13. Oktober 2020
Trotz aller Kritik bleibt die Macht von Tech-Giganten wie Google, Facebook oder Amazon ungebrochen. Wir brauchen keine Reformen, sondern einen Gegenentwurf: ein demokratisches und freies Internet.
Schnelles Netz für alle? Dafür sollte die Infrastruktur des Internets einen Teil der staatlichen Daseinsvorsorge bilden.
Wie geht man am besten mit Google, Facebook und Amazon um? Bislang hat die sozialistische Linke eher selten eine Antwort auf diese Frage geliefert. In den USA wird die Debatte um die Regulierung von Online-Plattformen von liberalen Anti-Monopol- und Kartellrechts-Organisationen wie dem Open Markets Institute dominiert.
Diese Verbände habe einige gute Vorschläge und sind gewillt, mächtigen Konzernen die Stirn zu bieten. Doch sie stehen in der Tradition eines reformorientierten Ansatzes, wie er etwa von US-Verfassungsrichter Louis Brandeis – dem Begründer der modernen liberalen Denkschule im US-Wettbewerbsrecht – vertreten wurde. Politisch schlagen sie einen weniger konsolidierten Kapitalismus vor: mehr Wettbewerb auf den Märkten, kleinere Firmen und eine breitere Streuung des Vermögens. Weiter gehen ihre Vorschläge nicht.
Für alle, die sich ambitioniertere politische Ziele jenseits des Kapitalismus gesteckt haben, kann dieser Ansatz nicht zufriedenstellend sein. Bestimmte Werkzeuge der Wettbewerbsregulierung können sicher dazu beitragen, die Macht der großen Technologiefirmen einzuschränken und ein gewisses Maß an demokratischer Kontrolle über unsere digitale Infrastruktur zurückzugewinnen. Doch das Kartellrecht zielt letztlich darauf ab, dafür zu sorgen, dass Märkte besser funktionieren. Eine linke Digitalpolitik sollte hingegen darauf hinarbeiten, dass Märkte unser Leben und Überleben weniger stark bestimmen.
Ein solcher Ansatz wird üblicherweise als Dekommodifizierung bezeichnet und ist eng verwoben mit einem weiteren Kernprinzip linker Technologiepolitik: der Demokratisierung. Kontinuierliche Kapitalanhäufung treibt den Kapitalismus an und diese verlangt, dass so viele Dinge und Aktivitäten zu Waren gemacht werden wie nur irgendwie möglich. Dekommodifizierung versucht, diesen Prozess umzukehren, indem die Bereitstellung bestimmter Waren und Dienstleistungen dem Markt wieder entzogen wird.
Erstens wird dadurch gesichert, dass alle Menschen mit den materiellen und immateriellen Ressourcen versorgt werden, die sie benötigen, um zu überleben und sich zu entfalten. Der Zugang zu diesen Ressourcen wird dabei nicht durch den Markt geregelt, sondern als universell gültiges Recht betrachtet. Man bekommt, was man braucht, nicht nur das, was man sich leisten kann. Zweitens wird so sichergestellt, dass jede Person an den Entscheidungen, die sie persönlich betreffen, auch teilhaben kann. Wenn bestimmte Aspekte des Lebens dem Markt entzogen werden, können wir neue Wege finden, um die entsprechenden Ressourcen zu verteilen.
Diese Prinzipien bilden einen nützlichen Ausgangspunkt für eine linke Digitalpolitik. Doch sie sind ziemlich abstrakt. Wie könnten Dekommodifizierung und Demokratisierung in der Praxis also aussehen?
Ein Aspekt des Internets ist der tatsächliche Datentransfer von einem Ort zum anderen. Dieser wird durch eine beachtliche Menge an physischer Infrastruktur sichergestellt: Glasfaserkabel, Switches und Router, Internetknoten und so weiter. Um diese Dinge kümmern sich zahlreiche kleine und (vor allem) große Firmen von Providern, angefangen bei denen, die DSL- oder Glasfaseranschluss für Privathaushalte anbieten bis hin zu sogenannten »Backbone Providern«, die sich um die Hauptverbindungsstrecken des Netzes kümmern.
