09. Dezember 2021
Die deutsche Impfkampagne war halbherzig, die Impfquote ist entsprechend niedrig. Nun zieht die Bundesregierung eine Impfpflicht in Erwägung. Doch es gibt bessere Alternativen, um die Impflücke zu schließen.
Über Aufklärung und niedrigschwellige Angebote ließe sich die Impfquote erhöhen, ganz ohne Impfpflicht.
Um eines vorab klarzustellen: Jeder und jede sollte sich gegen das Coronavirus impfen lassen, wenn im Einzelfall keine medizinischen Gründe dagegen sprechen. Die Impfstoffe, die uns glücklicherweise zur Verfügung stehen, sind sicher. Nebenwirkungen, auch im Vergleich zu anderen Impfungen und medizinischen Eingriffen, sind extrem selten und in der Regel gut behandelbar. Die Impfungen verhindern die Infektion für einige Monate ziemlich effektiv und verbessern die Prognose bei Erkrankten auch noch danach. Durch eine Boosterimpfung kann der Impfschutz zuverlässig erneuert werden und die Impfstoffhersteller prüfen laufend, ob eine Anpassung an neue Varianten notwendig ist.
In Island, wo 82 Prozent der Bevölkerung vollständig geimpft sind, starben während der gesamten Pandemie nur 35 Personen an Corona – auch weil vor der Bereitstellung der Impfstoffe eine konsequente Niedriginzidenzstrategie gefahren wurde. Hochgerechnet wären das etwa 100 Todesfälle pro 1 Million Einwohnerinnen, während in Deutschland mehr als 1.200 Todesfälle pro 1 Million Einwohner registriert sind (in Island leben nur etwas mehr als 360.000 Menschen). Besonders entscheidend für die niedrigen Todeszahlen in Island ist, dass nahezu alle über 60-Jährigen vollständig geimpft sind. Die Zahl der Geimpften in dieser Altersgruppe übersteigt sogar die Einwohnerzahl, weil auch Touristen und andere Personen, die nicht als Einwohner registriert sind, geimpft wurden. Viele von ihnen haben ihre Auffrischungsimpfung bereits erhalten.
Obwohl die Impfung gegen das Coronavirus so klare Vorteile bringt, schafft es Deutschland nicht, eine ähnlich hohe Impfquote zu erzielen. Eine Impfpflicht wird deshalb von einigen Ministerpräsidenten ernsthaft in Erwägung gezogen, ab März ist sie für Personal in Pflegeberufen schon beschlossene Sache. Es ist nicht so, dass eine solche Impfpflicht unter keinen Umständen verhältnismäßig sein könnte. Doch sie bleibt ein schwerer Grundrechtseingriff, der nur als letztes Mittel bleiben darf, wenn alle Alternativen ausgeschöpft wurden. Dies ist jedoch nicht der Fall.
Eigentlich ist es selbstverständlich, doch es sei an dieser Stelle nochmals wiederholt: Die freie Entscheidung über medizinische Behandlungen und das Vertrauensverhältnis zwischen Ärztin und Patientin sind besonders geschützte Bereiche der Privatsphäre und persönlichen Autonomie. Aus gutem Grund gibt es deshalb Regelungen wie die ärztliche Schweigepflicht, die mit einem Zeugnisverweigerungsrecht verbunden ist, also der Berechtigung, staatlichen Institutionen gegenüber die Auskunft zu verweigern.
Es braucht schon sehr gewichtige Gründe, um Menschen in ihren Körper hineinzuregieren. Das ist etwa dann der Fall, wenn dadurch andere, mindestens ebenso wichtige Grundrechte geschützt werden. Eine Pandemie, in der durch eine Impfung das Risiko der Übertragung auf andere vermindert werden kann, ist ein solcher Fall. Ebenso bietet eine umfangreiche Impfung der Bevölkerung die Chance, andere grundrechtssensible Maßnahmen, wie etwa Kontaktverbote, früher zu beenden. Beides legitimiert im Zweifel eine Impfpflicht – rechtlich wie moralisch.
Darüber hinaus gilt aber das Prinzip, dass Grundrechtseinschränkungen nur dann zulässig sind, wenn alle praktikablen Alternativen ausgeschöpft wurden. Doch Bundes- und Landesregierungen können – von positiven Ausnahmen abgesehen – nicht behaupten, ihren Pflichten nachgekommen zu sein. Eine wirklich groß angelegte Werbekampagne für das Impfen, mit entsprechender gesellschaftlicher Breitenwirkung, gab es nie. Die tatsächlich unternommenen Anstrengungen, Aufklärung über das Thema in Gesellschaftsgruppen zu tragen, die schwerer zu erreichen sind, waren so halbherzig, dass sie kaum Wirkung zeigen konnten. So frustrierend es für viele Betroffene von Corona, aber auch für das Gesundheitspersonal und dessen Angehörige sein mag: Der Staat hat die Pflicht, umfangreich über das Impfen zu informieren und es entsprechend zu bewerben, bevor er zu weiteren autoritäreren Maßnahmen greift.
Die Ungeimpften in Deutschland lassen sich grundsätzlich in zwei Kategorien unterscheiden, wobei die exakte prozentuale Aufteilung unklar ist: Schwer erreichbare Menschen und Unentschlossene auf der einen Seite, überzeugte Impfgegnerinnen und Impfgegner auf der anderen.
