16. März 2023
Die neue linke Partei Lëvizja Bashkë kämpft in Albanien – einem der ärmsten Länder Europas – für soziale Gerechtigkeit. Im Gespräch mit JACOBIN erklärt der Vorsitzende, wie seine Partei gemeinsam mit den Gewerkschaften die albanische Arbeiterklasse stärken will.
Arlind Qori, Vorsitzender der Partei Lëvizja Bashkë, bei einer öffentlichen Kundgebung.
Albanien ist für viele Menschen in Europa ein blinder Fleck auf der politischen Landkarte. Seitdem der Realsozialismus 1991 in Albanien zusammenbrach, wird das Land von grassierender Ungleichheit und hoher Arbeitslosigkeit beherrscht. Das monatliche Durchschnittsgehalt liegt bei 500 Euro. Viele junge Albanerinnen und Albaner suchen daher im Ausland ihr Glück.
Die traditionelle Linke und die Arbeiterbewegung, die organisatorisch geschwächt und öffentlich durch ihre enge Assoziation mit der alten Diktatur diskreditiert ist, war in den Jahren nach der Wende kaum in der Lage, die Bedingungen im Land zu verbessern. Doch seit den 2010er entsteht in Albanien eine neue Linke um die Organisation Organizata Politike, die zwar aus den Universitäten hervorging, aber den Anspruch hat, die gesamte albanische Gesellschaft zu repolitisieren. Durch gewerkschaftliche Organisierung und wahlpolitische Interventionen will sie soziale Konflikte aktiv angehen.
Nach zwölf Jahren wachsenden politischen Einflusses gründeten im Dezember 2022 Anhängerinnen von Organizata Politike zusammen mit anderen außerparlamentarischen Aktivisten eine neue linke Partei: Lëvizja Bashkë – »Bewegung zusammen«. Ihr Ziel ist es, eine neue albanische Linke aufzubauen, die innerhalb der Arbeiterschaft verankert ist und die Gewerkschaften zu neuem Leben erweckt. Über die Hoffnungen und Perspektiven der neugegründeten Partei hat ihr Vorsitzender Arlind Qori mit JACOBIN gesprochen.
Aus Organizata Politike ist am 18. Dezember 2022 eine neue politische Kraft entstanden: die Partei Lëvizja Bashkë. Was hat Euch zu dieser Entscheidung bewegt?
Wir waren knapp zwölf Jahre lang erfolgreich in dieser Organisation aktiv. In all diesen Jahren haben wir Parteipolitik abgelehnt, weil wir unsere Stärke in anderen gesellschaftlichen Auseinandersetzungen gesehen haben. Wir haben bei der Mobilisierung von Studierenden für die größten Massenproteste gegen das neoliberale Hochschulgesetz Erfolge erzielt, genauso wie wir die Arbeiterinnen und Arbeiter im Bergbau, in der Öl- und Textilindustrie sowie Beschäftigte in Callcentern dabei unterstützt haben, sich in neuen, demokratischen Gewerkschaften zu organisieren.
Und dennoch schien uns der Weg einer Organisation, die Institutionen und staatliches Handeln und Intervenieren gänzlich ablehnt, an ein Ende gekommen zu sein. Arbeiterinnen, Studentinnen, Jugendliche und Rentner haben uns auf der Straße immer wieder gebeten und ermutigt, einen weiteren Schritt zu gehen: Sie wollen auch die Möglichkeit haben, uns wählen zu können.
Was wollt Ihr jetzt anders machen als früher?
Unser Ziel ist es, mehr als eine Partei zu sein, die ausschließlich auf Wahlen ausgerichtet ist. Für uns ist die Partei der Ort, an dem Arbeiter und prekär Beschäftigte nicht nur ihre Interessen artikulieren, sondern auch aktiv an sozialen Kämpfen beteiligt sind. In diesem Sinne wollen wir eine demokratische Partei der Massen schaffen, die mit Arbeiterinnen, Studenten, feministischen und Klima-Organisationen eng verbunden ist und einen gemeinsamen Weg geht.
Geht der Name der Partei auf die Einigung der Klassenfraktionen zurück?