Diese gesamte Infrastruktur gehört in die öffentliche Hand. Denkbar wäre hier etwa ein Modell bei dem die Städte und Gemeinden die lokalen Netze betreiben und eine nationale öffentlich-rechtliche Instanz das Backbone-Netz übernimmt.
Das physische Netz sollte einfach als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge betrachtet werden, da es in seinem Grundaufbau nach ähnlichen Prinzipien funktioniert wie die Gas- und Wasserversorgung. Diesen Aspekt habe ich bereits in einem anderen Artikel besprochen, in dem ich die Netzpolitik der britischen Labour Party vorgestellt habe, die ein kostenlos zugängliches Breitbandnetz für ganz Großbritannien vorsieht. Diese Forderung ist beliebt, und noch besser, ihre Umsetzung würde auch gut funktionieren.
Netzwerke in öffentlicher Hand können besseren Service zu geringeren Kosten liefern. Auch können sie andere gesellschaftliche Ziele, wie die Versorgung von armen und ländlichen Gegenden sicherstellen. An dieser Stelle sei auf die Fallstudie von Evan Malmgren verwiesen, die den Erfolg von kommunalen Breitbandnetzen in den USA darlegt.
Die sogenannten Plattform-Unternehmen basieren auf der physischen Netzinfrastruktur. In diesen Unternehmen konzentriert sich die eigentliche Macht im Internet, und auf sie ist auch ein Großteil der öffentlichen Aufmerksamkeit gerichtet. Auch ergeben sich hier die schwierigsten Problemstellungen, wenn wir ihre Dekommodifizierung und Demokratisierung ins Auge fassen wollen.
Das Problem beginnt schon beim Begriff der »Plattform«. Kaum eine Metapher, die herangezogen wird, um diese Unternehmen zu beschreiben, mag perfekt sein, aber es ist an der Zeit, uns von der Metapher der Plattform endgültig zu verabschieden. Nicht nur spielt sie den Anbietern in die Hände – denn wie Tarleton Gillespie argumentiert, verleiht sie einem Anbieter wie Facebook den Anschein, offen, transparent und neutral zu sein –, sie ist zudem auch noch unpräzise. Es gibt keine genauen Kriterien, die festlegen, was genau eine »Plattform« eigentlich ist. Niemand weiß, was mit »Plattformen« geschehen sollte, denn »Plattformen« an sich gibt es nicht.
Bevor wir für diesen Aspekt eine linke Netzpolitik entwerfen können, müssen wir eine bessere Taxonomie der Dinge entwickeln, die dekommodifiziert und demokratisiert werden sollen. Beginnen wir damit, einige der Dienste, die gegenwärtig als »Plattformen« bezeichnet werden, etwas genauer unter die Lupe zu nehmen, und ihre wesentlichen Unterscheidungsmerkmale herauszuarbeiten.
In einigen Fällen liegt es klar auf der Hand: Die monatliche Zahl der aktiven Benutzer auf Facebook, der Google-Produktpalette und Amazon Web Services (AWS) lassen sich ohne Schwierigkeiten ermitteln.
Doch wie sollte man diese Frage bei Diensten wie Uber oder Instacart beantworten, wo einerseits Beschäftigte (wir Fahrerinnen und Einkäufer), andererseits aber auch Kundinnen ein Benutzerkonto haben? Beide Gruppen zählen offensichtlich zur Benutzerinnenzahl, allerdings nutzen sie einen anderen Teil des jeweiligen Dienstes. Also sollten auch beide Gruppen in die Gesamtnutzerinnenzahl miteinfließen.
Und wie verhält es sich mit Diensten, die statt Benutzerinnen eher »Ziele« haben? Ein Beispiel hierfür ist die Polizeiplattform Axon, die es Polizeibehörden erlaubt, verschiedene Geräte wie Body-Cams, Taser, Kameras in Fahrzeugen und digitale Beweisverwaltungssysteme sowie Apps zentral in einem Portal auf dem Smartphone zu verwalten. Die Benutzer dieser Plattform sind Polizeibeamte. Ihre Ziele hingegen sind Individuen, deren persönliche Daten aufgenommen und verarbeitet werden. Sollten die Zielpersonen in die allgemeinen Benutzerinnenzahl gerechnet werden, obwohl sie keine registrierten Benutzerinnen im engeren Sinne sind? Wenn es um die Gesamtwirkung eines digitalen Dienstes geht, dann ja.
