefunden werden, obwohl sich die Welt stark verändert hat. Die sozialistische Linke muss sich dem Imperialismus widersetzen und anerkennen, dass die Vereinigten Staaten in diesem Sinne der Hauptaggressor sind. Das sollte aber von einer unabhängigen Position aus geschehen, die offen antikapitalistisch ist und sich keinerlei Illusionen über China, Indien, Russland und andere kapitalistische Konkurrenten macht, inklusive der »alten« imperialistischen Staaten.
Der Weg muss daher der einer innerstaatlichen antikapitalistischen Transformation sein. Diese basiert auf dem Prinzip einer innerstaatlichen Volkssouveränität, gekoppelt mit einer Souveränität des Nationalstaats, der globale Gleichheit anstrebt. Das wäre wahrer Internationalismus, beruhend auf der Macht der Arbeiterschaft und der Armen. Wie ein solcher Internationalismus wieder zu einer wirklichen politischen Kraft werden kann, ist das größte Problem unserer Zeit.
Costas Lapavitsas ist Ökonom und ehemaliges Mitglied des griechischen Parlaments. Er arbeitet als Professor am SOAS College der University of London und veröffentlichte 2018 das Buch “The Left Case against the EU”.