13. Dezember 2023
In Indien werden muslimische Frauen, die die Regierung von Narendra Modi kritisieren, auf üble Weise belästigt und angegriffen. Inzwischen hat sich eine regelrechte Kultur gewalttätiger Übergriffe entwickelt, die von der Regierungspartei verteidigt und sogar befeuert wird.
Frauen protestieren in Kalkutta gegen die Freilassung der Angreifer von Bilkis Bano, 24. August 2022.
Ende vergangenen Jahres kamen elf Hindu-Extremisten aus einem Gefängnis im indischen Bundesstaat Gujarat frei. Sie hatten für die brutale Gruppenvergewaltigung einer schwangeren Muslima und die Ermordung von 14 Mitgliedern ihrer Familie im Jahr 2002 eingesessen. Das Verbrechen geschah während eines der schlimmsten Ausbrüche antimuslimischer Gewalt in der jüngeren indischen Geschichte. Die Männer wurden nach jahrelangen Prozessen zu lebenslanger Haft verurteilt, waren letztlich aber nur 14 Jahre im Gefängnis. Die Bharatiya Janata Party (BJP) von Premierminister Narendra Modi beglückwünschte die Männer zu ihrer Freilassung.
Die Überlebende des Verbrechens, Bilkis Bano, war entsetzt über das völlige Versagen der Gerichte, diese Männer für immer wegzusperren. Die BJP und große Teile der indischen Gesellschaft hingegen feierten sie als Helden: Sie wurden mit Blumen bekränzt, mit Süßigkeiten beschenkt und von der Regierungspartei als ehrwürdige Ikonen gepriesen. Ein BJP-Parlamentarier lobte ihre »guten Sanskar« (Werte), während er andeutete, dass das Opfer Bano bezüglich des Verbrechens gelogen habe, »um diese guten Leute in die Enge zu treiben und abzustrafen«. Zwei andere BJP-Politiker empfingen einen der Ex-Häftlinge bei einer offiziellen Regierungsveranstaltung wie einen Prominenten.
Es ist an der Zeit, dass die Welt einen genaueren Blick auf Indien wirft. Es ist wahrlich kein Geheimnis, dass im Land seit Langem ein erschreckendes Ausmaß an Gewalt gegen Frauen herrscht, vor allem gegen die »niedere« Kaste der Dalits. Unter dem Einfluss der Modi-Regierung und der Hindutva (einer rassistischen Überlegenheitsideologie, die besagt, dass Indien ein Hindu-Ethnostaat sein sollte) ist es zum absoluten Mainstream geworden, Minderheiten zu entmenschlichen, zu diffamieren und ihnen Gewalt anzutun. Vor allem Muslime werden als Feinde der Hindus und Indiens angesehen. Inmitten dieses Klimas sind Vergewaltigungsdrohungen und tatsächliche sexuelle Gewalt zu den bevorzugten Waffen der hinduistischen Rechten geworden. Sie werden ausdrücklich zu dem Zweck eingesetzt, muslimische Frauen einzuschüchtern und zu terrorisieren.
Frauen, die die Modi-Regierung öffentlich kritisieren, müssen in Indien mit heftigster sexueller Belästigung rechnen. Zu den wohl schockierendsten Fällen gehören Sulli Deals und Bulli Bai – zwei nach antimuslimischen Schimpfwörtern benannte Auktions-Apps, die von Hindu-Extremisten entwickelt wurden und auf denen Bilder und Kontaktinformationen von muslimischen Frauen an Hindu-Männer im Ebay-Stil »versteigert« werden. Unter den betroffenen Frauen sind Aktivistinnen, Journalistinnen und Anwältinnen. Sie berichten, wie geschockt sie waren, als sie merkten, dass ihre persönlichen Informationen auf derart entmenschlichende Weise weitergegeben worden waren.
