18. Juli 2023
Die iranische Führung hat es geschafft, die Protestwelle einzudämmen. Doch eine Deeskalation der geopolitischen Spannungen mit den USA dürfte den Protestierenden helfen. Denn sie würde es dem Regime erschweren, sie als von außen gesteuerte Akteure darzustellen.
Studierende der Amir Kabir Universität protestieren gegen den Hidschab und die Islamische Republik.
Auf dem Höhepunkt der Protestbewegung im Iran im vergangenen Herbst bezeichnete der mächtige »Oberste Führer« (oder »Revolutionsführer«) der Islamischen Republik, Ali Chamenei, die Bewegung als »hybriden Krieg«. Dieser Krieg sei von ausländischen Gegnern – insbesondere den USA – mit Hilfe ihrer lokalen Handlanger angezettelt worden. Die Feinde würden sich dabei die Wut einiger falsch informierter Iranerinnen und Iraner zunutze machen.
Widerspruch daheim auf Komplotte aus dem Ausland zurückzuführen, ist das offizielle Narrativ der regierenden Kleriker im Iran, seit sie 1979 nach der Revolution gegen die von den USA unterstützte Diktatur des Schahs die Macht übernommen hatten. Im Folgenden möchte ich dieses Narrativ näher beleuchten, um zu erklären, wie es der Islamischen Republik (bisher) gelungen ist, die jüngste Protestwelle einzudämmen.
Die iranische Revolution von 1979 hatte eine starke antiimperialistische Stoßrichtung: Sie war die Reaktion auf ein Vierteljahrhundert US-Unterstützung für den unpopulären Schah, der 1953 mit Hilfe eines CIA-unterstützten Putsches wieder den Thron bestiegen hatte. Nach dem Sturz des Schahs unterhielt die vom charismatischen Revolutionsführer Ayatollah Khomeini eingesetzte Übergangsregierung zunächst (wenn auch angespannte) Beziehungen zu Washington. Dies ging sogar so weit, dass ein Informationsaustausch mit der CIA stattfand.
Das änderte sich jedoch im November 1979, als Khomeini den Beginn einer »zweiten Revolution« ausrief und die Besetzung der US-Botschaft sowie die Geiselnahme der 55 dort Angestellten für 444 Tage zuließ. Zunächst war dies eine Reaktion auf die Aufnahme des gestürzten Schahs in den Vereinigten Staaten durch die Regierung von Jimmy Carter. Die anhaltende Konfrontation mit Washington ermöglichte es Khomeini jedoch längerfristig, eine klerikale Diktatur zu errichten und alle politischen Konkurrenten, insbesondere die antiimperialistische Linke, zu beseitigen.
Diese Regimekonsolidierung hatte jedoch einen hohen Preis. So wurden die Vereinigten Staaten fester Bestandteil im Lager der Feinde der Islamischen Republik. Washingtons mal mehr, mal weniger offener Kriegszustand mit dem Iran begann mit harten Wirtschaftssanktionen in Reaktion auf die Geiselnahme. Die Feindseligkeiten dauern bis in die Gegenwart an.
Bereits 1980 nutzte Saddam Hussein die amerikanisch-iranische Auseinandersetzung für seine Zwecke, fiel in den Iran ein und begann einen achtjährigen Krieg, der beide Länder schwer verwüstete. Während des gesamten Krieges unterstützte Washington Bagdad direkt über seine saudischen sowie kuwaitischen Stellvertreter und griff zeitweise sogar selbst bewaffnet in das Geschehen im Iran ein.
Doch wie die Geiselkrise war auch der Krieg keine einseitige Aggression, die dem Iran aufgezwungen wurde. Khomeini hat – eben durch die Geiselnahme – zum Kriegsausbruch beigetragen. Außerdem weigerte er sich anschließend, den Krieg zu beenden, nachdem der Iran sein verlorenes Territorium innerhalb von zwei Jahren zurückerobert hatte, und forderte als »Preis« für einen Friedensschluss einen Regimewechsel in Bagdad.
