21. Januar 2021
Vor zehn Jahren hat die deutsche Politik die Digitalisierung zur Chefsache erklärt. Profitiert hat davon nur das Kapital.
Mit weniger Arbeit mehr produzieren: Wie sich das auf die Arbeitenden auswirkt, entscheidet die Wirtschaft, nicht die Technik.
Der Begriff »Industrie 4.0« fiel zum ersten Mal auf der Hannover Messe 2011. Ein PR-Gag. Seitdem hat er sich schnell zu einer bekannten Marke entwickelt. Was allerdings unter ihm und unter seinem Zwillingsbegriff, der Digitalisierung, zu verstehen ist, bleibt weiterhin diskutabel. Zehn streitbare Thesen zum zehnten Geburtstag.
In der öffentlichen Debatte wird immer wieder behauptet, dass »die Digitalisierung die Arbeit flexibilisiert«. Außerdem mache sie »Tarifverträge überflüssig« und überhaupt passe der Achtstundentag gar nicht mehr zur »digitalen Arbeit«. Zudem seien hunderttausende Jobs durch »die Digitalisierung« bedroht. Diese Annahmen sind weit verbreitet, aber falsch. Digitale Technik ermöglicht es zwar, unter anderem, von überall zu arbeiten. Doch wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer rund um die Uhr über ihr Smartphone berufliche E-Mails abrufen und von überall arbeiten müssen, dann tun sie das nicht wegen dem Smartphone in ihrer Hosentasche, sondern wegen der Anforderungen ihrer Vorgesetzten. Roboter mögen die Arbeitsproduktivität steigern. Ob das in der Konsequenz jedoch mehr Freizeit für die Beschäftigten bedeutet oder zu Arbeitslosigkeit für die einen und Stress für die anderen führt, ist keine Frage der Technik, sondern der Ökonomie. Es ist geht nicht darum wie oder was produziert wird, sondern für welchen Zweck.
»Die Digitalisierung« tut gar nichts. Sie ist ein Scheinsubjekt. Das klingt kompliziert, doch jeder kennt das Scheinsubjekt aus dem alltäglichen Sprachgebrauch. Bei der Aussage »es regnet« weiß jeder, dass gar kein »es« existiert, das gerade die Handlung des Regnens durchführt. Das »es« steht vielmehr für eine bestimmte Wetterlage. Wer nun von »der Digitalisierung« spricht, verschweigt ebenso, welches Subjekt die Digitalisierung aus welchen Gründen ins Werk setzt. Denn wer Arbeit bekommt oder behält, wie diese Arbeit aussieht und wie sie bezahlt wird, entscheidet in unserer feinen Welt das Kapital – und eben nicht die Technik. Und das Kapital digitalisiert die Welt für seine Zwecke.
Es gibt eine Menge neuer und nicht so neuer Apparate. Die können dank Internet nun alle miteinander vernetzt werden. Und nicht nur das. In diesem »Internet der Dinge« sollen nicht nur Maschinen mit Maschinen, sondern auch die Maschinen mit ihren Produkten vernetzt werden. So entstehen dann »smarte Fabriken«, in denen mit deutlich weniger Arbeit deutlich mehr hergestellt wird. Kurz: Die Produktivität wird gesteigert. Soweit die gute Nachricht.
Wer der Technik sehr optimistisch gegenübersteht, den mag diese Tatsache zu einer Reihe von Schlussfolgerungen verleiten: Das ermöglicht, weniger zu arbeiten! Wir werden alle mehr Freizeit haben und gesünder leben! Und es kann umweltfreundlicher produziert werden, weil es weniger Emissionen gibt. Und überhaupt: Alles wird gut!
Um es gleich zu verraten: Die neuen digitalen Techniken haben als Techniken keine notwendigen sozialen Folgen. Ob bei steigender Produktivität die Arbeit für alle weniger wird oder ob sie für die einen mehr wird, während die anderen arbeitslos werden, ist, wie in These eins dargelegt wurde, eine Frage der Ökonomie, nicht der Technik. Doch auch das ist nur die halbe Wahrheit.
