19. Oktober 2024
Obwohl die Inflation bereits deutlich unter 2 Prozent liegt, senkt die EZB die Leitzinsen nur zögerlich – aus Angst vor einem erneuten Preisanstieg. Dabei spricht im Grunde nichts gegen ein höheres Inflationsziel.
Die Inflation sinkt: Bereits im August dieses Jahres lagen die Preise in Deutschland rund 1,9 Prozent über denen vom Vorjahresmonat. Damit lag die Inflationsrate zum ersten Mal seit März 2021 unter dem Inflationsziel der Europäischen Zentralbank (EZB) von 2 Prozent. Und der Trend hält an. Im September betrug die Inflationsrate im Vergleich zum Vorjahresmonat nur noch 1,6 Prozent. Deshalb gibt die Zentralbank nun langsam Signale zur dritten Zinssenkung in diesem Jahr. Nachdem sie die Leitzinsen im Juni und im September um jeweils 0,25 Prozentpunkte gesenkt haben, steht wohl bald der nächste Zinsschritt bevor. Für die Währungshüter scheint klar: Die Inflation ist vorerst gezähmt.
Doch auch wenn drei Zinssenkungen innerhalb weniger Monate nach einem radikalen Kurswechsel klingen – die Schritte sind klein, und die Zinsen sind immer noch auf einem sehr hohen Niveau verblieben. Daran wird deutlich: Die Angst vor einer erneuten Preissteigerung von über 2 Prozent sitzt tief – tiefer als nötig.
Denn es gibt viele Stimmen, die ein höheres Inflationsziel befürworten. Bereits seit mehr als einem Jahrzehnt fordert der frühere Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds (IWF), Olivier Blanchard, ein Inflationsziel von 3 Prozent. Und auch der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin, Marcel Fratzscher, scheint überzeugt: Die Zentralbank sollte ihr Inflationsziel überdenken.
Weicht die Inflationsrate zu stark von der 2-Prozent-Marke ab – ganz egal in welche Richtung – werden die Ökonominnen und Ökonomen in den Zentralbanken unruhig. Ihr übergeordnetes Ziel ist es, die Preise stabil zu halten. Was genau das aber heißen soll, lässt Spielraum für Interpretationen. Der ehemalige Chef der US-Notenbank Fed, Alan Greenspan, beschrieb diese Preisstabilität als ein Zustand, »in dem die erwartete Preisänderung nicht das Verhalten von Haushaltsentscheidungen verändert«. Konkret bedeutet das: Die Inflation muss nicht besonders niedrig sein, sondern erwartbar.
»Das Problem an einem starren Inflationsziel von 2 Prozent ist vor allem, dass Zentralbanken vieles in Kauf nehmen, um es einzuhalten.«
Dass das Ziel heute aber gerade bei 2 Prozent liegt, entstand aus Willkür und nicht aus mathematischer Gewissheit: In den 1980er Jahren versuchte die neuseeländische Zentralbank, unabhängig von der Regierung zu werden. Also vereinbarten beide Seiten einen Deal: Die neuseeländische Zentralbank wird zwar politisch unabhängig, aber im Gegensatz verpflichtet sie sich dazu, ein Inflationsziel anzupeilen. Schafft die Notenbank es nicht, dieses Ziel einzuhalten, kann die Regierung den Chef der Zentralbank entlassen. So wollte die Regierung zumindest eine indirekte Kontrolle aufrechterhalten.
Für den Deal brauchte es also ein messbares Inflationsziel. Also überlegten die Währungshüter – und entschieden sich für ein Ziel von 1 Prozent. Um jedoch mehr Spielraum zu haben, legten sie sich auf den Bereich zwischen 0 und 2 Prozent fest. In den folgenden Jahrzehnten verbreitete sich das Inflationsziel der Neuseeländer in der Welt – auch in den USA und Europa.
Das Problem an einem starren Inflationsziel von 2 Prozent ist vor allem, dass Zentralbanken vieles in Kauf nehmen, um es einzuhalten. Das hat sich im Verhalten der EZB seit Anfang 2022 gezeigt. Infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine sind die Preise für Rohstoffe rapide gestiegen, und haben so die Inflation massiv angetrieben. Die EZB ließ nicht lange auf sich warten: Sie hat die Leitzinsen zwischen Juli 2022 und September 2023 von 0 auf über 4 Prozent angehoben – die steilste Zinserhöhung in ihrer Geschichte.
