24. Mai 2024
In Indien hat die neoliberale Ära seit den 1990ern die Ungleichheit stark ansteigen lassen. Mit seiner zunehmend autoritären und hetzerischen Politik versucht Narendra Modi nun, den sozialen Unmut aufzugreifen, ohne die ökonomischen Rahmenbedingungen anzutasten.
Narendra Modi spricht während einer Wahlkampfkundbegung in der indischen Küstenstadt Dwarka, 22. Mai 2024.
In den zehn Jahren, seit Narendra Modi Premierminister ist, hat Indien einen starken Anstieg der Ungleichheit bei Einkommen und Vermögen erlebt. Nach Angaben der World Inequality Database gehörte dem reichsten Prozent im vergangenen Jahr 22,7 Prozent des gesamten Volkseinkommens. Dieser Wert ist höher als zu jedem anderen Zeitpunkt im vergangenen Jahrhundert.
Die Zunahme der Ungleichheit geht mit einem Anstieg des Anteils der Bevölkerung einher, der mit absoluter Nahrungsknappheit zu kämpfen hat. Die fünfjährlichen Erhebungen zu den Verbraucherausgaben in Indien zeigen, dass der prozentuale Anteil der Bevölkerung, der nicht auf eine tägliche Mindestkalorienzahl (2.100 in städtischen und 2.200 in ländlichen Gebieten) kommt, zwischen 2011/12 und 2017/18 deutlich gestiegen ist.
Indien gilt als eine der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt (wobei die Wachstumszahlen bekanntermaßen stark übertrieben dargestellt werden). Gleichzeitig rangiert das Land im Welthungerindex aktuell auf Platz 111 von 125 Ländern; die Platzierung hat sich in den letzten zehn Jahren stetig verschlechtert.
In liberalen Meinungsbeiträgen wird die gesamte Schuld für diesen außergewöhnlichen Anstieg der Ungleichheit auf die Regierung Modi geschoben. Es ist sicherlich richtig, dass die Regierung eine Politik verfolgt, die die Monopolkapitalisten – insbesondere einige relativ neue Unternehmen, die als Modis »Kumpanen« gelten – spürbar begünstigt und gleichzeitig eine Krise der Kleinproduktion, vor allem in der Kleinlandwirtschaft, ausgelöst hat.
Diese Politik ist jedoch keine eigene Neuerfindung der Regierung: Modis Führung hat lediglich die bereits etablierte neoliberale Agenda ebenso treuherzig wie blindlings fortgeführt. Der amtierenden Regierung allein die Schuld zu geben, würde den Neoliberalismus daher fälschlicherweise von dem Vorwurf entlasten, die Verarmung der arbeitenden Bevölkerung immer weiter zu treiben.
Tatsächlich sind die Tendenzen zu größerer Ungleichheit und steigendem Nahrungsmangel seit der Einführung der neoliberalen Politik im Jahr 1991 offensichtlich: So ist der Volkseinkommensanteil des reichsten Prozents Schätzungen zufolge von sechs Prozent im Jahr 1982 auf über 21 Prozent im Jahr 2014 gestiegen. Auch die Ernährungsarmut hatte schon zwischen den Erhebungen 1993-94 und 2011-12 erheblich zugenommen.
Gewisse Maßnahmen können dagegen als konkrete Fehltritte der Modi-Regierung angesehen werden. Dazu gehören beispielsweise die plötzliche Demonetisierung von fast 87 Prozent (bezogen auf den Wert) der Geldscheine des Landes im Jahr 2016 im Namen der Bekämpfung von »Schwarzgeld« oder die Einführung einer Waren- und Dienstleistungssteuer im Jahr 2017 (anstelle der früheren Verkaufssteuer, die die »Vereinheitlichung des nationalen Marktes« erleichtern sollte).
Doch auch hier gilt: Zwar hat die Regierung diese Maßnahmen leichtfertig umgesetzt, doch stammen sie in der Regel aus dem Instrumentarium der internationalen Finanzinstitutionen. Modi konnte stets auf die Unterstützung dieser Institutionen für seine Politik zählen.
Man kann der Modi-Regierung vorwerfen, dass sie selbst in einer Zeit, in der der Neoliberalismus offensichtlich in eine Krise geraten war und dies zu massiver Arbeitslosigkeit führte, hartnäckig an der neoliberalen Agenda festhielt. Nirgendwo wurde dieses Verhalten deutlicher als bei der Verabschiedung von drei Landwirtschaftsgesetzen, mit der das System der staatlich gestützten Nahrungsmittelpreise abgeschafft werden sollte.
