08. April 2024
Die indische Bauernbewegung fordert wie keine andere Kraft im Land die Regierung von Narendra Modi heraus. Im Vorfeld der Wahlen mobilisiert sie jetzt gegen die zunehmende Verarmung des ländlichen Raums durch Indiens neoliberales Wirtschaftsmodell.
Bauern protestieren in Neu-Delhi, Aufnahme vom 14. März 2024.
Vor gut drei Jahren mobilisierten die indischen Bäuerinnen und Bauern zu einer der größten sozialen Massenbewegungen seit Jahrzehnten. Die Aktionen waren ein schwerer Schlag für die Regierung von Narendra Modi.
Anfang dieses Jahres wurde die Protestkampagne erneut aufgenommen. Ein Dachverband der Bauerngewerkschaften aus den Bundesstaaten Punjab, Haryana und Uttar Pradesh rief bereits im Februar zu einem Marsch nach Delhi auf. Die Bauern wurden an der Grenze zwischen Punjab und Haryana vom Staat mit brutalen Repressionen empfangen; der 23-jährige Landwirt Shubhakaran Singh aus Punjab starb an einer Kopfverletzung.
Zum Marsch aufgerufen hatten vor allem zwei Gruppen, der Samyukta Kisan Morcha (SKM; Non-political) und der Kisan Mazdoor Morcha (KMM). SKM (Non-Political) ist eine Abspaltung des Samyukta Kisan Morcha (SKM). Letzterer ist ein Zusammenschluss diverser Bauernverbände aus dem ganzen Land, der die Bauernbewegung in den Jahren 2020-21 angeführt hatte. Am 23. Februar 2024 schloss sich auch der SKM den laufenden Aufrufen zu Protesten an.
Der SKM veröffentlichte im Zuge dessen einen weiteren Aufruf, in dem er die Bauernorganisationen aufrief, sich zu einer Konferenz auf dem Ramleela Ground in Delhi einzufinden. Mehr als 50.000 Bäuerinnen und Bauern aus dem ganzen Land nahmen an der Versammlung am 14. März teil und mahnten dabei erneut die Einigkeit aller Bauernorganisationen an. Die Verbände appellierten außerdem einhellig an die Wählerschaft, die Modi-Regierung bei den kommenden Wahlen zu stürzen.
Zu den Hauptforderungen dieser Bauernverbände gehören ein gesetzlich garantierter Mindeststützpreis (MSP) für einige ausgewählte Feldfrüchte, eine Senkung der Betriebsmittelkosten, der Erlass von Kreditschulden und die Aufhebung der Electricity (Amendment) Bill 2022. Der besagte MSP-Stützpreis für Erzeugnisse soll gemäß den Empfehlungen der Swaminathan-Kommission, der nationalen Landwirtschaftskommission, berechnet werden.
Im Jahr 2006 empfahl die Swaminathan-Kommission, den Landwirten 50 Prozent über den sogenannten comprehensive costs (C2) als ein »MSP (C2+50)« zu zahlen. Dies ist seit 2006 eine Kernforderung der Bauernschaft. C2 umfasst die angenommenen Kosten für Arbeitskräfte aus der eigenen Familie, die angenommene Pacht für eigenes Land und die angenommenen Zinsen für Kapital. Die Commission of Agricultural Costs and Prices der Regierung berechnet und veröffentlicht diese C2-Kosten jedes Jahr in ihren Berichten zur nationalen Preispolitik.
Die Bauernverbände hatten die vorherige Protestrunde vor allem eingeleitet, um sich gegen drei von Modis Regierung eingeführte Agrargesetze zu wehren. Im Dezember 2021 beschlossen die Gruppen dann, die Aktionen einzustellen, da die indische Regierung diese Landwirtschaftsgesetze zurückzog und sich bereit erklärte, die weiteren Forderungen der Bewegung zu diskutieren, darunter garantierte Preise und die Einstellung von Strafverfahren gegen protestierende Landwirte.
Es wurde ein Komitee gebildet, das über Themen wie die Förderung des sogenannten Zero Budget Natural Farming, auf Wissenschaft basierende Änderungen der Anbaumuster unter Berücksichtigung der sich ändernden Bedürfnisse des Landes, sowie Möglichkeiten, den MSP-Preis effektiver und transparenter zu gestalten, entscheiden sollte. Diesem Komitee sollten sowohl Vertreter der Zentralregierung und der Regierungen der Bundesstaaten als auch Landwirte, Forschende und Agrarökonominnen angehören.