Werbedienste wie Google und Facebook sammeln persönliche Daten und verdienen Geld damit, individuell zugeschnittene Werbeanzeigen zu verkaufen.
Cloud-Dienste wie AWS und Salesforce verkaufen verschiedene Produkte »as a service«, das heißt als Mietmodell an Firmenkunden, von der physischen IT-Infrastruktur und digitalen Plattformen bis hin zum sogenannten Customer Relationship Management (kurz: CRM, Kundenbeziehungsmanagement).
Industriedienstleister wie Predix spezialisieren sich auf industrielle Anwendungen wie der Ausstattung von Fabriken mit dem Internet der Dinge und der Auswertung der resultierenden Daten zur Effizienzsteigerung.
Dann wären noch die Produktdienstleistungen zu nennen, wie sie etwa von Rolls Royce oder Spotify angeboten werden. Rolls Royce vermietet mittlerweile seine Flugzeugturbinen anstatt sie zu verkaufen. Dadurch können sie per Betriebsstunde abbezahlt werden, statt vorab gekauft werden zu müssen. Ferner setzt die Firma auf Sensoren und Datenanalyse, um die Wartung zu optimieren. Spotify macht aus Alben Streams und verdient damit Geld an Abonnements. Produkte werden hier also in Dienstleistungen verwandelt.
»Schlanke« Dienste wie Uber oder Airbnb stellen den Kontakt zwischen Anbieterinnen und Käufern her, während sie ihren eigenen Besitz an Wirtschaftsgütern minimieren. Dennoch stellen sie nicht nur eine einfache Zuordnung her: Dienste der Gig-Economy, wie Uber, sind ebenfalls bemüht, ihre Beschäftigten algorithmisch zu verwalten und zu disziplinieren.
Man könnte weitere Plattformtypen postulieren. Auch habe ich meine Schwierigkeiten mit einigen von Srniceks Klassifizierungen – gehören Uber und Airbnb wirklich zur selben Kategorie? Doch wenn wir Dienste nach Funktion unterscheiden wollen, so ist dieses Schema ein guter Ausgangspunkt.
Übertragungsmacht beschreibt »die Fähigkeit eines Unternehmens, den Fluss von Daten und Waren zu kontrollieren«. Als Beispiel nennt Rahman die riesige Logistikinfrastruktur von Amazon, die sowohl »die Adern des Handels« als auch »die Kanäle der Datenübertragung« kontrolliert. Dem sind noch AWS und weitere große Cloud-Provider hinzuzufügen. Dienste wie AWS S3 sind für den Datenfluss im modernen Internet essenziell.
Zugangsmacht liegt vor, wenn ein Unternehmen »den Zugang zu einer ansonsten dezentralen und diffusen Landschaft« kontrolliert. Als Beispiel werden der Newsfeed von Facebook oder die Suchmaschine von Google genannt, da sie den Zugriff zum sonstigen Internet gestalten. Ort der Machtausübung ist hierbei der Zugangspunkt, nicht die gesamte Übertragungsinfrastruktur.
Bewertungsmacht wird »von Bewertungssystemen, Indizes und Vergleichsdatenbanken« ausgeübt. Dies umfasst automatische Systeme, die etwa die Bewerbungsunterlagen von Jobanwärterinnen evaluieren oder solche, die Strafmaße oder Entscheidungen über Kautionsfestsetzungen beeinflussen.
Wir könnten unsere Taxonomie noch viel weiter verfeinern. Doch belassen wir es vorläufig dabei und wenden wir uns der ursprünglichen Fragestellung zu, wie man unsere digitale Infrastruktur dekommodifizieren und demokratisieren könnte. Angesichts der Tatsache, dass wir es hierbei mit einem breiten Spektrum an Dienstleistungen zu tun haben, müssen eine Reihe verschiedener Methoden auf dieses Problem angewendet werden. Zweck der hier nur grob angerissenen Taxonomie ist es, potenzielle Vorgehensweisen für die verschiedenen Dienste im Internet zu identifizieren.
