05. Juli 2021
Die Sozialistin India Walton wird Bürgermeisterin der US-Großstadt Buffalo. Es ist ein historischer Sieg. Denn mit Walton erlebt eine einst starke politische Tradition ein Revival: der kommunale Sozialismus.
Die demokratische Sozialistin India Walton wird die erste Frau, die als Bürgermeisterin die Großstadt Buffalo regiert.
Am Dienstag, den 22. Juni, als sich die mediale Berichterstattung in den USA vor allem auf die anstehende Bürgermeisterwahl in New York City konzentrierte, kam es in der zweitgrößten Stadt im Bundesstaat New York zu einer Überraschung. In Buffalo besiegte die Krankenpflegerin und Gewerkschafterin India Walton, die von den Democratic Socialists of America (DSA) und der Working Families Party unterstützt wird, den amtierenden Bürgermeister Byron Brown in der Vorwahl der Demokratischen Partei.
Walton bezeichnete sich während des gesamten Wahlkampfes als demokratische Sozialistin und rückte auch in der Wahlnacht nicht davon ab. Als eine Reporterin sie fragte, ob sie sich als Sozialistin verstehe, antwortete Walton entschieden: »Oh, absolut! Das Ziel meiner Kampagne ist es, Macht und Ressourcen an die Basis und in die Hände der Menschen zu geben.«
Bei ihrer Siegesfeier in derselben Nacht skizzierte sie ihre politische Vision in folgenden Worten: »Wir fordern das ein, was uns rechtmäßig zusteht. Wir sind die Arbeitenden. Wir erledigen die Arbeit. Und wir verdienen eine Regierung, die mit und für uns arbeitet.«
Mit ihrem Sieg bei den Vorwahlen im von der Demokratischen Partei regierten Buffalo wird Walton mit ziemlicher Sicherheit die erste weibliche Bürgermeisterin der Stadt werden – und zugleich die erste sozialistische Bürgermeisterin einer großen US-Stadt seit 1960. Ihr Erfolg ist ein weiterer Meilenstein auf dem Vormarsch der DSA, die Waltons Wahlkampf maßgeblich unterstützten. Und er steht zugleich in der Tradition einer wichtigen, wenn auch oft verkannten Tradition der US-Politik: kommunaler Sozialismus.
Im frühen 20. Jahrhundert stellte die Socialist Party of America (SPA) im ganzen Land namhafte Kandidaten auf. Der prominenteste unter ihnen war Eugene Debs, der fünfmal für das Amt des Präsidenten kandidierte, unter anderem im Jahr 1920, während er im Gefängnis saß. (Er verbüßte dort eine Haftstrafe, weil er sich gegen den Ersten Weltkrieg ausgesprochen hatte.) In den 1910er und 20er Jahren wurden die Sozialisten Meyer London aus New York und Victor Berger aus Wisconsin in den US-Kongress gewählt.
Auf den unteren politischen Ebenen spielte sich jedoch das eigentliche Geschehen ab. Dort eroberten die Sozialisten Sitze in den Stadträten, Landesparlamenten, Bezirksverwaltungen und einer ganzen Reihe anderer Entscheidungsgremien. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte die Sozialistische Partei über 150 Abgeordnete in den Bundesstaaten und gewann sogar Bürgermeisterwahlen. Jasper McLevy wurde Bürgermeister in Bridgeport, Connecticut; Louis Duncan in Butte, Montana; J. Henry Stump in Reading, Pennsylvania, und John Gibbons in Lackawanna, New York, südlich von Buffalo. In Buffalo selbst konnte der Sozialist Frank Perkins 1920 einen Sitz im Stadtrat erringen. Insgesamt wurden in mindestens 353 Städten sozialistische Kandidaten in öffentliche Ämter gewählt, überwiegend in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts.
In Milwaukee, Wisconsin, wo zwischen 1910 bis 1960 drei sozialistische Bürgermeister gewählt wurden, war eine sozialistische Regierung am längsten an der Macht. Die Administrationen unter Emil Seidel, Daniel Hoan und Frank Zeidler folgten dem sogenannten »Kanalsozialismus«. Ziel dieser gemäßigten Form des Sozialismus war es vor allen Dingen, materielle Verbesserungen für die Arbeitenden zu bewirken und die Gesellschaft auf demokratischem Wege zu dekommodizifieren. Obwohl die Kanalsozialisten Streiks und Arbeitskämpfen eher weniger Bedeutung beimaßen, schafften sie es dennoch, eine gut organisiert Struktur aufzubauen und eine vielfältige Kultur der arbeitenden Klasse zu fördern.
Emil Seidel wurde 1910 zum ersten sozialistischen Bürgermeister einer US-amerikanischen Großstadt gewählt. In seiner kurzen Amtszeit gründete er das erste städtische Bauamt und schuf ein ganzes System städtischer Parkanlagen. Nachdem er die Wiederwahl als Bürgermeister verloren hatte, kandidierte Seidel bei der Wahl des US-Präsidenten 1912 an der Seite von Eugene Debs.
