22. Oktober 2024
Die Ansiedlung des Chip-Herstellers Intel sollte in Magdeburg Arbeitsplätze und Perspektiven schaffen. Nachdem der US-Konzern den Baustopp verkündet hat, liegt das Projekt nun auf Eis. Das zeigt einmal mehr: Anstatt sich von Konzernen abhängig zu machen, braucht es einen ambitionierten regionalen Industrieplan.
Baustopp: Auf der Baustelle der geplanten Intel-Fabrik stehen die Bagger still, 29. September 2024.
Aus der Traum? Der Chip-Konzern Intel verkündete im September 2024, dass der Baustart der zwei Gigafabriken bei Magdeburg um mindestens zwei Jahre nach hinten verschoben wird – Abbruchstimmung statt Aufbruch. Im März 2022 knallten noch die Sektkorken in der Politikerriege des Landtags von Sachsen-Anhalt. Nach langen Hinterzimmergesprächen unter dem Decknamen »Steuben« wurde die frohe Kunde verbreitet: Intel wird in Sachsen-Anhalt unter Aufwendung enormer staatlicher Subventionen von 10 Milliarden Euro zwei Giga-Fabriken bauen. Der feuchte Traum eines ökonomischen Leuchtturmprojekts in einem Bundesland ohne DAX-Unternehmen, dessen prosperierendes Licht eine ganze Region erstrahlen lassen sollte, schien sich nun endlich auch hier zu erfüllen, nachdem andere Landstriche in Ostdeutschland bereits vor Jahren industrielle Zugpferde installierten.
Die geschürten Hoffnungen verblassen nun. Die wirtschaftliche und infrastrukturelle Entwicklung sowie die Schaffung von Arbeitsplätzen wurden in die Hände eines Privatunternehmens gelegt. Dass diese Strategie zu kurzsichtig war und voraussichtlich keinen kapitalbasierten »Quantensprung für Sachsen-Anhalt« bewirken wird, wie CDU-Ministerpräsident Reiner Haseloff einst hoffte, zeigt die gegenwärtige Lage. Über dreißig Jahre nach der sogenannten Wende tauchte wieder einmal ein hoffnungsvoll verkündetes Versprechen von Wohlstand, Wachstum und moderner Industrie im Osten auf, gefolgt von Wertverlust, Enttäuschung und Unsicherheit.
Um die derzeitigen Großprojekte im Osten und ihre Folgen zu verstehen, ist ein analytischer Blick in die Geschichte der deutschen Industriepolitik und die aktuellen globalen Kräfteverhältnisse hilfreich. Bis in die 1960er Jahre waren staatliche Subventionen bestimmter Branchen in der Bundesrepublik gängig und fanden vermehrt in der fordistischen Nachkriegszeit Anwendung. Mit der Krise dieses Akkumulationsregimes zum Ende der 1970er geriet jedoch auch die Industriepolitik in die Kritik. Der daraus hervorgehende neoliberale Kapitalismus setzte fortan auf einen schlanken Staat und die unsichtbare Hand des Marktes. Diese Abwendung von einer aktiven Industriepolitik hielt jedoch auch nicht, was sie versprach. Denn mit der Finanzkrise 2008/09 wurde das neoliberale Regime wieder infrage gestellt, was einen weiteren Gestaltwandel des Kapitalismus nach sich zog. Auf der Suche nach einem neuen Gesicht der kapitalistischen Produktionsweise kam es vermehrt zu einer protektionistischen Industriepolitik. Die Politikwissenschaftler Bieling und Abels sprechen wiederum von einer »staatsinterventionistischen Wende«, die sich seit der Pandemie vollziehe.
»Die Ansiedlungen von Intel bei Magdeburg, von TSMC und Infineon in Dresden und von Tesla im brandenburgischen Grünheide müssen als Mosaiksteine dieser industriepolitischen Strategie verstanden werden.«
Für die Bundesrepublik legte Peter Altmaier mit der »Nationalen Industriestrategie 2030« eine liberale Variante einer solchen Industriepolitik vor. Er konzipierte die Variante für eine exportorientierte Nation, für die eine protektionistische Schließung der Märkte eine suboptimale Option ist und sprach von einem industriepolitischen Gesamtkonzept, womit zukünftige Technologien gefördert werden sollten und deren Konkurrenzfähigkeit hergestellt werden sollte. Eine solche »moderne Industriepolitik«, wie es hieß, wurde vor dem Hintergrund des zunehmenden technologischen Wettbewerbs mit China sowie den Anforderungen einer ökologischen Transformation der Wirtschaft als notwendig erachtet. Nur so könne man im globalen Kräftemessen um die technologische Vorherrschaft gewisser Branchen und Märkte bestehen.