Die Landwirte, die nun wieder protestieren, sind allerdings der Meinung, dass der Ausschuss seine Versprechen nicht eingehalten hat: Badal Saroj, Co-Sekretär des KP-Flügels All India Kisan Sabha und ein führender Vertreter des SKM, hat einige Kernprobleme bei der Zusammensetzung des MSP-Komitees ausgemacht. Er betont, dass die SKM-Mitglieder, die eigentlich in den Ausschuss hätten berufen werden sollen, niemals ernannt wurden – während hingegen mehrere Personen, die einen Platz im Ausschuss erhielten, sich öffentlich gegen einen MSP für Feldfrüchte ausgesprochen hatten.
Saroj zufolge versucht die Modi-Regierung, die drei kritisierten Agrargesetze somit durch die Hintertür umzusetzen. Im Übergangshaushalt hatte sie dem Privatsektor beispielsweise erlaubt, sich verstärkt in Nachernte-Tätigkeiten wie Lagerung, Verarbeitung, Vermarktung und Markenbildung einzubringen.
»Angesichts der niedrigen Erträge für ihre Produkte sind die meisten Landwirte gezwungen, sich ständig neu zu verschulden.«
Die Unzufriedenheit der indischen Landwirte hat allerdings weitere, tiefer liegende Gründe. In Umfragen, die während der letzten Protestrunde durchgeführt wurden, berichteten die Bäuerinnen und Bauern, sie lebten in einer Dauerkrise, da sie nicht einmal einen Mindestpreis für ihre Erzeugnisse erhielten, der die Kosten für den Anbau und die menschliche Arbeitskraft decken würde. Gleichzeitig seien die Kosten für Düngemittel, Saatgut, Pestizide und Strom deutlich gestiegen. Die Landwirte seien daher kaum in der Lage, die Kosten für den Anbau zu decken, und somit gezwungen, bei nahezu jedem Schritt einen Kredit aufzunehmen.
Angesichts der niedrigen Erträge für ihre Produkte sind die meisten Landwirte gezwungen, sich ständig neu zu verschulden. In den vergangenen zwei Jahrzehnten war die Landwirtschaft keine existenzsichernde Einkommensquelle mehr. Darüber hinaus sind die staatlichen Ankäufe von landwirtschaftlichen Produkten über die Jahre hinweg kontinuierlich zurückgegangen. So sank beispielsweise die staatliche Beschaffung von Weizen im Jahr 2022/23 im Vergleich zum Vorjahr um 53 Prozent.
Laut einer Erhebung des Nationalen Statistikamtes ist derweil die Verschuldung der landwirtschaftlichen Haushalte zwischen 2013 und 2019 um fast 58 Prozent gestiegen. Im Bericht wird weiter festgestellt, dass mehr als die Hälfte der landwirtschaftlichen Haushalte verschuldet waren, wobei der durchschnittliche ausstehende Kredit pro Haushalt im Jahr 2018 bei 74.121 Rupien (ca. 820 Euro) lag. Das durchschnittliche Haushaltseinkommen im ländlichen Indien beträgt indes wenig mehr als 300.000 Rupien (3.325 Euro) pro Jahr.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten sind die Selbstmordraten unter indischen Landwirten stark angestiegen. Nach den jüngsten Zahlen des National Crime Records Bureau brachten sich zwischen 2018 und 2022 fast 45.000 Bauern und bei ihnen angestellte Landarbeiter um. Für den längeren Zeitraum 1995 bis 2018 sind fast 400.000 Suizide zu verzeichnen.
Zeitgleich ist weiterhin ein großer Teil der indischen Bevölkerung in der Landwirtschaft beschäftigt – meist aus Mangel an attraktiven Alternativen. Laut dem Bericht Periodic Labour Force Survey 2021-22 sind etwa 45,5 Prozent aller Arbeitskräfte in der Landwirtschaft und verwandten Branchen tätig. Auf diese Arbeit entfielen 18,3 Prozent der indischen Bruttowertschöpfung im Jahr 2022-23. Der Beitrag des Industrie- und Dienstleistungssektors zum BIP ist zwar gestiegen, diese Sektoren konnten bisher aber nicht den Arbeitskräfteüberschuss in der Landwirtschaft absorbieren.