Diese Überlegungen stehen hinter dem Ansatz, den Jason Prado in der Ausgabe »Taxonomizing Platforms to Scale Regulation« seines Newsletters Venture Commune zu diesem Thema aufstellt. Prado argumentiert hier, dass wir Dienste nach der Anzahl ihrer Benutzerinnen differenzieren und ihnen unterschiedliche gesetzliche Auflagen machen sollten. Bei bis zu fünf Million Nutzerinnen sollten nur »grundlegende Regeln des Datenschutzes« gelten. Ab zwanzig bis fünfzig Millionen Nutzern sollten Dienste dazu gezwungen werden, Transparenzberichte zu veröffentlichen, in welchen sie offenlegen, welche Daten sie sammeln und wie sie diese verwenden. Ab hundert Millionen Benutzerinnen ist ein Online-Dienst »vom Staat nicht mehr unterscheidbar« und sollte deshalb der demokratischen Kontrolle unterworfen werden, etwa durch einen Verwaltungsrat, in dem die Besitzerinnen, gewählte Politikerinnen, die Belegschaft sowie die Benutzerinnen repräsentiert sind.
Prinzipiell kann ich diesem Ansatz viel abgewinnen, würde ihn allerdings noch ausweiten. Die Größe eines Dienstes allein ist nicht das einzig entscheidende Kriterium. Die Funktionsweise eines Dienstes und die Möglichkeiten der Machtausübung, die sich hieraus ergeben, sind ebenfalls wichtige Merkmale. Wir könnten diese verschiedenen Aspekte in einem dreidimensionalen Koordinatensystem repräsentieren und den jeweiligen Online-Dienst entsprechend verorten. Je nachdem, an welche Stelle ein Dienst in diesem drei- oder höher-dimensionalen Koordinatensystem positioniert ist, könnten wir bei seiner Dekommodifizierung und Demokratisierung andere Werkzeuge anwenden, die sich besonders gut für den jeweiligen Anwendungsfall eignen.
Welche verschiedenen Methoden stehen uns hierbei zur Verfügung? Im Folgenden seien vier erwähnt:
In diesen Fällen übernimmt eine öffentliche oder staatliche Instanz den Betrieb eines Online-Dienstes. Diese Instanz könnte auf vielerlei Arten strukturiert sein und auf einer Reihe von Ebenen, von der lokalen bis zur nationalen, angesiedelt sein. Dienstleister mit Übertragungsmacht (nach Rahman) und solche, die Dienstleistungen in der Cloud anbieten (nach Srnicek), sind hierfür besonders geeignet. Ähnliche Vorschläge macht auch Jimi Cullen, der einen öffentlich-rechtlichen Cloud-Provider fordert. Öffentliche Trägerschaft kommt wohl vor allem für Dienste einer gewissen Größe infrage. Für die größten Dienste der Welt ist eine nationale Regulierung jedoch nicht mehr praktikabel – hier muss über eine transnationale Form öffentlicher Trägerschaft nachgedacht werden.
Öffentliche Träger können sich auch um die Verwaltung von geistigem Eigentum kümmern. Zum Beispiel können Datenstiftungen (»Data Trusts«) oder institutionalisiertes Datengemeineigentum (»Data Commons«) mit der Verwaltung und Zugriffsregulierung bestimmter Datenbanken betraut werden und Datenschutzrichtlinien durchsetzen sowie Benutzungsentgelte erheben. Rosie Collington hat einen interessanten Bericht darüber geschrieben, wie Daten, welche sich bereits in öffentlichem Besitz befinden, auf diese Weise verwaltet werden könnten.
Unter diesem Modell würden digitale Dienstleistungen genossenschaftlich organisiert werden, im gemeinschaftlichen Besitz von Beschäftigten und Benutzerinnen. Experimente mit genossenschaftlichen Plattformen gibt es seit vielen Jahren und sie haben interessante Ergebnisse geliefert.
