26. Juli 2025
Schon in den 1980ern war Deutschland bereit für Glasfaser – doch Helmut Kohl stoppte den Fortschritt, um gegen den »Rotfunk« die kulturelle Hegemonie wiederherzustellen. Der bis heute andauernde Digitalrückstand ist das Erbe dieses konservativen Kulturkampfs.
Die Internetseite von Altkanzler Helmut Kohl, 10. Februar 2004.
Die Bundesregierung hat ein Digitalministerium eingerichtet, das sich auch um die »Digitale Infrastruktur«kümmern will und soll. Im Koalitionsvertrag wurde dazu ein flächendeckender Glasfaserausbau »bis in jede (Miet)Wohnung« verkündet. Gehört also bald das langsame Internet in vielen ländlichen Gebieten der Vergangenheit an? Können dann alle Menschen in diesem Land eine moderne digitale Infrastruktur auf Glasfaserbasis nutzen? Das ist zu bezweifeln, denn gleichzeitig betonen die Koalitionäre, es gelte »Markt vor Staat«, derselbe Markt, der wegen zu geringer Profitmargen den ländlichen Raum beim bisherigen Ausbau ignoriert hat. Auf seinem Internetauftritt behauptet das neue Digitalministerium, es sei »kein Selbstzweck, sondern die Chance, die Transformation zu einem modernen, effizienten und digital handlungsfähigen Staat voranzutreiben«. Vor allem aber wolle man »Vertrauen zurückgewinnen«.
Aber wer hat dieses Vertrauen eigentlich wann verspielt? Die Antwort mag überraschen: Helmut Kohl. Als er im Oktober 1982 Bundeskanzler wurde, stoppte er die Planungen der sozialliberalen Vorgängerregierung, perspektivisch das gesamte Telefonnetz des Landes auf Glasfaser umzustellen. Weil auch eine Regierung ihr Geld immer nur einmal ausgeben kann, widmete Kohl die Investitionsmilliarden der Deutschen Bundespost um und ließ stattdessen umgehend technologisch veraltete Koaxial-Kupferkabel verbuddeln, als technische Voraussetzung für die Einführung des Privatfernsehens. Kurz gesagt: Helmut Kohl 1982 verzichtete auf die Einführung einer damals bereits anerkannten, aber noch in den Kinderschuhen steckenden Zukunftstechnologie.
Die Folgen spüren wir bis heute. Der Zugriff auf Breitbanddatenübertragung mittels Glasfaser lag 2024 im EU-Durchschnitt bei fast 70 Prozent, in Deutschland dagegen unter 40 Prozent und noch 2021 sogar bei gerade einmal knapp über 15 Prozent.
Bevor Helmut Kohl im Oktober 1982 durch ein konstruktives Misstrauensvotum den damaligen Bundeskanzler Helmut Schmidt ablöste, hatte die SPD zusammen mit der FDP in einer sozial-liberalen Koalition regiert. Verantwortlich für alle Medien im Land war der technikaffine, sozialdemokratische Postminister Kurt Gscheidle, zuvor Fernmelder, Post-Gewerkschafter und Kommunistenhasser. Im April 1981 legte Gscheidle dem Bundeskabinett einen Plan vor, um ein integriertes Breitbandglasfasernetz aufzubauen, mit dem die Individualkommunikation verbessert und zukunftssicher gemacht werden sollte. An dieses Netz sollten alle (!) Haushalte in der Bundesrepublik angeschlossen werden. Die Bauausführung sollte die Deutsche Bundespost übernehmen, in Zusammenarbeit mit der deutschen Elektroindustrie.
Gscheidle war zuversichtlich, dass in einer Pilotphase alle technischen Vorraussetzungen geklärt und dann ab 1985 zügig mit dem Aufbau begonnen werden könne. Über einen Zeitraum von dreißig Jahren sollte dann jährlich ein Dreißigstel der (alten) Bundesrepublik komplett mit Glasfaser ausgestattet werden. Ein ambitionierter, aber durchaus realistischer Plan, für den der Postminister einen Investitionsbedarf 3Milliarden DM pro Jahr kalkulierte – es wäre wahrscheinlich teurer geworden.
Die Glasfaser-Pilotprojekte, mit denen die sozialdemokratische Regierung ihre Zukunftsvision unterfütterte, hießen BIGFON und BIGFERN und hatten ein Investitionsvolumen von 150 Millionen DM. Mit BIGFON (Breitbandiges Integriertes Glasfaser-Fernmelde-Orts-Netz) sollte in mehreren deutschen Großstädten die gleichzeitige digitale Übertragung von Telefongesprächen, BTX, Telefax, Telex, Bildtelefonie und Computerdaten erprobt werden. Technisch waren in begrenzter Kapazität weitere Datenübertragungsdienste möglich, etwa Radio- und Fernsehsignale. BIGFERN stellte ergänzend eine Glasfaserfernverbindung zwischen den Pilotprojekten in Hamburg und Hannover her.
