24. November 2022
In Großbritannien tobt die Preiskrise. Aber Millionen Menschen im Land setzen sich zur Wehr. Und zwar genau dort, wo sie am meisten ausgebeutet werden: am Arbeitsplatz.
Der Vorsitzende der RMT Mick Lynch am Streikposten, London, 8. Oktober 2022.
IMAGO / i ImagesWenn man heute in Großbritannien jemanden fragt, wie es gerade um das Land steht, wird man vermutlich keine zitierfähige Antwort erhalten. Das Land stolpert von Krise zu Krise. Mit Rishi Sunak wurde nun im Laufe eines einzigen Jahres der dritte Premierminister ernannt. Die Energiepreise sind seit dem letzten Winter um 96 Prozent gestiegen, die Mieten um rund 20 Prozent. Die Inflation – die sich gerade schon bei 12,3 Prozent bewegt – soll laut Prognosen zum Beginn des kommenden Jahres auf 18 Prozent klettern.
All das in einem Land, das als erstes in Westeuropa 200.000 Tote während der Coronakrise verzeichnete und bereits seit Jahren unter der Sparpolitik leidet. Laut einer Analyse des Trade Union Congress, dem britischen Dachverband der Gewerkschaften, hatten britische Arbeiterinnen und Arbeiter 2021 im Schnitt 60 Pfund monatlich weniger Reallohn als noch zu Beginn der Finanzkrise 2008. Es ist der größte Lohneinbruch seit der Napoleonischen Ära.
Dort, wo Arbeitgeber Lohnerhöhungen gegen die Inflation zugesagt haben, bedeuten diese immer noch einen Reallohnverlust. Das heißt natürlich noch lange nicht, dass für Arbeitgeber dieselben Regeln gelten: Während sich die Lohnangebote für Beschäftigte im Allgemeinen zwischen 2 und 6 Prozent bewegten, stiegen die Durchschnittsgehälter der Chefs der umsatzstärksten börsennotierten britischen Unternehmen um satte 23 Prozent, weil ihnen Bonuszahlungen in Rekordhöhe ausgeschüttet wurden.
Einer dieser Chefs war Philip Jansen, CEO der BT Group, Großbritanniens größtem Anbieter von Internet- und Telefondiensten. BT verzeichnete in diesem Jahr einen Gewinn von 1,3 Milliarden Pfund, wovon Jansen 3,5 Millionen Pfund erhielt – eine Steigerung von 32 Prozent. Er verdient jetzt 86-Mal mehr als der durchschnittliche Angestellte bei BT.
Nach sechs kurzen Treffen mit Vertreterinnen und Vertretern der Telekommunikationsgewerkschaft (CWU) brach Jansen die Gespräche ab. Stattdessen setzte er einseitig eine unsäglich geringe Erhöhung der jährlichen Grundgehälter um 1.500 Pfund (derzeit etwa 1.700 Euro) durch. Für die 40.000 Callcenter-Mitarbeiterinnen und Außendiensttechniker des Unternehmens bedeutet das de facto eine Lohnkürzung. Die Callcenter-Beschäftigten werden so schlecht bezahlt, dass einige von ihnen zunehmend auf betriebliche Tafeln angewiesen sind.
Auch Simon Thompson, CEO der Royal Mail Group, des britischen Postdienstes (der vor einem Jahrzehnt unter der konservativ-liberalen Koalition privatisiert wurde) hat eine großzügige Gehaltserhöhung erhalten. Im Juni gewährte sich Thompson, der monatlich 62.750 Pfund verdient, einen »kurzzeitigen« Bonus von 142.000 Pfund. Kurz darauf teilte Royal Mail seinen 115.000 Beschäftigten mit, dass das Management die Löhne um gerade einmal 2 Prozent anheben würde – eine drastische Lohnkürzung angesichts der dramatisch steigenden Lebenshaltungskosten. Und das, obwohl die Beschäftigten der Royal Mail dem Unternehmen einen jährlichen Rekordgewinn von 758 Millionen Pfund bescheren.
Angesichts dieser Zahlen ist es nicht überraschend, dass die Beschäftigten der BT Group und der britischen Post über den Sommer hinweg mit einer Zustimmung von 97,6 Prozent (bei einer Wahlbeteiligung von 77 Prozent) für Streiks gestimmt haben. Seit dem 2016 erlassenen gewerkschaftsfeindlichen Trade Union Act, der eine Zustimmung von mindestens 50 Prozent für einen Streik vorsieht, hat es kein so starkes Mandat für einen Arbeitskampf gegeben.