Die schlechte Nachricht ist, dass es die Steigerung der Produktivität allein deswegen gibt, damit das jeweilige Unternehmen seine Kosten senken und sich dadurch einen Konkurrenzvorteil verschaffen kann. Jede Technik wird also nur eingesetzt, wenn sie sich für ein Unternehmen lohnt.
Wer die Technik für »frei gestaltbar« hält, vergisst, warum es die Produktivitätssteigerung im Kapitalismus überhaupt gibt: Sie soll die Profite erhöhen. Und das schlägt gegen die aus, die diese Profite an den neuen Maschinen erarbeiten müssen.
Die Produktivität, um die es im Kapitalismus geht, hat ihre Eigenheiten. Sie bemisst nicht das Verhältnis von Arbeitsaufwand zu Ertrag, sondern das Verhältnis von investiertem Kapital zu realisiertem Gewinn. Was das heißt? Dass an den neuen Maschinen mehr und intensiver geschuftet wird als vorher. Es ging den Kapitalisten nie darum, menschliche Mühe zu reduzieren, sondern mit der Steigerung der Kapitaleffizienz den Profit zu maximieren.
So zeitigt der kapitalistische Fortschritt eigentümliche Ergebnisse: Mit der Digitalisierung nimmt der Arbeitsstress noch intensiver zu. Was Marx im Kapital noch in Bezug auf die Verhältnisse der Industrialisierung beschrieb, wiederholt sich jetzt auf technisch höherem Niveau. Mit Laptop und digitalem Equipment ist die einzelne Angestellte jetzt für einen größeren Maschinenpark verantwortlich. Aber auch am Fließband macht sich das bemerkbar. Es wird in weniger Zeit mehr hergestellt. So fällt jeder Fehler noch mehr ins Gewicht. Das sorgt, wie es Marx damals nannte, für eine erhöhte »Anspannung der Arbeitskraft«.
An der gleichen Stelle verwies Marx übrigens auch auf die immer dichtere »Ausfüllung der Poren der Arbeitszeit«. Auch das ist leider noch aktuell. Je teurer die angeschafften digitalen Maschinen, desto ökonomisch sinnvoller ist es, sie ohne Unterbrechung laufen zu lassen. Gleiches gilt für die Lohnabhängigen selbst. Inzwischen sind aus den Logistikern bei Amazon sogenannte »Picker« geworden. Mit GPS-Gerät am Arm navigieren sie die kürzeste Route durch das Lager. Ihre Vorgesetzten erhalten eine Meldung, wenn sie sich unerlaubt von der Route entfernen – auch wenn sie nur einmal mit Kollegen reden möchten oder eine kurze Toiletten- oder Raucherpause einlegen.
Was also tun, wenn das Kapital die Digitalisierung nach seinem Interesse gestaltet und die Arbeit dabei nur als Mittel des Profits vorkommt? Die Erkenntnis, dass die Technik überhaupt nur für das Kapital entwickelt und angewendet wird, ist eine Absage an die Illusion einer heilbringenden Wirkung der digitalen Maschinenparks. Es ist der Hinweis darauf, dass die Folgen der neuen Technik tatsächlich ziemlich schädlich für diejenigen sind, die mit ihr arbeiten müssen. Das liegt aber nicht an »der Digitalisierung«, sondern ist der Grundrechenart des kapitalistischen Systems anzulasten. Deswegen braucht es auch keine neue Maschinenstürmerei, sondern ein organisiertes »Nein!« gegen ein Leben als variables Kapital.
Wer also nicht zu einem Bit oder Byte der digitalen Maschinerie degradiert werden will, der sollte sich als erstes darüber im Klaren werden, wie diese Ökonomie funktioniert und warum von jeder Produktivkraftsteigerung stets die gleichen profitieren – nämlich jene, welche die neue Technik als Kapital erwerben, und nicht jene, die mit der neuen Technik zu arbeiten haben. Solange das so bleibt, sind allen »Gestaltungsmöglichkeit« sehr enge Grenzen gesetzt.