Die Ansiedlungen von Intel bei Magdeburg, von TSMC und Infineon in Dresden als auch von der Giga-Fabrik von Elon Musk im brandenburgischen Grünheide müssen vor diesem Hintergrund als Mosaiksteine dieser industriepolitischen Strategie verstanden werden. Für die Bestrebung, das ehemalige Chip-Schwergewicht Intel nach Magdeburg zu holen, spielt der Standort Ostdeutschland nur eine Nebenrolle. Primär geht es darum, zunehmend infrage gestellte globale Lieferketten anhand von vermeintlich »geteilten Werten« neu zu strukturieren. Die Intel-Ansiedlung in Deutschland zielt auf eine »technologische Souveränität« und eine Unabhängigkeit von fernöstlichen Märkten. Das technologische Ringen um die Chip-Produktion findet nach der »Chip-Krise« während der Pandemie auch in den spezifischen Förderprogrammen des »European Chips Act« in Europa, dem »Chips and Science Act« in den USA und dem Chip-Fonds in China seinen Ausdruck. »Denn ohne Chips kein digitales Produkt«, wie Habeck es formulierte. Es ist ein globaler Kampf um die Standorte der Halbleiterindustrie, der sich auch im geopolitischen Ringen um Taiwan – dem wohl bedeutendsten Produktionsstandort von Halbleitern – manifestiert.
Die Ansiedlungen der Global Player gerade im Osten sind nicht nur ein Teil der Kampffelder des Weltmarktes, sondern es entstehen damit zugleich auch regionale Arenen, auf denen verschiedene Konfliktlinien aufeinandertreffen. Wer inwiefern von diesen industriepolitischen Projekten profitiert, wird nicht nur davon abhängig sein, wie sich der globale Wettbewerb entwickelt, sondern auch, wie sich die verschiedenen regionalen Kräfteverhältnisse gestalten. So lässt sich vermuten, dass die nach wie vor fragmentierte Tariflandschaft im Osten der Kapitalseite die Möglichkeit verschafft, weiterhin geringere Löhne als an West-Standorten zu zahlen. Zugleich bietet jedoch auch der Fachkräftemangel im Osten den Beschäftigten eine gewisse Marktmacht, wodurch gut bezahlte Arbeitsplätze bei Unternehmen wie Intel Druck auf die ortsüblichen Löhne ausüben könnte. Solche Effekte sind jedoch nicht nur ausschließlich von einzelnen Unternehmen abhängig, sondern auch davon, welchen Organisationsgrad die Gewerkschaften vorweisen und welche politischen Rahmenbedingungen geschaffen werden. Was der Osten braucht, ist eine progressive Industriepolitik, die die gesellschaftlichen Verhältnisse und die Geschichte dieser Region berücksichtigt.
»Es sind keine vertraglichen Sicherheiten wie eine Tarifbindung der Unternehmen bekannt, die an die enorme Subventionierung gebunden sind.«
Im Fall der Intel-Niederlassung bei Magdeburg wurden, bevor der erste Grundstein gelegt wurde, die gut bezahlten Löhne sowie die kommunalen Steuereinnahmen betont. Beides sind jedoch keine Selbstläufer. Sollte Intel noch nach Magdeburg kommen, werden die 3.000 direkt beim Chip-Hersteller angestellten Beschäftigten sicherlich einen überdurchschnittlichen regionalen Lohn erhalten, was jedoch auch im Billiglohnland Sachsen-Anhalt nicht schwer ist. Doch was ist mit den Zulieferern und den anderen Beschäftigten? Es sind keine vertraglichen Sicherheiten wie eine Tarifbindung der Unternehmen bekannt, die an die enorme Subventionierung gebunden sind. Ebenfalls unklar bleibt, inwiefern in der Region überhaupt von den Unternehmen Steuern gezahlt werden. Denn die einstige Deindustrialisierung in der Postwendezeit hinterließ Narben in den Regionen, die bis heute nicht verheilt sind – trotz der Großansiedlungen bleibt der Osten Deutschlands wirtschaftsstrukturell zumeist eine verlängerte Werkbank. Gerade diese ostdeutsche Wirtschaftsstruktur mit vielen Zweigstellen – Stichwort: Filialökonomie – hat zur Folge, dass die Gewinne an die Hauptsitze abfließen und dort dann etwa Gewerbesteuer gezahlt wird. Hinzu kommt außerdem die Entwicklung der Lebenshaltungskosten zum Beispiel beim Thema Wohnen. Bereits nach der Bekanntgabe der Ansiedlung Intels stiegen die Bodenpreise in der Region Magdeburg, was ebenfalls als eine Umverteilung von Arbeit zu Kapital verstanden werden muss.