Die von Srnicek so genannten »schlanken« Dienste eignen sich besonders gut für genossenschaftliche Modelle. Uber in Arbeiterinnenhand, zum Beispiel, würde sehr gut funktionieren. Regierungen haben eine ganze Reihe von Möglichkeiten, wie sie die Gründung solcher Genossenschaften fördern könnten, etwa durch Fördermittel und Förderkredite, Bevorzugungen im Vergabe- und Steuerrecht oder kommunale Regelungen, die nur Ride-Sharing-Angebote in genossenschaftlicher Hand zulassen. Möglicherweise funktionieren Genossenschaften aber am besten auf kleineren Skalen. Es wäre also eventuell besser, in jeder Stadt eine selbständige Uber-Genossenschaft zu gründen anstatt auf einen nationalen Anbieter zu setzen. In diesem Fall bieten sich Instrumente des Kartellrechts an, um große Firmen zu zerschlagen, bevor die daraus resultierenden kleineren Einheiten in Genossenschaften überführt werden.
Auch Data Trusts beziehungsweise Data Commons könnten eine genossenschaftliche statt öffentliche-rechtliche Form annehmen. Diesen Ansatz empfiehlt Evan Malmgren. Er entwirft einen genossenschaftlichen Data Trust, der seinen Mitgliedern stimmberechtigte Anteilsscheine ausgibt, welche dann ein Verwaltungsgremium wählen, das mit anderen Institutionen über die Nutzungsrechte an den Daten verhandelt.
In einigen Fällen muss die Eigentumsfrage für einen Dienst nicht geklärt werden, sondern der Dienst könnte durch eine frei zugängliche Open-Source-Software bereitgestellt werden.
Es gibt viele gute Gründe, der Open-Source-Ideologie mit Skepsis zu begegnen, wie Wendy Liu einmal argumentiert hat. Doch freie Software hat durchaus auch Potential zur Dekommodifizierung, auch wenn dies momentan fast vollständig durch kommerzielle Unterwanderung zunichte gemacht wird.
In dieser Hinsicht ist das Kartellrecht ebenfalls von potenziellem Nutzen. 1949 brachte das US-Justizministerium eine Kartellklage gegen den Telefonanbieter AT&T ein. Als Teil einer außergerichtlichen Einigung, die sieben Jahre später erzielt wurde, verpflichtete sich das Unternehmen, seine Patente an jegliche interessierte Partei zu lizenzieren. Es wäre vorstellbar, den heutigen Technologiekonzernen ähnliche Auflagen zu machen und sie dazu zu zwingen, den Quellcode ihrer Software offenzulegen, um die Entwicklung von kostenlosen beziehungsweise quelloffenen Alternativen zu erleichtern. Prado schlägt vor, dass ein Dienstleister seinen Code binnen sechs Monaten offenlegen müssen sollte, sobald er fünfzig bis hundert Millionen Benutzerinnen erreicht.
Dienste, die sich primär auf den Verkauf von Werbeanzeigen beziehungsweise auf die Ausübung von Zugangsmacht konzentrieren, sind meines Erachtens ebenfalls sehr geeignet für eine Open-Source-Lösung. Man könnte sich zum Beispiel quelloffene Alternativen zur Google-Suchmaschine oder zu sozialen Medien vorstellen.
Ein nützliches kartellrechtliches Werkzeug, welches den Open-Source-Gedanken voranbringen könnte, ist die erzwungene technische Interoperabilität. Matt Stoller und Barry Lynn vom Open Markets Institute haben angeregt, dass die US-Bundeshandelskommission (FTC) Facebook dazu zwingen sollte, »offene und transparente Standards« zu implementieren. Dies würde einen Datenaustausch zwischen Facebook und potenziellen Open-Source-Alternativen ermöglichen. Unsere Daten lägen dann zwar immer noch auf den Servern von Facebook, doch die Macht des Unternehmens würde dadurch beschnitten, dass es alternative (werbefreie) Möglichkeiten gäbe, auf diese Daten zuzugreifen und sie anders darzustellen. Sollten sich diese Schnittstellen als populär erweisen, müsste Facebook empfindliche Einbußen bei den Werbeeinnahmen hinnehmen, was zum Zusammenbruch des ganzen Geschäftsmodells führen könnte. Dies wäre dann der Zeitpunkt, das soziale Netzwerk in einen öffentlich-rechtlichen oder genossenschaftlich organisierten Data Trust zu überführen, welcher den Datenzugriff von quelloffenen Social-Media-Diensten verwaltet, die nach dem föderierten Modell des Mikroblogging-Dienstes Mastodon organisiert sein könnten.