Als wäre das alles nicht schon ungemütlich genug, kommt nun das Geburtstagskind ins Spiel. Seit 2011 hat die deutsche Politik diese neuen Techniken und ihren ökonomischen Einsatz zur Chefsache erklärt: Mit Investitionen in Millionenhöhe wird digitale Infrastruktur bereitgestellt und die Forschung unterstützt. Außerdem wird ein Bündnis zwischen Industrie, Forschungsinstitutionen und dem Staat geschmiedet: die »Plattform für Industrie 4.0«.
Hier liegt auch der Unterschied zwischen Digitalisierung und Industrie 4.0. Während erstere die ideologische Fassung der neuen Welle der kapitalistischen Produktivkraftsteigerung beschreibt, bezeichnet die Industrie 4.0 hingegen ein Programm der deutschen Regierung, das deutsches Kapital mittels dieser Technik an die Spitze des Weltmarktes katapultieren soll. Die Industrie 4.0 ist also ein polit-ökonomisches Programm.
2014 startete die »Digitale Agenda« für Europa. 2020 rief von der Leyen dann das Ziel der »digitalen Souveränität« aus. Dazu soll nicht nur in ganz Europa digitale Infrastruktur, sondern auch ein gemeinsamer europäischer Rechtsrahmen geschaffen werden. So soll Europa zu einem großen Binnenmarkt für digitale Techniken werden, sodass sich Unternehmen diesem Markt bedienen und entsprechend wachsen können. Immerhin will man es mit amerikanischen Unternehmen wie Amazon, Google und Facebook oder chinesischen Riesen wie Ali Baba aufnehmen.
Damit stößt Deutschland jedoch in der EU selbst auf zunehmende Widerrede. Werden nationale Rechte europäisch vereinheitlicht, so setzen sich auf dem neuen homogenen Markt eben die Unternehmen mit der größten Kapitalmacht durch. Und das sind vor allem die deutschen. Das sorgt für Unmut bei den europäischen »Partnern«. Michael Roth, Staatsminister für Europa im Auswärtigen Amt, schrieb bereits im Oktober 2020 was er von den Einwänden der kleineren EU-Länder hält: Man müsse eben »die nationale Kleinstaaterei überwinden« und den »europaweiten Wildwuchs an Programmen und Strategien in einer gemeinsamen Politik bündeln«.
Elegant, wie Michael Roth das deutsche Interesse mit dem europäischen gleichsetzt, um zugleich jeden Einspruch gegen das Projekt für das deutsche Kapital als »nationale Kleinstaaterei« zu verunglimpfen. Die kleinen Staaten haben indes die Wahl: Entweder sie kehren der EU und ihrer Führungsnation Deutschland den Rücken zu und geben damit die Konkurrenz um den Weltmarkt gleich auf, oder aber sie fügen sich ihrer schäbige Rolle als Absatzmarkt für deutsche Produkte oder als Werkbank für deutsche Unternehmen, um in dieser Position am potenziellen Weltmarktgewinn »teilzuhaben«.
Der Widerspruch innerhalb der europäischen Union wiederholt sich auf höherer Ebene bei der Konkurrenz Europas mit China und den USA. Deutschland brüstet sich gerne mit seinen vergleichsweise strengen Datenschutzgesetzen, doch sollte auch einmal der Grund hierfür in den Blick genommen werden. Während die deutsche Industrie 4.0 besonders auf die Vernetzung von Fabriken setzt, haben die USA mit Amazon, Facebook, Apple, Google und Microsoft bei der Technologie »Business to Consumer« – als der Nutzung von Konsumentendaten fürs Geschäft – die Nase vorne. Europa hat also da besonders harte Regeln, wo es das ausländische Kapital trifft.
In Europa, von dessen freiem Markt das deutsche Kapital am meisten profitiert, erachtet die deutsche Regierung die Gesetzgebung ihrer Partnerländer als bloße nationale Alleingänge und »Kleinstaaterei«. Wo wiederum amerikanisches Kapital überlegen ist, da werden die eigenen Regeln gegen die USA verteidigt – das gilt dann aber nicht als bornierte europäische Spalterei vom Rest der Welt, sondern vielmehr als Zeichen ethischer Prinzipientreue.