Die Förderung für Nutzpflanzen war tatsächlich gestrichen worden. Dies setzte die Landwirte den starken Schwankungen der Weltmarktpreise aus und erhöhte damit ihre Schuldenlast, was wiederum zu Massenselbstmorden unter Bäuerinnen und Bauern führte. Ein bemerkenswerter, jahrelanger Kampf der Landwirte zwang Modi letztlich dazu, diese Gesetze zurückzunehmen, die, wenn sie komplett umgesetzt worden wären, die Selbstversorgung des Landes mit Nahrungsgetreide (zugegebenermaßen auf einem niedrigen Verbrauchsniveau) zerstört und zu noch größerer Ernährungsunsicherheit geführt hätten.
Es ist eine immanente Tendenz des Neoliberalismus, dass die wirtschaftliche Ungleichheit sowohl innerhalb der Länder als auch in der Welt insgesamt zunimmt. Denn die länderübergreifende Mobilität des Produktionskapitals, die der Neoliberalismus mit sich bringt, setzt die Reallöhne in allen Ländern, auch im Globalen Norden, einem Abwärtsdruck aus, der von den riesigen Arbeiterreserven des Globalen Südens ausgeht.
Diese Reserven schrumpfen trotz der Verlagerung von Aktivitäten aus dem Norden in den Globalen Süden aber nicht, weil die Einführung eines freieren Handels zwischen den Ländern – ein weiteres Merkmal des Neoliberalismus – den Wettbewerb zwischen ihnen nur noch weiter verschärft. Er beschleunigt auch einen technologisch-strukturellen Wandel, der die Wachstumsrate der Arbeitsproduktivität in jedem Land erhöht. Dies wiederum senkt das Wachstum in den Beschäftigungsraten, oft sogar auf ein Niveau unterhalb der natürlichen Wachstumsrate der Erwerbsbevölkerung, wodurch die relative Größe der Arbeitsreserven (sprich: Arbeitslosen) sogar noch zunimmt.
So wird das Niveau der Reallöhne im Neoliberalismus gedrückt, während die Arbeitsproduktivität überall massiv steigt. Dadurch steigen sowohl innerhalb eines Landes als auch weltweit die Überschüsse in der Gesamtproduktion.
Die Krise des Neoliberalismus ist direkt mit einer Zunahme von Ungleichheit verbunden: Da Arbeiterinnen und Arbeiter einen viel größeren Teil ihres Einkommens direkt verbrauchen als diejenigen, denen der erwirtschaftete Überschuss zufließt, führt der Anstieg des Überschussanteils zu einer Tendenz zur Überproduktion. Dies hat sich international beispielsweise nach dem Platzen der Immobilienblase in den USA gezeigt.
In Indien wurden die Auswirkungen dieses Einbruchs durch eine aggressive Fiskalpolitik, mit der gegen die eigene Schuldenbremse verstoßen wurde, zumindest vorübergehend abgefedert. Mit der Wiedereinführung der Defizitgrenze – die etwa zu der Zeit erfolgte, als die Modi-Regierung an die Macht kam – hat die Wirtschaftsflaute auch Indien erfasst.
Am deutlichsten zeigt sich die Krise in Indien heute in der extrem hohen Arbeitslosigkeit. Wie bereits erwähnt, stieg die Arbeitslosigkeit im Neoliberalismus bereits vor der Finanzkrise ab 2007/8 an; das Beschäftigungswachstum lag nämlich unter der natürlichen Wachstumsrate der Erwerbsbevölkerung. Im Falle Indiens ist dabei ein besonderes Augenmerk auf die zahlreichen verzweifelten Bäuerinnen und Bauern zu richten, die auf der Suche nach Arbeit in die Großstädte strömen. Seit der Krise ist die Arbeitslosigkeit weiter angestiegen.
Heute ist die Arbeitslosigkeit das wohl größte Problem in Indien. Angesichts der weit verbreiteten Aushilfs- und Leiharbeit nimmt sie für die meisten Menschen eher die Form einer Verringerung der Arbeitsstunden an, als dass es überhaupt keine Arbeit gebe. Daher lässt sich das Ausmaß der Nicht- beziehungsweise Geringbeschäftigung auch nur schwer mit herkömmlichen Statistiken erfassen.