Absolut. Die herrschende neoliberale Ideologie hat – wie überall auf der Welt – Beschäftigte, Prekäre, Rentnerinnen, Studenten, Schüler, Erwerbslose, Frauen und Migrantinnen fraktioniert, isoliert und gegeneinander ausgespielt. Wir brauchen verlässliche Allianzen für die Ausgebeuteten, Diskriminierten und Unterdrückten, die in Albanien 95 Prozent der Bevölkerung ausmachen. Wir brauchen eine neue geeinte Gegenmacht, die heute die demokratischen Strukturen von morgen aufbaut.
Was ist Deine Aufgabe als Vorsitzender? Welche Rolle spielen die Mitglieder?
Die Mitglieder sind die wichtigste Ressource, die wir haben. Lëvizja Bashkë ist eine Mitgliederpartei, nicht nur im repräsentativen, sondern auch im partizipativen Sinne. Die Mitglieder wählen alle zwei Jahre ein neuen Vorsitz. Die Funktion des Vorsitzes ist eher symbolisch, da wichtige Entscheidungen in den Arbeitsgremien getroffen werden. Die Mitglieder wählen auch den Koordinierungsrat, der das höchste Entscheidungsgremium zwischen den beiden Parteitagen ist.
Um die organisatorische Arbeit zu erleichtern, wählt der Koordinierungsrat die Geschäftsführung und ein Sekretariat, das aus neun Mitgliedern besteht. Alle gewählten Mandate können durch die Mitgliedschaft widerrufen werden.
Was sind Eure wichtigsten programmatischen Eckpfeiler?
Wir sind demokratische Sozialistinnen und Sozialisten, die Albanien zu einem gerechten Ort machen wollen. Wir wollen strategische Wirtschaftssektoren wie den Bergbau, die Ölförderung und -verarbeitung, die Häfen und so weiter in öffentliches Eigentum umwandeln. Das Bildungs- und Gesundheitswesen muss den Bürgerinnen und Bürgern kostenlos zur Verfügung stehen. Wir wollen sozialen Wohnraum schaffen und einen kostenlosen öffentlichen Nahverkehr.
Eines unserer zentralen Anliegen ist es, die neuen Gewerkschaften weiterhin zu stärken und zu gesellschaftlichen Playern zu machen. Wir glauben fest an die Gleichstellung der Geschlechter und den Kampf gegen jegliche Diskriminierung aufgrund von ethnischer Zugehörigkeit, Religion oder Sexualität. Genauso sind wir auch der Meinung, dass ein verantwortungsvoller Staat alles tun sollte, um die Klimakatastrophe zu verhindern. Auf internationaler Ebene setzen wir uns für das Selbstbestimmungsrecht der Völker, für die Gleichberechtigung der Staaten und den Frieden zwischen den Völkern ein.
Was bedeutet es, in Albanien im linken Spektrum zu agieren? Braucht Albanien eine zweite sozialistische Partei?
Seit dreißig Jahren wird Albanien politisch von zwei Parteien regiert, die formal der linken Mitte (Sozialistische Partei) und der rechten Mitte (Demokratische Partei) angehören. Diese ideologischen Nuancen ergaben Anfang der 1990er Jahre noch Sinn: Die Sozialistische Partei, als Nachfolgerin der Partei der Arbeit – die ihrerseits zwischen 1944 und 1991 im stalinistischen Stil regierte –, war um gemäßigte sozialdemokratische Politik bemüht, während die Demokratische Partei knallharte neoliberale Reformen vorantrieb.
Im Laufe der Jahre sind die programmatischen Unterschiede zwischen diesen beiden Parteien jedoch vollständig verschwunden. Beide setzten in den letzten Jahren gigantische Privatisierungsvorhaben um und beraubten die albanische Gesellschaft nicht nur um ihre Entscheidungsbefugnisse, sondern auch um ihre Teilhabe am wirtschaftlichen Gewinn. Sie haben sich mittlerweile regelrecht zu untergeordneten Partnern der albanischen Wirtschaftsoligarchie entwickelt, die sich aus einer Handvoll sehr reicher Geschäftsleute zusammensetzt.
Was heißt das konkret?
Heute erhalten diese von Oligarchen finanzierten und durch und durch korrupten Parteien nur noch Stimmen, indem sie ein breites klientelistisches Netzwerk aufbauen: Einigen Armen bieten sie die Möglichkeit, in der Staatsverwaltung zu arbeiten. Beim Rest hilft bares Geld: Sie kaufen im großen Stil Stimmen. Und ein Großteil der Wahlberechtigten geht gar nicht mehr wählen. Dieser Prozess wurde natürlich durch die Fragmentierung der Arbeiterklasse befördert.