Auch die zunehmende Zersplitterung des landwirtschaftlichen Grundbesitzes macht der Mehrheit der Klein- und Kleinstbauern das Leben schwer: Seit der ersten Landwirtschaftsstudie im Jahr 1971 hat sich die Zahl der landwirtschaftlichen Betriebe in Indien mehr als verdoppelt, von 71 Millionen im Jahr 1970-71 auf 145 Millionen im Jahr 2015-16. Die Zahl der Kleinstbetriebe (mit weniger als einem Hektar Land) ist dabei von 36 Millionen im Jahr 1971 auf 93 Millionen im Jahr 2011 gestiegen.
Während die Zahl der Landgüter insgesamt zunahm, hat sich die durchschnittliche Betriebsgröße zwischen 1970 und 2016 von 2,28 Hektar auf 1,08 Hektar mehr als halbiert. Gleichzeitig stieg die Zahl der landlosen Landarbeiter (von 106,8 Millionen im Jahr 2001 auf 144,3 Millionen im Jahr 2011), während die Zahl der Landwirte im gleichen Zeitraum von 127,3 Millionen auf 118,8 Millionen zurückging. Damit überstieg die Zahl der angestellten Landarbeiter erstmals die der Landwirte.
Diese negativen Entwicklungen – sinkende Profitabilität, steigende Inputkosten, Mangel an alternativen Beschäftigungsmöglichkeiten, stagnierende Produktivität – sind letztlich Symptome einer tieferen Agrarkrise. Diese Krise ist wiederum das Ergebnis einer fahrlässigen Politik mehrerer aufeinanderfolgender Regierungen in Indien.
Die Wurzel des Problems liegt in der Schieflage der kapitalistischen Entwicklung unmittelbar nach der indischen Unabhängigkeit und dem Scheitern der Landreformen in den meisten Bundesstaaten (mit Ausnahme von Jammu und Kaschmir, Kerala, Westbengalen und Tripura). In den meisten Staaten blieb die Landreform ein Wunschtraum, der nie Realität wurde.
Es gab keinerlei egalitäre Agrarreformen, sodass die Maßnahmen der Regierungen zur Förderung der landwirtschaftlichen Entwicklung letztlich den reichen und landbesitzenden bäuerlichen Klassen unverhältnismäßig stark zugutekamen. Die Ungleichheiten zwischen den Klassen und den Kasten haben sich im Laufe der Jahre parallel zum landwirtschaftlichen Wachstum und der steigenden Produktivität vergrößert.
Größere Ungleichheit resultierte auch aus der sogenannten indischen Grünen Revolution, bei der der Besitz von Land, Ressourcen und der Zugang zu Agrarkrediten den reichen und landbesitzenden Bauern unverhältnismäßig große Gewinne bescherte. Diese ungleiche Entwicklung führte zu Massenarmut, Arbeitslosigkeit und einem Rückgang der Kaufkraft großer Teile der Landbevölkerung. Dies wiederum schlug sich in einem verzögerten Wachstum des Binnenmarktes/der Binnennachfrage nieder und dämpfte auch die Fortschritte in der Industrialisierung Indiens.
»Der anhaltende Kampf der Bäuerinnen und Bauern setzt die materiellen Probleme der gesamten indischen Bevölkerung wieder auf die Tagesordnung.«
Anfang der 1990er Jahre befand sich Indien inmitten einer ausgewachsenen Zahlungsbilanzkrise. Die Regierung reagierte mit neoliberalen Wirtschaftsreformen; Handel und Finanzen wurden liberalisiert und staatliche Unternehmen privatisiert. Im Agrarsektor führten diese Reformen zu einer deflationären Fiskalpolitik und einer Reduzierung der öffentlichen Investitionen in die Landwirtschaft. Darunter litten besonders die ländliche Infrastruktur, Bewässerungssysteme, Agrarsubventionen und die Forschung.