»Zusammengenommen erklären die beiden Phänomene – höhere Arbeitslosigkeit und stagnierende oder sinkende Reallöhne – gemeinsam den bereits erwähnten Anstieg der absoluten Ernährungsarmut.«
Allerdings zeigen Umfragen, in denen Menschen zu ihrem eigenen Beschäftigungsstatus befragt wurden, einen deutlichen Anstieg der Arbeitslosenquote in den Jahren nach der Pandemie. Auch die Nachfrage nach Arbeitsplätzen im Rahmen des staatlichen ländlichen Hilfsprogramms (dem Mahatma Gandhi National Rural Employment Guarantee Scheme) hat deutlich zugenommen. Dies scheint zu bestätigen, dass die Arbeitslosigkeit tatsächlich zunimmt.
Die Situation ist besonders gravierend unter jungen Menschen – laut einem Bericht der Internationalen Arbeitsorganisation beträgt die Arbeitslosigkeit in der Altersgruppe der 20- bis 24-Jährigen rund 44 Prozent – sowie im ländlichen Raum Indiens. Die Reallöhne der Landarbeiter stagnierten seit 2014/15 bestenfalls und sind in gewissen Fällen wohl sogar gesunken (je nach verwendetem Preisindex). In der Baubranche, einem Segment mit zahlenmäßig großer Arbeiterschaft, sind die Löhne zweifellos geringer geworden.
Zusammengenommen erklären die beiden Phänomene – höhere Arbeitslosigkeit und stagnierende oder sinkende Reallöhne – gemeinsam den bereits erwähnten Anstieg der absoluten Ernährungsarmut. Dieser Anstieg wird nur teilweise durch ein Programm der Regierung gemildert, mit dem etwa 800 Millionen Personen monatlich fünf Kilo kostenlose Getreideprodukte erhalten. Diese Regelung stammt noch aus Pandemiezeiten und wurde seitdem fortgeführt – wenn auch entgegen der erklärten Überzeugung vieler Regierungsmitglieder.
Die uneingeschränkte Unterstützung für den Neoliberalismus durch die Modi-Regierung – obwohl die Krisen dieses Wirtschaftsmodells zu massenhafter Not führt – ist genau das, was diese Führung für das indische Monopolkapital so attraktiv macht.
Wenn es zu Massenarbeitslosigkeit und akuter Not kommt, verschwindet jedoch vorherige breitere Unterstützung für den Neoliberalismus und der Glaube, dass er ein schnelles Wachstum bringt, das letztlich allen zugutekommen würde. Dann braucht der Neoliberalismus eine neue Stütze, um sich selbst zu erhalten. Eine mögliche Stütze ist die Verquickung mit neofaschistischen Elementen.
In Indien hat diese neoliberal-neofaschistische Allianz die spezifische Form eines Zusammenspiels zwischen Unternehmensakteuren und der Hindutva angenommen. Die Modi-Regierung ist ebenso Bestandteil wie Symbolbild für diese Allianz.
Ziel dieses Bündnisses ist es, einen Diskurswechsel herbeizuführen, sodass Themen wie Arbeitslosigkeit, Inflation und wirtschaftliche Misere in den Hintergrund gedrängt werden. Stattdessen rückt ein aggressiver Hindu-Nationalismus in den Vordergrund – während die Regierung im Stillen weiterhin eine strikt neoliberale Strategie zugunsten des globalisierten Kapitals und des mit ihm verflochtenen einheimischen Monopolkapitals verfolgt.
»In Indien bedeutet dies konkret, dass Fortschritte gegen Unterdrückung nach Merkmalen wie Kaste und Geschlecht rückgängig gemacht werden.«
Der Neofaschismus weist alle Merkmale des klassischen Faschismus auf: staatliche Repression, die demokratische Institutionen untergräbt und demokratische Rechte außer Kraft setzt; Angriffe auf die hart erkämpften Rechte von Arbeitern und Bäuerinnen; die Kombination von staatlicher Repression und Straßengewalt durch faschistische Schläger; und das Ausgrenzen einer Minderheit sowie das Schüren von Hass gegen sie.
Wir können auch eine enge Verflechtung mit dem Monopolkapital beobachten – insbesondere mit einer neuen Schicht des Kapitals, das sich aus den engen Freunden der Regierung zusammensetzt – sowie die Verherrlichung eines obersten Führers und eine immense Zentralisierung von Macht und Ressourcen. Dies ermöglicht die Durchsetzung einer sozialen Konterrevolution. In Indien bedeutet dies konkret, dass Fortschritte gegen Unterdrückung nach Merkmalen wie Kaste und Geschlecht rückgängig gemacht werden.