Unter der autoritären Regierung Enver Hoxhas war Albanien für vier Jahrzehnte ein nominell »sozialistisches« Land. Inwieweit, wenn überhaupt, beeinflusst diese Geschichte auch heute noch die Politik in Albanien? Gibt es vielleicht positive Elemente dieses Vermächtnisses, auf die Eure Partei heute noch zurückgreift, um eine Vision des Sozialismus des 21. Jahrhunderts zu formulieren?
Das stalinistische Regime, das Albanien über 47 Jahre regiert hat, verfolgt die Linke noch heute, zumindest ideologisch. Seit unseren ersten Tagen als Aktivistinnen und Aktivisten wurden wir öffentlich als »Kommunisten, die die Diktatur und die wirtschaftliche Not dieser Zeit wiederherstellen wollen«, verleugnet. Nichtsdestoweniger glaube ich, wir werden die Mehrheit der Menschen davon überzeugen können, dass wir eine politische Kraft der demokratischen Linken sind. Für uns muss die Demokratie beschützt, verbessert und erweitert werden.
Was das Erbe des früheren Regimes angeht, so müssen wir den historischen Kontext seiner Entstehung, Evolution und Korrumpierung verstehen. Die »Kommunisten« kamen in einem sehr rückständigen Albanien an die Macht, nachdem sie den Befreiungskampf gegen die Nazibesatzung angeführt hatten. Sie erschufen von Anfang an eine hierarchische Partei mit militärischer Disziplin und Führerkult. Vor dem zweiten Weltkrieg war die arbeitende Klasse in Albanien winzig und es fehlte ihr eine wirkliche Organisation. Andererseits hat Albanien seit der Unabhängigkeitserklärung 1912 nahezu keine demokratische Tradition. Deshalb konstruierte die Kommunistische Partei, beeinflusst durch das stalinistische Modell, ein diktatorisches Regime, dass zunehmend einer Diktatur über die arbeitende Klasse glich.
Das Regime versuchte, im stalinistischen Sinne das Land zu modernisieren. Es begann Albanien teilweise zu industrialisieren, tätigte wichtige Investitionen in die Infrastruktur und baute das Rückgrat des Wohlfahrtsstaates auf. Es bekämpfte den Analphabetismus, errichtete auch in den entferntesten Dörfern öffentliche Schulen und gründete die erste Universität in der Geschichte Albaniens. Es ebnete außerdem der Emanzipation der Frauen den Weg.
Diese Errungenschaften wurden überschattet durch die repressive Natur der Nomenklatura, eine erstickende soziale Kontrolle – es war zum Beispiel verboten, zeitgenössische Musik aus dem Westen zu hören oder bestimmte Filme zu schauen und Bücher zu lesen, ganz zu schweigen von den Kleidungsvorschriften, die ganz besonders die Jugend von dem Regime entfremdeten – und den wirtschaftlichen Zusammenbruch in den späten 1980ern. Der war so heftig, dass die Menschen nicht mal Milchpulver finden konnten.
Dennoch waren Elemente wie der Wohlfahrtsstaat, die Unterstützung öffentlicher Schulen und die Emanzipation der Frauen fortschrittliche Vorhaben. Wir sollten sie nicht verwerfen, wenn wir das alte Regime verurteilen und uns davon distanzieren, sondern sie in unserem heutigen Kampf für eine bessere und gerechtere Gesellschaft neu interpretieren, bereichern und kontextualisieren.
Wie ist die Lage der albanischen Wirtschaft 32 Jahre nach der Einführung des Kapitalismus? Wo sind die meisten Arbeiterinnen und Arbeiter konzentriert? Und was sind die größten Probleme der arbeitenden Klasse im Land?