»Wir brauchen gerade im Osten eine Industriepolitik, die aktiv dafür sorgt, dass kommunale Haushalte von den Gewinnen profitieren und Reinvestitionen in die Region verpflichtend werden.«
Eine progressive Industriepolitik sollte sich demgegenüber nicht nur darauf fokussieren, Unternehmen im Osten anzusiedeln, sondern diese Subventionen an spezifische Bedingungen knüpfen. Im Fall Intel und TSMC übernimmt etwa der Staat durch die Subventionen die Risiken von Privatunternehmen, ohne sich dabei soziale und ökologische Sicherheiten oder demokratische Mitbestimmung als minimalste Bedingungen einzufordern. Im Fall Tesla dagegen fließen zwar keine Subventionen, jedoch wurden auch hier keine spezifischen Bedingungen wie betriebliche Mitbestimmung oder Tarifbindung gestellt. Doch wir brauchen gerade im Osten eine Industriepolitik, die aktiv dafür sorgt, dass kommunale Haushalte von den Gewinnen profitieren und Reinvestitionen in die Region verpflichtend werden. Die so verfügbaren Gelder könnten mit entsprechenden Kräfteverhältnissen auch dafür genutzt werden, die Eigentumsfrage zu stellen und selbstverwaltete Betriebe, Kooperativen und andere alternative Wirtschaftsformen im Osten aktiv zu unterstützen.
Doch es lässt sich auch eine demokratische Konfliktlinie bei diesen Großprojekten erkennen. Allen industriepolitischen Ansiedlungen im Osten ist gemein, dass sie politische Top-Down-Entscheidungen darstellen, ohne eine regionale und zivilgesellschaftliche Beteiligung. Gerade im Osten kann dies jedoch das Gefühl der politischen Deprivation verstärken. In einem Forschungsprojekt mit dem Titel »Konflikte in der Planung: Großprojekte und ihr Potenzial zum institutionellen Wandel« des Leibnitz-Instituts für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) wird am Beispiel der Tesla-Ansiedlung im brandenburgischen Grünheide erforscht, welche politischen Folgen die beschleunigte Implementierung solcher Infrastrukturprojekte haben kann. Bisher konnten die Forschenden herausarbeiten, dass sich diese beschleunigten Verfahren negativ auf die demokratische Kultur auswirken können, weil die Erwartungen an die demokratische Debatte enttäuscht werden. Gerade für den Osten kann das zur Herausforderung werden. Dies zeigt sich beispielsweise auch im Hinblick auf ökologische Fragen. Sowohl bei Intel, TSMC als auch bei Tesla regt sich fortlaufend Kritik aus der Bevölkerung über den Wasserverbrauch für die Produktion und die Sorge um die regionalen Auswirkungen. So wurden auch gegen den Bau der Intel-Fabrik bei Magdeburg mehrere Einwände von Personen, Verbänden und Vereinen aus Sorge um ökologische Themen wie Wasserverbrauch und Artenschutz eingereicht.
»Der Rechtsruck ist auch das Ergebnis von fehlender Mitbestimmung in der Arbeits- und Lebenswelt sowie dem Gefühl des Abgehängt-Seins. Das Scheitern der Intel-Ansiedlung in Magdeburg wird bereits dankbar von den Rechtspopulisten aufgegriffen.«
Eine progressive Industriepolitik braucht gerade im Osten keine riskanten Großprojekte, bei denen alles auf eine Karte gesetzt wird, deren Ausgang ungewiss und kaum planbar ist, von denen jedoch ein großer Teil der wirtschaftlichen Entwicklung der Region abhängig gemacht wird. Stattdessen braucht es eine solide Planung, Garantien, dass nicht nur Aktionäre profitieren, sondern auch die Kommunen und das Gemeinwohl. Transparenz und eine demokratische Beteiligung der Bevölkerung sind hierbei Must-Haves einer progressiven Industriepolitik. Das bedeutet einerseits, dass nicht nur die dort Beschäftigten arbeitsweltlich mitbestimmen dürfen, sondern auch die ansässige Bevölkerung die Industriepolitik mitgestalten kann.
Eine solche Politik wäre gerade für den Osten eine demokratische Chance. Denn der derzeit kulminierende Rechtsruck ist auch das Ergebnis von fehlender Mitbestimmung in der Arbeits- und Lebenswelt sowie dem Gefühl des Abgehängt-Seins. Das vorübergehende Scheitern der Intel-Ansiedlung in Magdeburg wird bereits dankbar von den Rechtspopulisten aufgegriffen. Diese proklamieren darin ein Versagen der Ampel-Regierung und inszenieren sich nun mit der Forderung nach einem Untersuchungsausschuss als die Anwälte der deutschen Steuerzahlungen und Steuerzahler und der »einheimischen Industrie«. Die Frage ist daher nicht, ob eine progressive Industriepolitik notwendig ist, sondern wie sie gestaltet wird. Einen konkreten Vorschlag für eine solche Politik unterbreitete jüngst der Soziologe Vivek Chibber, der für die USA vorschlug, eine Agentur zu gründen, die sich paritätisch aus Kapital und Arbeit zusammensetzt und die Industriepolitik gestaltet. Vielleicht wäre eine solche Agentur – regional und überregional sowie klassenübergreifend zusammengesetzt – eine politische Institution, die im Osten eine Politik der Vielen und nicht der Wenigen möglich machen könnte.
Christopher Grobys ist Sozialwissenschaftler und beim Sozialkombinat Ost! aktiv.
Lena Müller ist beim Sozialkombinat Ost! aktiv.