Bestimmte Dienste sollten nicht dekommodifiziert und demokratisiert, sondern komplett abgeschafft werden.
Regierungen setzen derzeit eine Reihe automatisierter Systeme zum Zweck der sozialen Kontrolle ein. Darunter sind Technologien wie das sogenannte »Predictive Policing«. Dahinter verbirgt sich der Versuch einer algorithmischen Vorhersage von Straftaten, welche die polizeiliche Kontrolle von Wohnvierteln intensiviert, in denen ethnische Minderheiten der arbeitenden Klasse leben (dies ist auch ein Beispiel für die Bewertungsmacht nach Rahman). Wissenschaftler wie Ruha Benjamin und lokale Organisationen wie die »Stop LAPD Spying Coalition«, die sich gegen den Einsatz von Spionagemethoden durch die städtische Polizeibehörde von Los Angeles einsetzt, plädieren für die Abschaffung solcher Technologien. Benjamin spricht in ihrem Buch Race After Technology von der Notwendigkeit, »dem neuen Jim Code mit einem neuen Abolitionismus zu begegnen« [Jim Code ist hier ein Wortspiel auf die sogenannten Jim-Crow-Gesetze, ein in den USA allgemein geläufiger Begriff für die Rassentrennungsgesetze, die in den Südstaaten der USA vielfach bis zur Verabschiedung des Civil Rights Acts von 1964 Bestand hatten. Anm.d.Ü.]
Systeme, die neue Formen der algorithmischen Austerität forcieren – wie sie Virginia Eubanks in ihrem Buch Automating Inequality dokumentiert – sollten ebenfalls abgeschafft werden. In den USA und anderswo wird auf algorithmische Methoden zurückgegriffen, um den Sozialstaat einzustampfen. Dies raubt Menschen ihre Würde und Autonomie und ist mit dem demokratischen Wertesystem grundsätzlich unvereinbar.
Ebenso gilt dies für die Technologie der automatischen Gesichtserkennung, welche sowohl von öffentlicher als auch privater Seite angewandt wird. Die wachsende Bewegung, die fordert, automatische Gesichtserkennung zu verbieten, ist ein gutes Beispiel für so einen konkreten Abolitionismus.
Zuletzt sei noch angemerkt, dass eine linke Digitalpolitik, die private Macht zurückdrängt, indem sie die Besitzverhältnisse unserer digitalen Infrastruktur verändert, ergänzender gesetzlicher und regulatorischer Maßnahmen bedarf, wie sie etwa in der Datenschutzgrundverordnung der Europäischen Union ergriffen wurden. Diese Regularien sollten die Sammlung und Verwertung von Daten einschränken sowie geeignete Maßnahmen definieren, um rechtsextreme Radikalisierung zu verhindern und algorithmische Entscheidungen transparent zu machen. Solche Bestimmungen sollten immer gelten, auch unabhängig von den Besitzverhältnissen des jeweiligen Onlinedienstes.
Dies ist nur ein provisorischer Entwurf voller Lücken und Ungereimtheiten. Es mag schlussendlich unmöglich sein, alle großen Onlinedienste auf dem hier entworfenen Koordinatensystem zu verorten – und selbst wenn dies nicht der Fall sein sollte, würde uns ein solches Vorgehen doch zu einer übermäßig starren Vorgehensweise in der Digitalpolitik verleiten. Des Weiteren stößt solch ein programmatischer Ansatz unweigerlich an seine Grenzen und kann schnell in eine übermäßig technokratische Richtung abdriften.
Trotzdem hoffe ich, dass diese Überlegungen für die Entwicklung einer linken Digitalpolitik, welche die Prinzipien von Dekommodifizierung und Demokratisierung auf unsere tatsächlich existierende digitale Infrastruktur anwendet, hilfreich sein können. In den USA gibt es für eine solche Politik im Moment eher wenig Raum, doch dies könnte sich zukünftig ändern. Und wenn es soweit ist, sollten wir gut vorbereitet sein.
Ben Tarnoff ist Gründer und Herausgeber der Zeitschrift Logic.
Ben Tarnoff ist Gründer und Herausgeber der Zeitschrift »Logic«.