Die albanische Wirtschaft hat die Struktur eines peripheren Landes im kapitalistischen Weltsystem. Rund 40 Prozent der arbeitenden Klasse sind in der Landwirtschaft beschäftigt. Die meisten davon sind Kleinbauern, die sehr wenig für den heimischen Markt produzieren, während es einige wenige große exportorientierte Firmen gibt. Der zweitgrößte Teil der arbeitenden Klasse ist entweder selbstständig oder arbeitet in Familienunternehmen im Einzelhandel, in niedrig qualifizierten Dienstleistungsberufen und teilweise im Tourismus. Industriearbeiterinnen und -arbeiter befinden sich im Textilsektor, wo heimische Firmen als Subunternehmen von ausländischen großen Marken agieren, und im Bausektor. Währenddessen ist die höher gebildete Jugend zunehmend in Call-Centern angestellt.
Die alten Industrien – wie Ölraffinerien, die Chemieindustrie, der Maschinenbau oder der Bergbau – wurden entweder während der letzten dreißig Jahre neoliberaler Reformen eingestampft oder bieten kaum Arbeitsplätze. Die überwältigende Zahl der albanischen Arbeiterklasse ist in sehr kleinen Unternehmen beschäftigt, meist mit nicht mehr als fünf bis zehn Angestellten. Die Struktur der albanischen Wirtschaft, der wachsende Einfluss von Oligarchen und die willfährige Haltung des Staates gegenüber der herrschenden Klasse – verkörpert durch den Premierminister Edi Rama der italienische Anleger öffentlich dazu aufforderte, in Albanien zu investieren, weil es »glücklicherweise in Albanien keine Gewerkschaften gibt« – führt dazu, dass die arbeitende Klasse kaum organisiert ist. Arbeiterinnen und Arbeiter fühlen sich am Arbeitsplatz und in der Gesellschaft im Allgemeinen ohnmächtig.
Die Lebensbedingungen der großen Mehrheit der Menschen in Albanien haben sich durch die Wirtschaftskrise im Zuge des Ukrainekriegs nochmal verschlechtert. Die offizielle Inflation liegt bei 7,4 Prozent, die Preise für Konsumgüter sind um 20 bis 50 Prozent gestiegen. Selbst vor der aktuellen Krise zählte Albanien zu den ärmsten Ländern in Europa und rangiert auf der Liste der Länder mit den niedrigsten Mindest- und Durchschnittslöhnen auf Platz vier oder fünf.
Wie sieht Gewerkschaftsarbeit in Albanien aus? Gibt es bereits bestehende Gewerkschaften, mit denen Ihr zusammenarbeiten könnt? Auf welche Branchen konzentriert Ihr Euch?
Seit mehr als einem Jahrzehnt war es unsere politische Priorität, Arbeiterinnen und Arbeitern dabei zu helfen, sich in unabhängigen und mächtigen Gewerkschaften zu organisieren. Gelbe, also unternehmensnahe Gewerkschaften waren bisher die Norm, zusammen mit alten und »Phantomgewerkschaften«. Letztere waren den korrumpierten Mainstreamparteien gegenüber immer unterwürfig und haben keine wirkliche soziale Basis. Sie werden für Propagandazwecke der Regierung oder einiger Großunternehmen benutzt.
Durch die wachsende Unzufriedenheit unter den Arbeiterinnen sowie unsere Strategie, die Anliegen der Arbeiter in den öffentlichen Raum zu tragen, gab es in den letzten Jahren neue Entwicklungen. Vier neue Gewerkschaften wurden gegründet: unter den Bergabeitern, Ölfeldarbeiterinnen, Textilarbeitern und in den Call-Centern. Zusammen haben wir enorme Schwierigkeiten gemeistert. Die meisten Beschäftigten hatten und haben immer noch sehr viel Angst davor, dass ihnen eine Kündigung droht, wenn sie einer Gewerkschaft beitreten. Aber es gab auch Erfolge.
Der letzte Streik – organisiert durch die rein weibliche Belegschaft in einem Textilunternehmen in Bilisht, einer Stadt im Südosten Albaniens – war erfolgreich. Nachdem die Unternehmensführung die Gewerkschaftsführerinnen entlassen hatte, traten alle Kolleginnen in einen wilden Streik und nach drei Tagen war das Unternehmen gezwungen, nachzugeben und akzeptierte Verhandlungen für einen Tarifvertrag. Das ist sehr selten in Albanien.
Manche unserer Leserinnen und Lesern kennen Eure Partei aufgrund der Kandidatur von Elton Debreshi, einem Bergarbeiter aus der Stadt Bulqiza, der 2021 für das Parlament kandidierte. Wie ging diese Kampagne aus und welche Schlüsse zieht Ihr daraus?