»Im ›Meinungskartell der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten‹ sahen große Teile der CDU die Ursache für einen teilweisen Verlust der kulturellen Hegemonie, der bei der Bundestagswahl 1976 für Kohls überraschende Niederlage gegen Helmut Schmidt geführt hatte.«
In der alten Bundesrepublik waren solche Pilotprojekte für die Staatsbetriebe Bundespost und Bundesbahn üblich. Die Staatsbetriebe bezahlten und testeten damit Technikmuster der deutschen Industrie, identifizierten Probleme und ließen diese beseitigen, um nach Ablauf des Piloten der (deutschen) Industrie Großaufträge zu erteilen, die dann ein optimiertes Produkt massenhaft für Post oder Bahn herstellten. Mittels Quoten wurden dabei auch diejenigen Firmen bedacht, deren Muster nicht ausgewählt worden war.
Gegenüber der Zeitschrift Computerwoche erklärte Gscheidle: »Noch besteht die Chance, daß die Bundesrepublik auf dem Gebiet der optischen Nachrichtentechnik – und wir sprechen damit über das Kommunikationssystem der vielleicht nächsten fünf Jahrzehnte – weltweit als konkurrenzfähiger Partner angesehen wird; allerdings ist sie verbunden mit der Herausforderung, gewaltige Anstrengungen auf sich nehmen und nicht unbeträchtliche Risiken eingehen zu müssen. Risiken insofern, als mit Bezug auf die Zeitvorstellungen eine wünschenswerte internationale Normierung kurzfristig gegebenenfalls nicht erreichbar ist und somit spätere Umentwicklungen unter Weltmarktaspekten nicht auszuschließen sind.«
Die Aussage klang damals durchaus plausibel, war doch das heute noch angewandte opto-elektronische Glasfaser-Übertragungsverfahren in Deutschland erst Mitte der 1960er Jahre entwickelt worden. Der Physiker und AEG-Telefunken-Mitarbeiter Manfred Börner hielt seit 1968 das Patent darauf. Mit ihrem Glasfaserprojekt hätte die Bundesregierung unter Helmut Schmidt also eine wirkliche Zukunftsinvestition anstoßen können und aus dem Postministerium das erste Digitalministerium gemacht.
Seit dem 4. Oktober 1982 aber hieß der Bundeskanzler Helmut Kohl und sein Postminister Christian Schwarz-Schilling. Kohls erste Regierungserklärung am 13. Oktober 1982 klingt wie Hohn: Seine Regierung wolle »den Weg freigeben für die Anwendung moderner Techniken und die Entwicklung neuer Technologien, vor allem im Kommunikationswesen«. Glasfaser meinte er nicht damit.
Zwar konnten die bereits gestarteten Pilotprojekte noch erfolgreich beendet werden, doch danach kam – nichts mehr. Stattdessen wurde die Entwicklung dieser neuen digitalen Technologie vernachlässigt und eine veraltete analoge Technologie angewendet: Breitbandverkabelung mittels kupferbasierter Koaxialkabel. Zwar hätte das geplante Glasfasernetz die Übertragung von Fernsehen zusätzlich leisten können – »gleichsam nebenbei«, wie der Spiegel schon im Oktober 1982 feststellte. Es sei »aber erst um 1985 einsatzbereit«, nach Erprobung und Festlegung von Standards und Übertragungsprotokollen. Da der neuen schwarz-gelben Regierung aber eine sofortige Verfügbarkeit wichtig war, wurden eben Kupferkabel für den Radio- und Fernsehempfang verlegt.
Aber warum wollte Kohl nicht warten? Dahinter stand das Kalkül, mit einer zügigen Einführung eines privatwirtschaftlichen Fernsehens den gesellschaftlichen Einfluss des sogenannten »Rotfunks« zu verringern. Mit diesem politischen Kampfbegriff – der heute wieder bei der extremen politischen Rechten hoch im Kurs steht – wurden seit den 1970er Jahren die angeblich linkslastigen Landesrundfunkanstalteninnerhalb der ARD geschmäht, zuvorderst der Westdeutsche Rundfunk. Besonders verärgerten die Unionsparteien die kritischen ARD-Politikmagazine, wie Panorama vom NDR und Monitor vom WDR.
Im »Meinungskartell der öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten« sahen große Teile der CDU die Ursache für einen teilweisen Verlust der kulturellen Hegemonie, der bei der Bundestagswahl 1976 für Kohls überraschende Niederlage gegen Helmut Schmidt geführt hatte.