Der fast ein Jahrzehnt andauernde Krieg verwandelte die Islamische Republik in einen auf Sicherheit fixierten Staat im permanenten Kriegszustand, der hinter allen Problemen das Tun ausländischer Feinde sieht. Irans postrevolutionärer Staat wurde permanent militarisiert. Darüber hinaus wurde die Kriegswirtschaft der 1980er Jahre um ein Konglomerat von »Stiftungen« und anderen parastaatlichen Organisationen herum aufgebaut, die die enormen Öleinnahmen, die Kapitalmärkte und die Arbeitskräfte des Landes kontrollierten.
Um die Massenmobilisierung aus der Revolutionszeit für die eigenen Kriegszwecke weiter nutzen zu können, baute die Islamische Republik einen rudimentären Wohlfahrtsstaat auf, der ein qualitativ zwar minderwertiges, aber immerhin allgemein zugängliches Bildungs- und Gesundheitssystem bereitstellte. Als sich der Krieg schließlich zu einer zu großen politischen Belastung entwickelte, akzeptierte Khomeini 1988 einen Waffenstillstand. Gleichzeitig ordnete er eine Säuberung innerhalb des Landes an. Ein Richterkomitee, dem auch der heutige iranische Präsident Ebrahim Raisi angehörte, veranlasste die Hinrichtungen tausender politischer Gefangener.
Diese blutige Säuberung markierte den Abschluss des ersten Jahrzehnts der Revolution. Khomeini führte Verfassungsänderungen ein, mit denen er seinem Nachfolger als Obersten Führer unbegrenzte weltliche und religiöse Machtbefugnisse übertrug. Dazu gehört unter anderem das Recht, grundlegende islamische Gebote wie das tägliche Gebet auszusetzen. So war und ist die Islamische Republik nach Khomeini eine konstitutionelle klerikale Diktatur und ein permanent militarisierter Staat, der sich stets in einer existenziellen Verteidigungshaltung gegenüber einer Vielzahl ausländischer Feinde unter Führung der USA sieht.
In den 1990er Jahren machte sich der Iran an den Wiederaufbau und passte seine Kriegswirtschaft an die neoliberale Weltordnung an. In den Beziehungen zu Washington deutete sich 1997 ein »Tauwetter« an, als Mohammad Chātami mit seinem reformorientierten Wahlprogramm zum Präsidenten gewählt wurde. Die US-Sanktionen blieben vorerst allerdings in Kraft.
Nach nur zwei Jahren, zeitgleich mit dem zwanzigsten Jahrestag der Revolution, kochte die schwelende Unzufriedenheit im Iran über. Es kam zu landesweiten Demonstrationen, gestartet von Studierenden, die gegen die erzwungene Schließung von reformorientierten Zeitungen protestierten. Die Hardliner in der iranischen Führung ließen die Demonstrationen niederschlagen und zogen damit eine klare rote Linie, welche Art von Reformen nicht toleriert werden würde.
Bald wurde auch das Zeitfenster für eine Verbesserung der Beziehungen zu den Vereinigten Staaten geschlossen – dieses Mal von Washington. Anlässlich der Afghanistan-Invasion nach den Anschlägen vom 11. September 2001 hielt Präsident George W. Bush eine Rede, in der er den Iran zusammen mit dem Irak und Nordkorea zur »Achse des Bösen« im US-amerikanischen »Krieg gegen den Terror« zählte. Ironischerweise geschah dies zu einem Zeitpunkt, als die Islamische Republik im Geheimen mit den USA kooperierte, um die Taliban zu stürzen.