Seit 2019 haben wir eng mit den Minenarbeitern in Bulqiza in ihrem Kampf für bessere Arbeitsbedingungen zusammengearbeitet. Das Besondere war, dass unser Gegner einer der reichsten und mächtigsten Männer Albaniens war, der Oligarch und Minenbesitzer Samir Mane. Sofort nach der Gründung der Bergarbeitergewerkschaft wurden ihr Vorsitzender Elton Debreshi und drei weitere Gewerkschafter illegal entlassen. Die Bergarbeiter traten fast einen Monat lang in den Streik und führten einige Protestaktionen durch. Aber am Ende gewann der Oligarch, der sich auf die Unterstützung der Regierung und das Schweigen der Mainstreammedien verlassen konnte.
Zusammen mit unserer Unterstützung entschieden sich die Minenarbeiter im Jahr 2021 dazu, die Gelegenheit der Parlamentswahlen zu nutzen, um auf ihre Arbeitsbedingungen aufmerksam zu machen. Sie ermutigten und unterstützten Elton Debreshi als unabhängigen Kandidaten für die Region Dibra. Was die öffentliche Aufmerksamkeit anging, war die Kampagne sehr erfolgreich. Denn zum ersten Mal forderte ein Arbeiter die Mainstreamparteien in einer der ärmsten Regionen Albaniens heraus. Selbst wichtige öffentliche und intellektuelle Persönlichkeiten aus der Hauptstadt Tirana erklärten ihre Unterstützung für Debreshis Kandidatur.
Zu dem Zeitpunkt waren wir noch Aktivistinnen und Aktivisten von Organizata Politike und arbeiteten mehrere Monate in Bulqiza und anderen Dörfern und Städten in der Region Dibra, um die Menschen über das Schicksal der Minenarbeiter zu informieren und sie von einer Wahl für Elton Debreshi zu überzeugen. Allerdings war das ein sehr ungleicher Kampf. Die Mainstreamparteien gaben große Summen Geld aus, um Stimmen zu kaufen, während sie keine Gelegenheit ungenutzt ließen, Wählerinnen und Wähler einzuschüchtern, die ihnen nicht folgen wollten.
Obwohl Debreshi während der Kampagne viel Unterstützung genoss und selbst in den entlegensten Dörfern große Veranstaltungen auf die Beine stellte, erhielt er nur 1 Prozent der Stimmen. Aus dieser Niederlage haben wir gelernt, dass wir eine stärkere Organisation brauchen und wir mit mehr gesellschaftlichen Gruppen Kontakt aufbauen müssen als nur mit den traditionellen Minen- und Ölarbeitern.
Zweitens sind gewöhnliche Leute gegenüber unabhängigen Kandidaturen skeptisch eingestellt. Sie brauchen die Präsenz einer richtigen politischen Partei, mit Strukturen an jedem Ort, die ein Bild der Stärke und Macht ausstrahlt. Während des Wahlkampfes sahen wir uns zum Beispiel oft mit folgender Frage konfrontiert: Was kann ein einzelner Abgeordneter im Parlament schon bewirken, wenn er oder sie nicht Teil einer parlamentarischen Gruppe oder einer richtigen, landesweiten politischen Partei ist?
Drittens haben wir verstanden, dass man in einer deindustrialisierten Wirtschaftsstruktur, in der die überwältigende Mehrheit der arbeitenden Klasse entweder selbstständig ist oder in sehr kleinen, oftmals Familienunternehmen beschäftigt ist, nicht nur eine Organisation der Arbeiterschaft sein kann. Man muss eine diversere sozio-politische Bewegung aufbauen, die andere populäre Klassen oder Schichten umfasst – von der Bäuerin zum Rentner aus der Mittelschicht bis hin zur Kleinunternehmerin. Im Grunde braucht man also eine Massenpartei, die den sozialen Unterschieden Rechnung trägt. Das wollen wir mit Lëvizja Bashkë erreichen.
Albanien ist eines der korruptesten Länder Europas. Wie möchtet Ihr Hoffnung stiften?