Das könnte man zumindest meinen, folgt man Michael Roth: »Unser Weg muss den Menschen in den Mittelpunkt stellen, auf klare ethische Prinzipien, hohe Datenschutz- und Sicherheitsstandards sowie freie Meinungsäußerung bauen und zu mehr demokratischer Teilhabe, Wohlstand und Freiheit beitragen. Damit grenzen wir uns entschieden vom Datenkapitalismus amerikanischer Tech-Giganten und dem chinesischen Modell mit Staatskontrolle und digitaler Repression ab«. Denn nirgendwo steht der Mensch mehr im Mittelpunkt als in Europa, wo Daimler seine Produktion über SAP und nicht über Microsoft organisiert.
Im letzten Jahrzehnt wurde aber nicht nur die Industrie 4.0 um das europäische Projekt der »digitalen Souveränität« ergänzt. Überall auf der Welt unterstützen die Nationen ihr heimisches Kapital in der Konkurrenz um das Wachstum mit entsprechenden Programmen. Zeitgleich zu seinem deutschen Pendant starteten die USA das »industrial Internet«. Unter Trump wurden dann viele US-Bundesstaaten zu riesigen Experimentierfeldern für autonome Fahrzeuge, eine der digitalen Technologien, bei denen die Kapitale mit den meisten Testkilometern auch die besten Chancen haben, künftig den Markt zu beherrschen.
Unter der Regierung Trump nahmen zuletzt die Angriffe auf chinesisches Kapital zu. Gerade im IT-Sektor sei hier an die Offensive der US-Regierung gegen Tik-Tok erinnert. Das Verbot der Plattform, die in den USA einige Millionen Nutzer hat, scheint aktuell vom Tisch zu sein, allerdings nur, weil Trump sich mit dem chinesischen Eigentümer Bytedance darauf »geeinigt« hatte, das US-Geschäft der App einer Firma zu übertragen, die ihren Sitz vermutlich in Texas haben wird.
China ist in den letzten Jahren von der »verlängerter Werkbank« des Westens zu dessen Konkurrenten aufgestiegen. Mit seinem Programm »China 2025« und dessen aktueller Erweiterung von 2020 will das Reich der Mitte ganz nach oben. Durch seine Strategie der »dualen Kreisläufe« will China seinen Binnenmarkt stärken (Kreislauf eins) und seine Zusammenarbeit mit anderen asiatischen Ländern bei der Digitalisierung intensivieren (Kreislauf zwei), um den Handelskrieg gegen die USA zu verstärken.
China verfolgt mit all diesen Maßnahmen dasselbe Ziel wie auch die Europäische Union und die USA: als technologische Führungsmacht den Weltmarkt beherrschen.
So leitet »die Digitalisierung« aus der Fabrik über in den praktischen Imperialismus der Weltmächte. Für beide – Wirtschaft und Politik – sind die Arbeiterinnen und Arbeiter, die da digitalisiert werden, die menschliche Ressource in dieser neusten Auflage der Weltmarktkonkurrenz. Die Thesen haben aufgezeigt, welche schweren Konsequenzen das für sie nach sich zieht. Jetzt liegt es an ihnen, damit Schluss zu machen.
Peter Schadt ist Gewerkschaftssekretär beim DGB in Nordwürttemberg. Seine Promotion »Die Digitalsierung der deutschen Autoindutrie« erschien kürzlich im PapyRossa Verlag.
Hans Zobel ist Historiker und arbeitete in der Erwachsenenbildung.
Hans Zobel ist Historiker und arbeitete in der Erwachsenenbildung.
Peter Schadt ist Gewerkschaftssekretär beim DGB in Stuttgart. Sein Schwerpunkt ist die politische Ökonomie der Digitalisierung, u.a. als Podcast bei 99zuEins.