Die neue harte Linie gegen den Iran wurde von einer pro-israelischen, neokonservativen Lobby vorangetrieben. Deren Ziel war es, den Iran noch vor dem Irak zum Ziel einer Regime-Change-Aktion durch eine amerikanische Militärintervention zu machen. Auf Drängen von Tel Aviv wurden die US-Sanktionen gegen den Iran immer weiter verschärft. Die Islamische Republik wurde nun vor allem beschuldigt, ihr ziviles Atomprogramm zu militarisieren und zu einer Waffe zu machen. Freilich ignorierte die Bush-Regierung dabei das israelische Atomwaffenarsenal, das unter Missachtung des internationalen Atomwaffensperrvertrags (den der Iran seinerseits immerhin unterzeichnet hatte) aufgebaut worden war.
Zwar richteten die amerikanischen Sanktionen großen Schaden in der iranischen Wirtschaft und im Alltagsleben der Menschen an, doch wie schon zuvor in Kuba oder Nordkorea konnte kein Regimewechsel erreicht werden. Das längerfristige Ziel der Sanktionen war es, der Wirtschaft und der Bevölkerung derart zu schaden, dass letztere sich erheben und die Islamische Republik stürzen würde – gegebenenfalls mit ein wenig »freundlicher Unterstützung« aus Washington oder Tel Aviv.
Paradoxerweise schien diese zynische Logik die Behauptungen der iranischen Machthaber zu bestätigen, die inländischen Dissens und Widerstand gegen den Staat stets mit ausländischen, feindlichen Interventionen in Verbindung gebracht hatten. Somit haben die US-Sanktionen letztlich die repressive Haltung der Islamischen Republik gestärkt. Sie lieferten den iranischen Machthabern den perfekten Vorwand, abweichende Meinungen zu unterdrücken, indem diese mit den (tatsächlich existierenden) Umtrieben ausländischer Mächte in Verbindung gebracht wurden.
Eine Verbesserung der Beziehungen zwischen den USA und dem Iran schien dann erneut möglich, als Barack Obama sein Amt antrat und geheime Verhandlungen mit dem Obersten Führer des Iran aufnahm. Diese gerieten jedoch ins Stocken, als 2009 im Iran große Massenproteste ausbrachen. Die Entwicklungen wurden später als Grüne Bewegung bezeichnet, angelehnt an die Wahlkampf-Farbe des Kandidaten, der Wahlbetrug bei den Präsidentschaftswahlen kritisierte.
Genau 30 Jahre nach der Revolution von 1979 wehrten sich Millionen, meist in den Metropolen lebende Männer und Frauen aus der Mittelschicht gegen die politischen Vorgaben der Regierung. Wie üblich behauptete der Oberste Führer, die Grüne Bewegung sei eine ausländische Verschwörung. Er ließ die Sicherheitskräfte auf die Demonstrierenden schießen, auf sie einstechen und sie mit Knüppeln schlagen. Ebenso wurde mit Autos und Motorrädern in die Menschenmengen gerast.
Es brauchte einige Monate, hunderte Tote und tausende Inhaftierungen, um die Proteste der Grünen Bewegung schließlich niederzuschlagen. Es ist darauf hinzuweisen, dass diese Proteste zumindest ursprünglich Ausdruck der Unterstützung eines Präsidentschaftskandidaten waren, der Reformen innerhalb der Islamischen Republik forderte. Ihre gewaltsame Niederschlagung vermittelte die klare Botschaft, dass ernsthafte Veränderungen innerhalb des bestehenden Systems nicht möglich waren.
»Die extreme Aggressivität der Trump-Administration und die erneute Verhängung harter US-Sanktionen verschlimmerten den wirtschaftlichen Abschwung im Iran.«
Im Nachgang zu den Protesten verschärfte die Obama-Regierung ihre Sanktionspolitik, setzte aber gleichzeitig die Geheimverhandlungen mit dem Iran fort. Während Obamas zweiter Amtszeit führten offizielle Verhandlungen zwischen den Vereinigten Staaten, dem Iran und den fünf ständigen Mitgliedern des UN-Sicherheitsrats schließlich zur Unterzeichnung des Atomabkommens von 2015.