In der Politik ist kein Platz für Illusionen. Uns ist klar, dass wir in einem der korruptesten polit-ökonomischen Systeme Europas agieren, in einem peripheren Land des kapitalistischen Weltsystems, mit einer unterentwickelten Wirtschaft und einer sehr hohen Emigration, insbesondere junger Menschen.
Doch Albanien verfügt auch über die wirtschaftlichen und personellen Ressourcen, um sich nachhaltig entwickeln können. Es hat die Möglichkeit, demokratische und rechenschaftspflichtige Institutionen aufzubauen, ebenso wie das Potenzial emanzipatorische Fortschritte zu erzielen. Dazu bedarf es der Vereinigung und Organisierung der Klassenfraktionen. Darin sehe ich unsere Aufgabe als Partei: Wir müssen unterschiedliche Kämpfe der Entrechteten und Beschäftigten zusammenführen und eine Gegenmacht zu den korrupten Eliten im Land aufbauen.
Und wir dürfen nicht vergessen, dass Albanien Teil einer vernetzten Welt ist, wenn auch auf hierarchische Weise. In diesem Sinne können wir unabhängig von unseren Zielen und Aktionen im Land nicht alles erreichen. Heute steht die Menschheit vor existenziellen Herausforderungen: Kriege, Klimakatastrophen, soziale Ungleichheit und Armut. Daher können wir unser Handeln nur im Rahmen einer globalen demokratischen und emanzipatorischen Bewegung verstehen, die nicht nur danach strebt, die Menschheit vor den Gefahren der Gegenwart zu retten, sondern auch eine gerechte Welt von morgen aufzubauen, in der die Völker in Frieden und Solidarität miteinander leben können. Solidarität kann heute nicht nur sentimental sein, denn das Schicksal eines jeden von uns hängt immer mehr davon ab, was außerhalb der Landesgrenzen passiert.
Welches Wachstumsmodell schwebt Euch angesichts der hohen Emigration junger Menschen, insbesondere aus ländlichen Gegenden, vor? Wie kann die Linke den Menschen bessere wirtschaftliche Perspektiven bieten?
Heutzutage ist ein Großteil der jungen Albanerinnen und Albaner entweder arbeitslos oder unterbeschäftigt. Sie werden schlecht bezahlt und sehen keine Zukunft in ihrem Land. Das ist es, was sie dazu bringt, jedes Jahr in Zehntausenden nach Westeuropa auszuwandern, insbesondere nach Großbritannien und nach Deutschland. Wenn jemand zum Beispiel als Kellner in einem Café in Tirana arbeitet, verdient er nicht mehr als 250–300 Euro im Monat. Das reicht gerade einmal für die Miete.
Das neoliberale Modell hat das Land völlig ruiniert und eine Clique von Oligarchen herangezüchtet, die die meisten Wirtschaftsressourcen kontrollieren. Sie investieren in spekulative und unproduktive Bereiche oder sind lediglich die Nutznießer öffentlicher Aufträge oder korrupter Public-Private-Partnerships. Albanien muss seine Landwirtschaft entwickeln, indem es Genossenschaften unterstützt und die Modernisierung der Produktivkräfte vorantreibt. Wir benötigen außerdem eine neue Industriepolitik, einen intelligenten Ausbau des Tourismus und Investitionen in Wissenschaft und Forschung.
Wie wollt Ihr jene Menschen ansprechen, die sich schwer mobilisieren lassen?
Wir glauben nicht an das Märchen der reinen Repräsentationspolitik. Wir sind davon überzeugt, dass die Beteiligung am Aufbau einer gerechten Gesellschaft nur mit den Menschen gelingt. Ihr Engagement bedeutet, das Gemeinsame zu stärken, ihre Gleichgültigkeit bedeutet, die das Gemeinsame zu schwächen. Wir verstehen uns nicht als Anführer untergeordneter Klassen. Die Menschen können sich nur selbst retten.
In diesem Sinne wollen wir eine politische Bewegung aufbauen, die auf Selbstbestimmung und Beteiligung basiert. Wir haben damit begonnen. Wer zuerst die Initiative ergreift, kann der Katalysator für die Aktivierung anderer sein und hilft so, eine mächtige und demokratische Pluralität zu schaffen, die wir so dringend brauchen.
Arlind Qori ist Vorsitzender der albanischen Partei »Lëvizja Bashkë« und Dozent für Politikwissenschaften an der Universität Tirana.