»Was, wenn jemand einfach entscheidet: Da habe ich heute Bock drauf, die hol‘ ich mir?«, fragt die Aktivistin Afreen Fatima. »Ich wüsste wortwörtlich nichts, was sie daran hindert, das zu tun.«
Doch auch abseits dieser Fälle sind Drohungen gegen lautstarke muslimische Frauen gefährlicher Mainstream. Im Jahr 2022 teilte die muslimische Journalistin und Kolumnistin der Washington Post Rana Ayyub mit, sie habe allein über Twitter 26.000 (in Worten: sechsundzwanzigtausend) Todes- und Vergewaltigungsdrohungen erhalten. Die meisten davon kamen von rechtsgerichteten Hindu-Accounts. Die Studentenaktivistin Ladeeda Farzana ist eine von mehreren Aktivistinnen, deren Gesicht von rechten Accounts in pornografische Bilder montiert wurde. Ihr vermeintliches »Verbrechen«: Sie hatte die landesweiten Proteste gegen Indiens diskriminierendes Staatsbürgersschaftsgesetz (Citizenship Amendment Act, CAA) unterstützt. Nicht-muslimische – und sogar nicht-indische Frauen wie die in den USA lebende Wissenschaftlerin Audrey Truschke – die die Modi-Regierung kritisieren, werden mit Vergewaltigungs- und Todesdrohungen überschwemmt.
»Die Drohungen werden zunehmend von extremistischen Hindu-Führern (und -Führerinnen!) gestreut, die offenbar keinerlei Skrupel mehr haben, öffentlich zu sexueller Gewalt aufzurufen.«
Frauen müssen aber keine Aktivistinnen sein, um zur Zielscheibe zu werden. Bilkis Bano ist ein trauriges Paradebeispiel: Ebenso wie hunderte weitere Frauen und junge Mädchen wurde sie während des Pogroms in Gujarat 2002 sexuell gedemütigt, vergewaltigt und sogar verstümmelt, nur weil sie Muslima sind. Der Hindu-Extremist Babu Bajrangi prahlte gegenüber einer Undercover-Reporterin damit, ihm habe es »Spaß gemacht«, Muslime zu ermorden, darunter eine schwangere Frau.
Wie die Männer, die Bano vergewaltigt hatten, saß auch Bajrangi nur kurze Zeit in Untersuchungshaft, bevor er zusammen mit Dutzenden anderen Vergewaltigern und Mördern aus angeblichem Mangel an Beweisen freigesprochen wurde – unter lautstarker Kritik, muss hier angemerkt werden.
Die rechte hinduistische Online-Sphäre distanziert sich keinesfalls von Männern wie Bajrangi und den Gewalttätern von Gujarat. Stattdessen werden die vermeintlich sozialen Medien genutzt, um Drohungen zu verstärken. Auf Plattformen wie Facebook, Twitter und Whatsapp träumen Hindu-Extremisten von eigenen »Harems« mit muslimischen Frauen oder fantasieren von »Fuck and Dump«. In einem besonders beunruhigenden Fall haben Watchdog-Accounts auf Instagram und Twitter eine inzwischen gelöschte Reddit-Community namens Muslima for Hindu Men aufgedeckt, in der über 15.000 Nutzer ihre menschenverachtenden sexuellen Fantasien über muslimische Frauen auslebten. Screenshots des Subreddits zeigen, dass Nutzer pornografische Bilder von muslimischen Frauen und ausführliche Sex- und Vergewaltigungsfantasien posteten. Dass dabei extrem frauenfeindlich-sexualisierte Beleidigungen verwendet wurden, sollte nicht überraschen.
Was allerdings noch weitaus schwerer wiegt: Zunehmend werden diese Drohungen nicht nur von anonymen Usern online verbreitet. Vielmehr werden sie von extremistischen Hindu-Führern (und -Führerinnen!) gestreut, die offenbar keinerlei Skrupel mehr haben, öffentlich zu sexueller Gewalt aufzurufen. Videos mit diesen Drohungen gehen oft viral. Eine weibliche religiöse Hindu drohte beispielsweise, wenn muslimische Männer versuchen würden, interreligiöse Ehen mit Hindu-Frauen zu schließen, würden im Gegenzug muslimische Frauen »Hindu-Kinder zur Welt bringen« – nach Vergewaltigungen. Der BJP-Abgeordnete Raja Singh, der derzeit für seine Wiederwahl kandidiert, sagte auf einer Kundgebung: »Wenn [die Muslime] ein Hindu-Mädchen nehmen, nehmen wir zehn von ihnen.«
Ähnlich ging der Hindu-Extremistenführer Bajrang Muni viral, als er vor einer Moschee in Uttar Pradesh öffentlich mit der Vergewaltigung muslimischer Frauen drohte. »Das sage ich euch [Muslimen] ... wenn ein einziges Hindumädchen von euch in Khairabad verführt wird, dann hole ich eure Töchter und Schwiegertöchter aus eurem Haus und vergewaltige sie hier vor aller Augen«, kündigte er an. Dafür gab es Jubelrufe und Applaus vom Publikum.