Der Deal bescherte dem Iran erhebliche Sanktionserleichterungen im Gegenzug für internationale Aufsicht und Einschränkungen seines Atomprogramms. Das Abkommen wurde von Israel und rechtsgerichteten Fraktionen der iranischen Diaspora vehement abgelehnt – und später von Obamas Nachfolger Donald Trump aufgekündigt. Darüber hinaus verschärfte Trump im Jahr 2018 die Sanktionen. Trump kehrte somit Obamas diplomatische Strategie völlig um. Glücklicherweise trieb er dies nicht so weit, eine militärische Konfrontation mit dem Iran anzuzetteln, allerdings ließ er Spitzenbeamte der Islamischen Republik, darunter den Befehlshaber für ausländische Militäroperationen, auf unverfrorene Weise ermorden.
Die extreme Aggressivität der Trump-Administration und die erneute Verhängung harter US-Sanktionen verschlimmerten den wirtschaftlichen Abschwung im Iran. Die Regierung in Teheran ließ die Gürtel enger schnallen und kürzte unter anderem die Subventionen für Lebensmittel und Energie. Dies wiederum führte zu wütenden Protesten, diesmal vor allem unter den Armen und der Arbeiterklasse.
Der Protest erreichte 2019, nahezu pünktlich zum 40. Jahrestag der Revolution, seinen Höhepunkt. Der Staat setzte das Militär ein, inklusive Panzern und Hubschraubern, um die Unruhen niederzuschlagen – was erneut hunderte Opfer zur Folge hatte. Es scheint fast schon unheimlich, mit welcher Regelmäßigkeit sich die Massenproteste und ihre jeweilige blutige Niederschlagung am Ende eines jeden Jahrzehnts in der Islamischen Republik wiederholten: 1988, 1999, 2009 und 2019.
Während der Iran dann 2020 besonders hart vom Coronavirus getroffen wurde, ging die Regierung zu einer wesentlich härteren politischen Strategie über. Im Jahr 2021 wurden alle vergleichsweise gemäßigten Fraktionen, insbesondere diejenigen, die den Atomdeal mit Obama ausgehandelt hatten, bei der praktisch unangefochtenen Wahl von Raisi zum neuen Präsidenten beseitigt. (Wir erinnern uns, Raisi ist der Kleriker, der in den späten 1980er Jahren maßgeblich am Massenmord an politischen Gefangenen beteiligt war.)
Die extrem niedrige Wahlbeteiligung bei dieser Präsidentschaftswahl zeigte deutlich, was die iranische Bevölkerung von einem Staat hält, der nicht einmal mehr vorgibt, für ihre Interessen einzustehen. Mit dem Ende der Pandemie kam es dann im Herbst 2022 zum bisher größten Protest seit der Revolution.
»Der grausame Mord an Amini, einer jungen Kurdin, war ein Beispiel für die sich überlagernden Ebenen systematischer Unterdrückung, die sich gegen Frauen, Jugendliche und ethnische Minderheiten richtet.«
In gewisser Weise folgte dieser Protest dem Muster früherer Unruhen. Der Aufstand 2022-23 erreichte schnell eine solche Intensität, dass viele Beobachter den Iran am Rande einer erneuten Revolution sahen. Auslöser war der Tod der 22-jährigen Jina (Mahsa) Amini im September 2022 in Polizeigewahrsam. Sie war zuvor wegen »unzureichender Verschleierung« verhaftet worden. Sofort brachen im ganzen Land wütende Demonstrationen aus. Viele Frauen legten ihr Kopftuch ab und verbrannten es in der Öffentlichkeit.
Der grausame Mord an Amini, einer jungen Kurdin, war ein Beispiel für die sich überlagernden Ebenen systematischer Unterdrückung, die sich gegen Frauen, Jugendliche und ethnische Minderheiten richtet. Folglich wurden die Proteste insbesondere von jungen Menschen angeführt, wobei Frauen eine herausragende Rolle spielten. Außerdem waren die Proteste der ethnisch kurdischen, belutschischen und arabischen Bevölkerungsgruppen des Iran am stärksten.