Auch die 40.000 Beschäftigten der Eisenbahner-Gewerkschaft National Union of Rail, Maritime and Transport Workers (RMT) stimmten für einen Streik. Ihr Kampf gegen Lohneinbußen und Kündigungen hat durch den Einsatz des schlagfertigen und unprätentiösen Gewerkschaftsvorsitzenden Mick Lynch, der in den britischen Medien enorm an Popularität gewann, noch einmal einen gehörigen Schub bekommen. Lynch hatte einen konservativen Politiker im Fernsehen fünfzehn Mal in drei Minuten einen »Lügner« genannt. Einem Abgeordneten aus dem Oberhaus, der ihn kritisierte, entgegnete er, er wüsste nicht einmal wer er sei. Einem Moderator, der behauptete, die streikenden Eisenbahnern würden Gewalt an den Streikposten zu provozieren, warf er vor, in surreale Sphären abzuheben.
Im Laufe der letzten Monate haben sich weitere Teile der arbeitenden Klasse den Auseinandersetzungen angeschlossen. Gerade erst haben in einer bundesweiten Abstimmung 70.000 Beschäftigte der University and College Union (UCU) und 100.000 Arbeiterinnen und Arbeiter aus dem öffentlichen Dienst bei der Public and Commercial Services Union (PCS) für einen Arbeitskampf gestimmt. Am drastischsten ist jedoch die Abstimmung der 465.000 Krankenschwestern und Pfleger, die beim Royal College of Nursing – der weltweit größten Gewerkschaft für Krankenhausbeschäftigte – zum ersten Mal in ihrer Geschichte für einen Streik gestimmt haben.
In den kommenden Monaten werden viele weitere Beschäftigte – von Feuerwehrmännern über Lehrerinnen bis hin zu Lebensmittelprüfern – abwägen, ob sie zur zur Verbesserung ihres Lebensstandards die Arbeit niederlegen werden.
Einige der Auseinandersetzungen zeitigen bereits erste Ergebnisse: Unite, die zweitgrößte Gewerkschaft des Landes, die von der kämpferischen Sharon Graham angeführt wird, hat einen unerbittlichen Guerillakrieg gegen regionale Busunternehmen, Kommunalverwaltungen und multinationale Konzerne geführt. Gewerkschaftsmitglieder im Verkehrssektor, an Flughäfen und in örtlichen Betriebsvertretungen haben inspirierende Massenstreiks und Besetzungen öffentlicher Gebäuden durchgeführt.
»Millionen von Menschen stellen eine Gesellschaftsordnung infrage, die von ihnen erwartet, dass sie ein schlechteres Leben führen und immer härter für diejenigen arbeiten, denen es nie besser ging.«
Im Juli erhielten die Mitglieder des Abfertigungspersonals und des Bodenpersonals von Unite und der Gewerkschaft GMB eine Lohnerhöhung um 13 Prozent, nachdem sie damit gedroht hatten, den Flughafen Heathrow lahmzulegen. Und in einer Reihe von Streiks von September bis November erkämpften die Hafenarbeiter in Liverpool eine Erhöhung von bis zu 18,5 Prozent.
Andere größere Auseinandersetzungen sind jedoch weniger zufriedenstellend verlaufen.
Im Falle der Postangestellten akzeptierten die Gewerkschaftsführer nach einer Reihe von außerordentlich populären Streiks den Vorschlag, sich im September mit dem Management zu treffen, in der Hoffnung auf eine Lösung des Konflikts. Als sie sich zusammensetzten, wurde ihnen mitgeteilt, dass die Chefs im ganzen Land über Pläne zur »Modernisierung« des Unternehmens unterrichtet würden. Ihnen wurden zwei Briefe ausgehändigt: Der erste informierte sie darüber, dass Royal Mail plane, aus allen Vereinbarungen mit der Gewerkschaft auszusteigen. Im zweiten wurde dargelegt, dass man in Erwägung ziehe, ein neues Verhältnis zur Gewerkschaft zu etablieren, und nicht länger mit der Gewerkschaft zu verhandeln, sondern sie lediglich »konsultieren« würde.
Der Vorsitzende der Gewerkschaft CWU, Dave Ward, nannte dies »den größten Angriff auf die Beschäftigten und ihre betrieblichen Vertreter, den diese Gewerkschaft je erlebt hat«. Der landesweite Vorstand der Gewerkschaft stimmte daraufhin für weitere neunzehn Streiktage.
Die Geschäftsleitung versuchte, die Gewerkschaft zu überrumpeln, indem sie eine lächerliche Lohnerhöhung von 7 Prozent über einen Zeitraum von zwei Jahren im Gegenzug für die Schließung von Postzentren und die Einführung von Fahrerinnen und Fahrern mit eigenem Fahrbetrieb bei der Royal Mail anbot. Ein solcher Schritt würde den Weg für die Umwandlung des britischen Postdienstes in ein Uber-ähnliches Zustellsystem ebnen.
Die CWU legte nach. Sie verurteilte den Versuch des Unternehmens als »Kriegserklärung« an die Postbeschäftigten und bekräftigte ihre Entschlossenheit, am Black Friday und am Cyber Monday, den Tagen mit dem stärksten Online-Geschäft des Jahres, zu streiken.