Woher kommen diese Vergewaltigungsfantasien? Die Antwort findet sich möglicherweise in einem Buch aus dem Jahr 1963 mit dem Titel Six Glorious Epochs of Indian History. Sein Autor, der führende Hindutva-Ideologe Vinayak Savarkar, ist bekannt für Hot Takes wie »Deutschland hatte jedes Recht, zum Nazismus zu greifen« und »[Faschismus und Nazismus] waren zwingend notwendig und nützlich«.
»Die Normalisierung einer entmenschlichenden, gewalttätigen und frauenfeindlichen Logik sorgt dafür, dass Frauen wie Bilkis Bano keine Gerechtigkeit erfahren können.«
Sein Buch spielt mit ebensolchen ethnonationalistischen Themen. Savarkar rechtfertigt die Vergewaltigung muslimischer Frauen als politisches Mittel, um das vermeintliche Unrecht der Vergangenheit wiedergutzumachen. Nachdem er – vollkommen ahistorisch – behauptet, die muslimischen Mogule hätten es als ihre »Pflicht« angesehen, Hindu-Frauen zu entführen und gewaltsam zu »bekehren«, erklärt Savarkar: »Nach dem Sieg der Hindus werden unsere Schändung und unser schmähliches Los an den muslimischen Frauen gerächt werden.« Mit anderen Worten: Savarkar ist der Ansicht, dass die Vergewaltigung von Frauen in der Gegenwart ein völlig angemessener Weg sei, um Gräueltaten des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts zu rächen.
Ahistorisch hin oder her, Savarkars Denken hat sich in das Bewusstsein der Hindutva-Anhänger eingebrannt. Das zeigt sich unter anderem, wenn rechte Twitter-Accounts auf den »Liebesdschihad« verweisen – eine Verschwörungserzählung, laut der muslimische Männer Hindu-Frauen per »Verführung« zum Islam bekehren wollen. Die mit absoluter Verlässlichkeit darauffolgende Empörung vermengt sich dann schnell mit »Vergeltungs«-Vergewaltigungsdrohungen. Leute wie Bajrang Muni Das, Raja Singh und zahllose andere nationalistisch-hinduistische radikale Social-Media-Nutzer fühlen sich hier zu Hause.
Die Message ist eindeutig: Muslimische Männer – die nebenbei die Hauptopfer von Lynchmorden und anderen gewalttätigen Übergriffen sind – können es sich schlicht nicht erlauben, mit Hindu-Frauen auch nur in irgendeiner Weise zu interagieren: Sie dürfen nicht mit ihnen reden, sich nicht mit ihnen anfreunden und schon gar keine Liebesbeziehungen mit ihnen eingehen. Andernfalls, so drohen die Hindu-Extremisten, werden die muslimischen Frauen den Preis dafür zahlen.
Die Normalisierung einer entmenschlichenden, gewalttätigen und frauenfeindlichen Logik sorgt dafür, dass Frauen wie Bilkis Bano keine Gerechtigkeit erfahren können. Ihr Einspruch vor dem Obersten Gerichtshof Indiens bleibt aktuell ungeklärt, während die Angreifer aufgrund ihrer »guten Führung« wieder frei herumlaufen. Die Macher der Plattformen Sulli Deals und Bulli Bai haben nicht mehr als einen kleinen Klaps auf die Finger bekommen und machen ihre »Arbeit« weiter. Dass Raja Singh Gewaltfantasien und Drohungen gegen muslimische Frauen (und Männer) verbreitet, ist zur Normalität geworden, und trotzdem hat die BJP angekündigt, ihn bei den kommenden Wahlen aufzustellen.
Es ist Realität, dass Frauen tagtäglich mit sexueller Gewalt bedroht werden. Ebenso Realität ist die Straffreiheit für diejenigen, die entsprechende Taten abfeiern.
Der Ruf nach Gerechtigkeit für diese Frauen und der Druck, um zu verhindern, dass weitere Frauen vergewaltigt, terrorisiert und traumatisiert werden, kann nicht mehr nur aus Indien kommen. Es darf nie wieder einen Fall wie den von Bilkis Bano oder einen anderen Fall von sexueller Gewalt geben. Frauen und Männer auf der ganzen Welt müssen unbedingt fordern, dass die indische Rechte der sexuellen Gewalt gegen muslimische Frauen ein Ende setzt.
Safa Ahmed ist stellvertretende Direktorin für Medien und Kommunikation beim Indian American Muslim Council.