Darüber hinaus fand der politische Aufruhr inmitten der anhaltenden Mahnwachen und Streiks von Arbeiterinnen und Arbeitern, Lehrpersonal sowie Rentnerinnen und Rentnern statt, die alle mit einer noch nie dagewesenen Arbeitslosigkeit und Inflation zu kämpfen hatten. Die Proteste vereinten Menschen somit nicht nur über geschlechtliche und ethnische, sondern auch über Klassengrenzen hinweg. Nach einem Jahrzehnt stetig sinkender Lebensstandards sind die Grenzen zwischen der Mittelschicht und den arbeitenden Armen unscharf geworden.
Im Gegensatz zu allen vorangegangenen Protestzyklen waren die Demonstrationen 2022-2023 durch und durch säkular und zuweilen offen antiklerikal, wenn auch nicht antireligiös. Ebenso war die Reaktion der Regierung nicht wie zuvor auf eine angebliche »Rettung des Islam« ausgerichtet. Stattdessen konzentrierte sich die Führung nun explizit darauf, den Iran vor vermeintlichen Verschwörungen aus dem Ausland zu retten. Nach etwa fünf Jahrzehnten scheint eine wichtige Ära der islamischen Politik im Iran zu Ende zu gehen.
In den ersten Monaten des Jahres 2023 nahmen die Häufigkeit und Intensität der Straßenproteste ab. Insgesamt wurden schätzungsweise 500 Menschen getötet – darunter dutzende Kinder – und etwa 22.000 verhaftet. Am 44. Jahrestag der Revolution im Februar 2023 fühlte sich der Oberste Führer offenbar schon wieder sicher genug, um tausende Verhaftete zu begnadigen.
Dennoch gab es weiterhin vereinzelte Straßenproteste (und deren gewaltsame Niederschlagung), vor allem in den kurdischen und belutschischen Gebieten. Auch Arbeiterunruhen und Universitätsstreiks halten an. Obwohl sie sich im ganzen Land gegenseitig bestärkten und unterstützten, haben die Demonstrierenden aber nach wie vor keine einheitliche Führung, Organisation oder gemeinsame politische Forderungen entwickelt. Auch konnten sich die Proteste nicht zu einem Generalstreik verdichten, wie es in den letzten Monaten der Schah-Herrschaft der Fall gewesen war.
Neben bekannten Persönlichkeiten, Akademikern und Online-Aktivistinnen reagierten auch die vom Staat bekämpften politischen Gruppierungen – vor allem die Reformisten – mit offener Sympathie und Unterstützung für die Proteste. Der Führer der Grünen Bewegung, Mir Hossein Mussawi, der seit 2009 unter Hausarrest steht, rief zu einem friedlichen Regimewechsel mittels eines landesweiten Referendums auf. Der ehemalige reformorientierte Präsident Chātami erwähnte vorsichtig die Möglichkeit eines Verfassungsreferendums.
Diese Vorschläge sowie eine ganze Reihe konkreter Missstände und Beschwerden wurden in der iranischen Presse offen aufgegriffen und diskutiert. Die Grenzen der Zensur scheinen sich somit ebenfalls verschoben zu haben, wobei Journalisten – und vor allem Journalistinnen – nach wie vor oft in Gewahrsam genommen oder zu Gefängnisstrafen verurteilt werden.
Auch die iranische Diaspora hat eine wichtige, wenn auch etwas konfuse und teils widersprüchliche Rolle bei den jüngsten Ereignissen gespielt. Durch die Diaspora wurden die Protestrufe im Iran auf internationaler Ebene verstärkt, wobei allerdings einige Gruppierungen versucht haben, für die Demonstrierenden zu sprechen oder ihnen eine bestimmte politische Richtung zuzuschreiben. Die erfolgreichste Veranstaltung der Diaspora war eine Kundgebung im Oktober 2022 in Berlin, zu der 80.000 Menschen kamen. Dort zeigte sich eine seltene Einigkeit zwischen linken und rechten Fraktionen, die jeweils ihre eigenen Fahnen trugen und Parolen skandierten.