In der Folge wurden Kredite deutlich teurer, sowohl für Unternehmen als auch für Verbraucherinnen und Verbraucher. Und das trifft diejenigen am härtesten, die Kredite aufnehmen müssen, um ihre Schulden auszugleichen. Dass Haushalte in der Schuldenfalle landen, hat in den meisten Fällen nichts mit übermäßigem Konsum zu tun. Laut dem Institut für Finanzdienstleistungen ist inzwischen Krankheit die häufigste Ursache für Überschuldung. Lediglich in rund 8 Prozent der Fälle lässt sich eine Überschuldung auf ein problematisches Kaufverhalten zurückführen. Durch die hohen Zinsen treibt die Zentralbank also gerade ärmere Haushalte weiter in die Schuldenfalle.
Dabei hätte die EZB nicht so drastisch reagieren müssen. Bei der Energiekrise im Zuge des russischen Angriffs handelte es sich um einen Angebotsschock – plötzlich fielen Lieferungen von Rohstoffen wie Weizen, Öl und vor allem Gas aus. Die Zinspolitik der EZB kann an solchen Angebotsschocks jedoch wenig ändern, da höhere Zinsen vor allem die Geldmenge und damit die Nachfrage senken. Das reduziert zwar den Preisdruck über die gesamte Wirtschaft, doch die Energiepreise schießen weiterhin durch die Decke. Was sehr wohl eintritt, ist der Nachteil höherer Zinsen: Haushalte und Unternehmen verschieben Konsum und Investitionen. Im Ergebnis sinkt die Auslastung der Wirtschaft und Menschen verlieren ihre Arbeit – seit Juli 2022 ist die Zahl der Arbeitslosen immerhin um rund 300.000 gestiegen.
»Entscheidend ist, ob die Regierung mehr Geld ausgibt.«
Trotzdem gibt es auch im Falle von steigenden Zinsen nicht nur Verlierer. Zum einen sind da diejenigen, die bei der Geldanlage kein Risiko eingehen wollen. Mit Festgeldverträgen erhalten sowohl private als auch institutionelle Anleger risikolos höhere Zinserträge – wobei Letztere durch ihren höheren Kapitaleinsatz ungleich mehr Profit erzielen. Dazu kommen Banken, die an den hohen Leitzinsen mitverdienen. Sie zahlen zwar mehr Geld, wenn sie sich bei der Zentralbank leihen, geben diese Kosten jedoch an Verbraucherinnen und Verbraucher weiter. Gleichzeitig erhalten sie Zinsen für überschüssiges Geld, das sie in Form von Einlagen bei der Zentralbank parken – und geben diese Zinsen nicht proportional an ihre Kundschaft weiter. Laut Bundesbank konnten deutsche Banken dadurch allein 2023 Zinserträge in Höhe von knapp 107 Milliarden Euro einfahren – der höchste Stand seit 25 Jahren.
Würde die Zentralbank an ihrem Inflationsziel von 2 Prozent rütteln und es beispielsweise auf 4 Prozent erhöhen, könnte sie ihre Leitzinsen weiter und vor allem schneller senken. Und das würde nicht zuletzt die Finanzierungsbedingungen für Staaten verbessern. Entscheidend ist dann aber, ob die Regierung mehr Geld ausgibt.
Bereits in Nullzinszeiten vor der Corona-Krise haben Finanzminister wie Wolfgang Schäuble (CDU) oder Olaf Scholz (SPD) die Schuldenbremse mit der Schwarzen Null sogar übererfüllt.Gerade in der Energiekrise wäre eine Investitionsoffensive wichtig gewesen. In Anbetracht der Klimakrise braucht es massive Investitionen in erneuerbare Energieträger und notwendige Speichertechnologien. Dadurch würde sich übrigens eine erneute Gasknappheit weniger auf die Inflation auswirken. Genauso braucht es weitere Investitionen in einen ÖPNV, der mit dem Auto wirklich konkurrieren kann. Von einem Bildungssystem, das dem Standort Deutschland gerecht wird, ganz zu schweigen.
Moritz Kudermann hat Wirtschaft, Geschichte und Politik studiert. Er arbeitet für eine unabhängige Redaktion und schreibt regelmäßig Texte über Wirtschafts- und Finanzthemen.