Im aktuellen internationalen Kontext muss man zu dieser Liste noch das Festhalten am Neoliberalismus und die Anpassung an das globalisierte Kapital hinzufügen, von dem das indische Monopolkapital ebenfalls ein wesentlicher Bestandteil ist.
Im Gegensatz zum klassischen Faschismus kann der Neofaschismus aber die Probleme von Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit nicht lösen. Das liegt daran, dass höhere Staatsausgaben zur Steigerung der Gesamtnachfrage nun einmal nur funktionieren können, wenn sie entweder durch ein Haushaltsdefizit oder durch die Besteuerung der Reichen finanziert werden.
Staatsausgaben, die per Besteuerung der Arbeiterinnen und Arbeiter (die ohnehin den größten Teil ihres Einkommens direkt verbrauchen) finanziert werden, tragen hingegen nicht zur Steigerung der Gesamtnachfrage bei. Derweil heißt die globalisierte Finanzwelt Ideen für ein höheres Haushaltsdefizit oder mehr Steuern für Reiche nicht gut. Und wenn der Staat sich den Launen des globalisierten Kapitals nicht vollständig beugt, droht die Gefahr der Kapitalflucht für die heimische Wirtschaft. Das kann sich Indien nicht leisten.
Die Modi-Regierung kann daher wenig tun, um die Arbeitslosigkeit zu überwinden. Deswegen ist sie wiederum abhängig von und baut noch stärker auf einen spaltenden und ablenkenden Diskurs. Diesen Ansatz kann man bei den aktuell durchgeführten Wahlen in Indien deutlich erkennen: Zwar bestätigen unterschiedlichste Beobachter, dass die Arbeitslosigkeit in der Öffentlichkeit mit großer Besorgnis betrachtet wird (und die wichtigsten Oppositionsparteien haben dieses Thema in ihren Wahlkampfkampagnen auch aufgegriffen), aber in den Reden von Modi und anderen Führungspersönlichkeiten seiner Bharatiya Janata Party (BJP) wird das Thema überhaupt nicht erwähnt.
»Es ist ein spaltender, gefährlicher und verlogener Diskurs, der die Aufmerksamkeit von den dringenden materiellen Fragen und den wirtschaftlichen Lebensgrundlagen ablenkt.«
Stattdessen besuchen sie den Ram-Tempel, der in Ayodhya gebaut wurde, und schüren Hass auf Muslime (die sie als »Eindringlinge« bezeichnen). Sie verbreiten systematisch den Mythos, dass der Kongress nach den Wahlen den Wohlstand der Hindus entwenden könnte, um ihn unter der muslimischen Bevölkerung zu verteilen. Es ist ein spaltender, gefährlicher und verlogener Diskurs, der die Aufmerksamkeit von den dringenden materiellen Fragen und den wirtschaftlichen Lebensgrundlagen ablenkt. Das ist alles, was die BJP anzubieten hat, während eine kleinmütige Wahlkommission einfach wegschaut.
Die aktuellen Parlamentswahlen sind von außerordentlicher Bedeutung für die Zukunft des Landes. Für die BJP sind sie ein Mittel, um ihre neofaschistische Herrschaft zu legitimieren, zu konsolidieren und fortzuführen.
Die Partei verfügt über immense finanzielle Mittel, die ihr von ihren monopolkapitalistischen Geldgebern zur Verfügung gestellt werden. Sie kontrolliert die zentralen Ermittlungsbehörden Indiens, die sie nutzt, um Oppositionelle aufgrund falscher Anschuldigungen, die noch nicht einmal vor Gericht kommen, jahrelang zu inhaftieren und sie mit der Androhung von Haftstrafen zu terrorisieren. Sie hat auch die indische Justiz infiltriert oder deren Beamte eingeschüchtert.
Mit diesen Mitteln (und ihrer religiös begründeten Anziehungskraft) hofft die BJP, ihre Macht weiter festigen zu können. Die Frage ist: Werden die arbeitenden Menschen in Indien dies zulassen?
Prabhat Patnaik ist Ökonom und Co-Autor der Bücher Capital and Imperialism: Theory, History, and the Present (2021) und A Theory of Imperialism (2016).