Als Daniel Hoan 1916 die Wahl gewann, kamen die Sozialisten in Milwaukee wieder an die Macht. Er blieb 24 Jahre lang im Amt. Bis heute ist das die längste ununterbrochene Amtszeit einer sozialistischen Regierung in der US-amerikanischen Geschichte. Unter Hoan stellte Milwaukee 1923 das erste öffentliche Wohnungsbauprojekt des Landes auf die Beine, die Garden Homes. Die Regierung setzte sich außerdem dafür ein, die Straßenbeleuchtung, die Abwasserentsorgung und die Wasseraufbereitung in städtischem Besitz zu belassen. Sie finanzierte öffentliche Marktplätze, brachte Gelder für die Instandsetzung der Häfen von Milwaukee auf und ging gegen die Korruption ihrer Vorgänger vor.
Hoans Amtszeit endete 1940. Doch mit Frank Zeidler folgte im 1948 erneut ein sozialistischer Bürgermeister. Zeidler setzte die Tradition des »Kanalsozialismus« fort. In seiner Amtszeit sorgte er für ein deutliches Wachstum der Stadt und den damit einhergehenden Bevölkerungsanstieg. In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wuchs der Anteil der Schwarzen Bevölkerung in Milwaukee rasant und Zeidler positionierte sich als lautstarker Befürworter der Bürgerrechtsbewegung. Angesichts der Bigotterie früherer Kanalsozialisten wie Victor Berger ist diese Haltung Zeidlers besonders hervorzuheben.
All das konnten sie jedoch nicht allein erreichen. Sie verbündeten sich mit progressiven Republikanern, wann immer es möglich war, sodass ein großer Teil der Gesetze, die von der Legislative verabschiedet wurden, sozialistische und progressive Positionen vereinten.
Dennoch kritisierten die Sozialisten die Progressiven häufig dafür, in ihrem Einsatz für die Situation der arbeitenden Klasse nicht weit genug zu gehen. 1931 berieten die Abgeordneten über ein staatliches Programm zur Unterstützung von Arbeitslosen, um die Folgen der Großen Depression der 1930er Jahre abzumildern. Der Gesetzesentwurf der Sozialisten sah eine Unterstützung von 12 Dollar pro Woche vor. Außerdem sollte in allen Branchen der Acht-Stunden-Tag eingeführt werden. Die Progressiven hingegen setzten sich für 10 Dollar pro Woche ein und wollten die Arbeitszeit nicht begrenzen. Der sozialistische Abgeordnete George Tews entgegnete daraufhin im Plenarsaal, ein Progressiver sei lediglich ein »Sozialist, der sein Gehirn ausgeknipst hat«.
Die Sozialisten aus Milwaukee wurden zu einer festen Größe in der staatlichen Politik. Sie überstanden sogar die erste Periode der »Roten Angst« nach dem Ersten Weltkrieg. Doch anderswo hatten die staatlichen Repressionen verheerendere Auswirkungen, die durch die tiefe Spaltung der eigenen Partei noch verstärkt wurden. Diese ging unter anderem vom Lusk-Komitee aus – einem Ausschuss der Legislative, der gegen mutmaßliche radikale Gruppen und aufrührerische Aktivitäten ermitteln sollte. Im Bundesstaat New York nahmen Polizeibeamte, die für das Lusk-Komitee arbeiteten, Buffalo ins Visier. Dort war der Sozialist Frank Perkins seit 1920 Stadtverordneter. Auch die nahe gelegene Industriestadt Lackawanna, wo der Sozialist John Gibbons zum Bürgermeister gewählt worden war, geriet ins Blickfeld des Lusk-Komitees. Massive staatliche Repressionen sorgten dafür, dass weder Perkins noch Gibbons wiedergewählt wurden.
Sowohl die Mitgliederzahlen als auch die Wahlerfolge der Sozialisten in Wisconsin brachen nach dem Zweiten Weltkrieg ein, und jahrzehntelang wurden Sozialisten aus der Politik gedrängt. (Ausnahmen waren Ron Dellums, Bürgermeister von Oakland, Kalifornien; Jim Scheibel, Bürgermeister von St. Paul, Minnesota; Gus Newport, Bürgermeister von Berkeley, Kalifornien; Mike Rokin, Bürgermeister von Santa Cruz, Kalifornien; und Larry Agran, Bürgermeister von Irving in Kalifornien. Sie alle waren Mitglieder der DSA.)
Die jüngsten Erfolge der DSA bei Kongress-, Staats- und Kommunalwahlen haben den Sozialismus wieder auf die politische Bühne gehoben. Jetzt muss es darum gehen, für konkrete Verbesserungen im Leben der Arbeitenden zu kämpfen und deren Erwartungen an die Möglichkeiten der Politik zu erhöhen.
In ihrer Siegesrede blickte India Walton optimistisch in die Zukunft. »Dieser Sieg gehört uns. Er ist der erste von vielen, die folgen werden. Wer jetzt ein gewähltes Amt innehat, sollte gewarnt sein. Wir werden kommen.«
Im frühen 20. Jahrhundert war ein solcher Optimismus auf staatlicher und lokaler Ebene berechtigt. Und es gibt keinen Grund, warum es nicht wieder so sein könnte.
Joshua Kluever promoviert an der Binghamton University, einer staatlichen Universität im Bundesstaat New York, zu amerikanischer Geschichte des 20. Jahrhunderts.
Joshua Kluever promoviert an der Binghamton University, einer staatlichen Universität im Bundesstaat New York, zu amerikanischer Geschichte des 20. Jahrhunderts.