Kurz darauf bot die Geschäftsführung von Royal Mail schließlich ernsthafte Verhandlungen über eine von der Regierung finanzierte unabhängige Schlichtungsstelle an. Die Arbeitgeber bei der Bahn und die Chefs von BT haben sich ebenfalls zu Verhandlungen bereit erklärt. Viele vermuten, dass die Entschlossenheit der Arbeitgeber unter dem unerwartet starken Druck der Gewerkschaften nun ins Wanken geraten könnte.
Die weit verbreitete Wahrnehmung war bisher, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter von den Arbeitgebern, die sich selbst obszön hohe Gehälter auszahlen, bloß ausgelacht werden, während sie unter den massiv steigenden Kosten für die Grundversorgung leiden. Währenddessen schaut die Regierung zu und unternimmt nichts.
Die britische Wirtschaft steckt in einer »moralischen Krise«, wie es der Vorsitzende der Kommunikationsgewerkschaft ausdrückte. Eine Mehrheit der Bevölkerung unterstützt Vorschläge wie etwa eine Obergrenze für Gehälter von Spitzenmanagern oder die Möglichkeit von Misstrauensanträgen gegen die Geschäftsleitung.
Selbst wenn sich Großbritannien auf eine Situation zubewegt, die ein Minister der Regierung mit einem »De-facto-Generalstreik« verglich, reagierten die regierenden konservativen Tories wie immer stur. Anstatt die offensichtlichen Probleme anzugehen, die zu einer solchen Ausnahmesituation führen, versuchen sie, die Macht der Gewerkschaften – die bereits unter mitunter schwierigsten Bedingungen in Europa arbeiten – weiter zu beschneiden, indem sie zum Beispiel ein »Minimum an Dienstleistung« im Falle von Streiks im Transportwesen gesetzlich verankern.
Lynch prangerte diesen Schritt öffentlich an, als er im Oktober vor einer Menschenmenge sagte, dass dies bedeuten würde, »dass Arbeitende gegen ihren Willen dazu gezwungen werden, gegen sich selbst zu kämpfen«. Der britische Dachverband der Gewerkschaften klagt dagegen nun vor Gericht.
Es ist jedoch unwahrscheinlich, dass der Widerstand dort enden wird. Die aktuelle Militanz der Gewerkschaftsbewegung hat ihr ein gesellschaftliches Ansehen verschafft, dass es so seit Jahrzehnten nicht mehr gab. Während Labour nur halbgare Lösungen für die Preiskrise anbietet und sich in der Frage, ob sie streikende Arbeiterinnen und Arbeiter unterstützt, völlig planlos zeigt, geben die Gewerkschaften den Takt der Opposition vor und artikulieren den landesweiten Frust weitaus deutlicher als die Labour-Partei.
Enough is Enough – eine Koalition aus Gewerkschaften, Fußball-Fangruppen, sozialistischen Abgeordneten, Mieterorganisationen und des Magazins Tribune – hat mittlerweile fast 1 Million Unterstützerinnen und Unterstützer gewonnen und mobilisiert Menschen jenseits der »üblichen Verdächtigen«, um Spenden für Streikende und Tafeln zu sammeln, sich an Streikposten zu stellen und gegen die Regierung zu demonstrieren. Wenn die Tories oder die Arbeitgeber wie Royal Mail ihre Angriffe weiter fortführen, wird sich diese Koalition zweifellos hinter die RMT, die CWU und andere Gewerkschaften stellen und sie verteidigen.
Die Situation ist nach wie vor unbeständig und unvorhersehbar. Aber eines ist klar: In Großbritannien fühlen sich Millionen von Menschen ermutigt, eine Gesellschaftsordnung infrage zu stellen, die von ihnen erwartet, dass sie ein schlechteres Leben führen und immer härter für diejenigen arbeiten, denen es nie besser ging. Der Arbeitsplatz wurde als Kampfplatz wiederentdeckt, und mehr Menschen als je zuvor in diesem Jahrhunderts erkennen ihre kollektive Stärke.
Im Oktober, auf dem Aktionstag von Enough is Enough zur Unterstützung der streikenden Bahn- und Postbeschäftigten, waren auf mehreren Bannern in ganz Großbritannien die Worte des verstorbenen RMT-Vorsitzenden Bob Crow zu lesen: »Wer alleine spuckt, kann nichts ausrichten. Wer zusammen spuckt, kann die Bastarde ertränken«.
Was auch immer in den kommenden Monaten passiert: Millionen von Menschen werden sich diese Worte zu Herzen nehmen. Oder um es mit den Worten des jetzigen Vorsitzenden Mick Lynch zu sagen: »Die Arbeiterklasse ist zurück«.
Marcus Barnett ist Redakteur bei Tribune.