Es ist vor allem die erste Gruppe, auf die sich die Politik zunächst konzentrieren muss: Personen, die aufgrund ihres eingeschränkten Soziallebens, aufgrund von Sprachbarrieren oder sonstigen Umständen bisher nicht auf das Impfangebot eingegangen sind oder die schlicht noch mit sich hadern, weil ihnen etwa der Kontakt mit dem Gesundheitssystem grundsätzlich unangenehm ist. Ein besonderes Augenmerk sollte hier auf sozioökonomische Unterschiede gelegt werden. Bremen hat es vor allem in sozialen Brennpunkten geschafft, mit einer umfangreichen und frühzeitigen Aufklärung, mobilen Impfteams und anderen niederschwelligen Angeboten eine Impfquote von über 80 Prozent zu erreichen – und zwar ohne hierfür auf eine Impfpflicht zurückgreifen zu müssen.
Es ist anzunehmen, dass sich mit Maßnahmen nach dem Bremer Modell ein großer Teil der Impflücke auch bundesweit schließen lassen könnte – zumindest muss die Politik den Gegenbeweis erbringen und es wenigstens versuchen, bevor sie eine allgemeine Impfpflicht in Erwägung zieht.
Für die zweite Gruppe der Ungeimpften, die ideologisch überzeugten, ist eine Impfpflicht ebenfalls von zweifelhaftem Nutzen. Eine verhältnismäßige Strafe, also Bußgelder von zunächst wohl schmerzlicher, aber leistbarer Höhe, würden viele von ihnen wohl in Kauf nehmen – schon alleine um sich ihres eigenen Märtyrertums zu vergewissern und dem »System« die Stirn zu bieten.
Auch sollte nicht vergessen werden, dass die realen Disziplinarkapazitäten des Staates begrenzt sind: Polizei und Staatsanwaltschaften schaffen es im Zweifel nicht, alle Impfverweigerer gleichzeitig zu maßregeln. Vor allem müssten sie erst einmal erwischt werden, was umfangreiche Polizeikontrollen an neuralgischen Punkten des gesellschaftlichen Lebens voraussetzen würde – mit allen damit verbundenen Folgen. Für eine Alternative, einen zentralen Datenabgleich, fehlt erstens die technische Infrastruktur und zweitens die rechtliche Grundlage. Querdenker, denen ein Bußgeldbescheid ins Haus trudelt, werden sich daher auf umfangreiche Solidarisierung, auch finanzieller Art, verlassen können. Ein echter Anreiz zum Umdenken entsteht für sie jedenfalls nicht.
Berufsbezogene Impfpflichten sind von einer allgemeinen Pflicht gesondert zu betrachten, viele der genannten Probleme stellen sich hier nicht. Dennoch sind sie zum jetzigen Zeitpunkt ebenfalls mindestens fragwürdig. Menschen in Pflegeberufen erhielten zu Beginn der Pandemie Applaus, nun erfahren sie staatliches Misstrauen und Maßregelung. Eine echte Verbesserung ihres Einkommens und ihrer Arbeitsbedingungen ist nicht in Sicht – Frust, Verbitterung und das Gefühl, die Pandemie solle allein auf ihrem Rücken ausgetragen werden, sind vorprogrammiert und berechtigt.
Etwas über 90 Prozent des Pflegepersonals in Krankenhäusern sind vollständig geimpft – eigentlich erschreckend wenig. Die Übrigen dürften überzeugte Impfgegner sein. Auch sie wird eine Impfpflicht in ihrem Weltbild eher bestärken und Widerstand provozieren. Das Gesundheitssystem kann in seinem aktuellen Zustand auf diese Menschen nicht verzichten. Wenn von heute auf morgen 10 Prozent aller Pflegekräfte wegfielen, würde unser Gesundheitssystem kollabieren.
Ein pragmatischer Ansatz wäre, sie stringent zu testen und dort einzusetzen, wo sie Patientinnen möglichst wenig gefährden. Durch großzügige Bonuszahlungen für vollständig geimpfte Pflegekräfte könnte man ihnen außerdem einen finanziellen Anreiz dazu bieten, ihre eigene Glaubensgemeinschaft heimlich, still und leise zu verraten. Vor allem darf eine Impfpflicht im Gesundheitssektor nicht ohne die Unterstützung von Gewerkschaften und Berufsverbänden eingeführt werden, welche sie bisher mehrheitlich ablehnen.
Demokratische Sozialisten – zumindest die meisten, die sich als solche bezeichnen – wünschen sich einen starken und aktiven Staat, vor allem in ökonomischen Belangen. Doch gerade wer oft und gerne nach dem Staat ruft, sollte Grundrechtseinschränkungen auf ihre Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit überprüfen. Diese Lehre sollten wir nicht zuletzt aus der Geschichte des Sozialismus ziehen, alleine der eigenen Glaubwürdigkeit willen. Eine Impfpflicht, ob allgemein, im Schulbetrieb oder für bestimmte Berufsgruppen kann verhältnismäßig sein, wenn alle alternativen Wege beschritten wurden. In Deutschland ist das bislang noch nicht geschehen.
Alexander Brentler ist Journalist und Übersetzer.