Der Rückgang der Ausgaben für den ländlichen Raum und die Landwirtschaft wirkte sich auch negativ auf die Beschäftigung in den ländlichen Gebieten aus. Kürzungen der Subventionen für Düngemittel, Treibstoff und Strom ließen die Kosten für landwirtschaftliche Betriebsmittel zeitgleich weiter in die Höhe schnellen. Die Öffnung für den internationalen Markt ging auch mit einem Rückgang der Preise für Non-Food-Getreidepflanzen wie Baumwolle oder Ölsaaten einher. Gleichzeitig wurde der Schutz, den die Regierung der Landbevölkerung in Form von Agrarsubventionen und dem MSP gewährte, abgebaut.
Es ist keine Überraschung, dass diese breite Agrarkrise die Landwirte aller Klassen – reiche und arme, landbesitzende und landlose – dazu veranlasst, lautstark für einen Wandel ihrer wirtschaftlichen Verhältnisse einzutreten.
Trotz des vielschichtigen Charakters der Krise konzentrieren sich die Debatten in den indischen Medien allerdings eher auf Randaspekte: Die Seiten der überregionalen Zeitungen sind voll mit Diskussionen über den MSP oder die Diversifizierung der Landwirtschaft (ganz zu schweigen von den ständigen Berichten darüber, wie Blockaden der Landwirte das Leben der »normalen« Bevölkerung beeinträchtigen). Gleichzeitig werden die tieferliegenden Fragen übergangen.
In Indien stehen im April und Mai 2024 Parlamentswahlen an. In Vorbereitung auf den Wahlkampf inszenierte Modis Regierung im Januar eine große Zeremonie, bei der der Premierminister selbst den Ram Mandir-Tempel in Ayodhya einweihte, dem ehemaligen Standort einer Moschee, die 1992 von einem Mob zerstört wurde. Die religiös aufgeladene Atmosphäre sollte die hinduistische Mehrheit Indiens ansprechen, obwohl die für sie zentralen Probleme – Arbeitslosigkeit, Hunger, Selbstmorde auf den Bauernhöfen – weiterhin unbehandelt bleiben.
Die Bauernbewegung hat vor allem bewirkt, dass materielle Fragen wieder in den Vordergrund der Diskussion gerückt sind. Die aktuelle Welle der Bauernproteste hat Modis Image der Unbesiegbarkeit (erneut) angekratzt. Nach Ansicht von Badal Saroj vom SKM hat die Bewegung zu einer Konsolidierung der politischen Opposition in Bundesstaaten wie Bihar, Uttar Pradesh, Rajasthan und bis zu einem gewissen Grad auch Madhya Pradesh und Chhattisgarh geführt: »Aufgrund des organischen Charakters des Kampfes konnte die Bewegung die Lage zuspitzen – deutlich über die Kontrolle und Erwartungen der Regierung hinaus. Die Themen, die [die Regierung] totschweigen will, sind plötzlich wieder in den alltäglichen Diskussionen der Menschen präsent.«
Die Forderung der Landwirte nach einem gesetzlich garantierten MSP in Höhe von C2 + 50 Prozent wurde vom Oppositionsblock, der Indian National Developmental Inclusive Alliance (INDIA), bereits öffentlichkeitswirksam unterstützt. Der Vorsitzende des Nationalkongresses, Rahul Gandhi, machte deutlich: »Wenn der INDIA-Block nach den Parlamentswahlen an die Macht kommt, werden wir eine gesetzliche Garantie für den MSP geben. Wann immer die Landwirte den Kongress um etwas gebeten haben, haben sie es bekommen. Ob Schuldenerlass oder MSP, wir haben immer die Interessen der Landwirte geschützt und werden dies auch in Zukunft tun.«
Es ist darauf hinzuweisen, dass die Ausmaße der indischen Agrarkrise es unmöglich machen, sie durch schnelle Lösungen zu beheben. Die Beharrlichkeit der Landwirte verdeutlicht die unerträgliche Lage, in der sie seit Jahrzehnten zu leben gezwungen sind. Sollte sich an dieser grundlegenden Situation nichts ändern, dürften sie immer und immer wieder Anlass haben, erneut zu mobilisieren. Das Positive daran: Der anhaltende Kampf der Bäuerinnen und Bauern setzt die materiellen Probleme der gesamten indischen Bevölkerung wieder auf die Tagesordnung – unabhängig davon, wer in diesem Jahr die Wahlen gewinnt.
Shinzani Jain ist Forscherin und Autorin. Sie schreibt derzeit ihre Doktorarbeit im Bereich Regional- und Stadtplanung an der London School of Economics and Political Science.