Wenn es also nicht möglich war, eine Landesrundfunkanstalt so an die Kandare zu legen, wie es der CSU mit dem Bayerischen Rundfunk gelungen war, musste den öffentlichen-rechtlichen Fernsehsendern eine private, konservativ ausgerichtete Konkurrenz entgegen gestellt werden. Da traf es sich gut, dass die mehrheitlich eher rechts eingestellten deutschen Zeitungsverleger gerne in die Fernsehbranche expandierenwollten und hierin auch von CDU/CSU und FDP unterstützt wurden.
»Es klingt wie ein schlechter Witz, dass heute ein CDU-Minister unter einem CDU-Kanzler einen Digitalisierungsrückstand beseitigen soll, den vor vier Jahrzehnten Helmut Kohl und sein CDU-Postminister überhaupt erst verschuldet haben.«
Das war rechtlich aber erst seit 1981 möglich, nachdem das Bundesverfassungsgericht den Privatrundfunk in einem Urteil für grundsätzlich zulässig erklärte, aber auf einer gesetzlichen Grundlage, die die Meinungsvielfalt sichert. Da die bis dahin existierenden Rundfunkfrequenzen alle belegt waren, benötigte das Privatfernsehen ein anderes Übertragungsmedium, etwa ein Breitbandkabelnetz.
Also ließ Kohl seinen Postminister Kupferkabel vergraben. Dafür erhöhte Schwarz-Schilling umgehend den Budgetposten der Bundespost für Verkabelung auf 1 Milliarde DM. Bereits Mitte 1984 monierte der Bundesrechnungshof dass die Kosten völlig aus dem Ruder laufen würden: Anstelle der veranschlagten13,5 Milliarden DM beliefen sie sich auf 21,3 Milliarden DM – wohlgemerkt, für eine veraltete, weil analoge Technologie
Zuerst wurden bis 1984 2.600 Haushalte in Kohls Heimatstadt Ludwigshafen an ein kupfernes Kabelnetz angeschlossen, wo ab dem 1. Januar PKS (seit 1985 Sat 1) als erster Privatsender seine Fernsehsendungen ausstrahlen konnte. An diesem Sender waren die deutschen Zeitungsverleger und – über eine verdeckte Beteiligung – der Medienunternehmer Leo Kirch beteiligt, ein Freund von Helmut Kohl. Es folgten »Kabelinseln« in München, Dortmund und West-Berlin. In den folgenden Jahren – besonders durch den boomenden TV-Empfang über Satellit – bildeten sich zwei Medienkonzerne im Fernsehbereich heraus, die Kirch-Gruppe (unter anderem mit Sat 1 und Pro 7) und die Bertelsmann-Gruppe (mit den RTL-Sendern). Beide waren politisch eher dem konservativen Lager zuzuordnen. Gerade deshalb genossen sie die Unterstützung der Unionsparteien, wie eine Mitteilung von Edmund Stoiber an Franz-Josef-Strauß aus dem Jahr 1988 zeigt: »Unsere Politik bezüglich RTL war darauf ausgerichtet, eine Anbindung von RTL an das konservative Lager zu sichern beziehungsweise ein Abgleiten von RTL nach links zu verhindern.«
Dass diese Unterstützung bis heute auch in die andere Richtung funktioniert, können wir tagtäglich an der politischen Ausrichtung der Privat-Fernsehprogramme sehen. Für Helmut Kohl zahlte sie sich auch pekuniär aus. Im Jahr 1999 schlossen Kirch und Kohl einen »Beratervertrag«, die dem Ex-Bundeskanzler Kohl bis Frühjahr 2002 eine Zahlung von 600.000 DM jährlich in zwölf gleichen Raten garantierte – ohne eine festgeschriebene Mindestleistung.
Es klingt wie ein schlechter Witz, dass heute ein CDU-Minister unter einem CDU-Kanzler einen Digitalisierungsrückstand beseitigen soll, den vor vier Jahrzehnten Helmut Kohl und sein CDU-Postminister überhaupt erst verschuldet haben. Dabei ist die Erfolglosigkeit vorprogrammiert, denn der neue Digitalisierungsminister setzt dafür wieder einmal auf ein altes, ungeeignetes Instrument, »den Markt«.
Günter Regneri verdient derzeit seinen Lebensunterhalt als Lokführer einer Werkbahn. Für diese fährt er Güterzüge durch die Lausitz. Der studierte Historiker hat ein neunzig Jahre altes Manuskript von Max Beer redigiert und im Brumaire Verlag als Handlexikon sozialistischer Persönlichkeiten 1932 herausgegeben. Er ist Mitglied einer DGB-Gewerkschaft.