»Der Kronprinz wollte sich per Online-Abstimmung den Auftrag des iranischen Volkes sichern, dieses im Exil offiziell zu vertreten. Peinlicherweise nahmen nur etwa 400.000 Menschen an dieser Abstimmung teil.«
Bald jedoch zersplitterte die Diaspora wieder in ihre alten Konflikte, insbesondere als die Monarchisten versuchten, ihre Führungsrolle durchzusetzen. Angeführt vom Sohn des letzten Schahs, Reza Pahlavi, genießen die Monarchisten im Iran zwar eine große Öffentlichkeit, vor allem durch Satellitenfernsehsender, die von der US-Regierung und Saudi-Arabien finanziert werden. Diese Medienpräsenz hat jedoch nicht dazu geführt, dass eine starke monarchistische politische Bewegung im Iran entstanden ist. Im Gegenteil konnte man bei den jüngsten Protesten keinerlei Sympathien für den Ex-Schah und/oder seinen Sohn erkennen.
Auch in der Diaspora – und das trotz ihrer radikalen Ablehnung der Islamischen Republik – konnten die Monarchisten keinen hegemonialen Einfluss aufbauen. Das liegt vor allem an eigenen Fehlern.
Erstens versuchte der theoretische Thronfolger Reza Pahlavi in aller Eile, eine »allumfassende« Koalition unter seiner Führung zu bilden. Er brachte eine Friedensnobelpreisträgerin, einige prominente Aktivisten der Rechten, den Anführer einer pro-amerikanischen kurdischen bewaffneten Gruppe und eine berühmte Persönlichkeit aus der Diaspora, deren Familie zu den Opfern eines von der iranischen Revolutionsgarde irrtümlich abgeschossenen Flugzeugs gehörte, zusammen. Diese bizarre Koalition brach jedoch schnell auseinander, als ihre Mitglieder begannen, sich über monarchistisch-ideologische Auflagen zu beschweren.
Zweitens wollte sich der Kronprinz per Online-Abstimmung den Auftrag des iranischen Volkes sichern, dieses im Exil offiziell zu vertreten. Peinlicherweise nahmen nur etwa 400.000 Menschen an dieser Abstimmung teil – was in etwa der Größe der monarchistischen Diaspora entsprechen dürfte. Im Iran mit seinen 87 Millionen Menschen wurde der Aufruf zur Abstimmung überhaupt nicht wahrgenommen. Drittens traten die Monarchisten bei ihren Kundgebungen voller Stolz gemeinsam mit einem berüchtigten Ex-Chef der SAVAK, der ehemaligen Geheimpolizei des Schahs, auf. Die SAVAK war für die Folterung und Ermordung zahlreicher politischer Gefangener verantwortlich.
Schließlich reiste Prinz Reza nach Tel Aviv, wo er von Benjamin Netanjahu herzlich empfangen wurde. Netanjahu wollte sich offenbar eine Verschnaufpause von den diversen politischen Misserfolgen seiner eigenen Regierung gönnen, indem er Israels Drohung, Militärschläge gegen den Iran auszuführen, erneuerte. Monarchistische und andere rechtsgerichtete Diaspora-Gruppen appellierten konstant an die Vereinigten Staaten und andere »demokratische westliche Regierungen«, die Islamische Republik durch weitere wirtschaftliche und diplomatische Sanktionen zu stürzen. Diese Aufrufe spielten wiederum den Machthabern in Teheran in die Hände, die in bekannter Manier die gesamte Opposition in der Diaspora beschuldigten, an amerikanischen und israelischen Komplotten zu einem erzwungenen Regime Change beteiligt zu sein.
Auch wenn der jüngste Volksaufstand eingedämmt werden konnte, ist die Islamische Republik weit von früherer Stabilität entfernt. Auf dem Höhepunkt der Proteste im vergangenen Winter haben selbst Hardliner des Staates Bedenken eingeräumt; einige sprachen sogar von der »Notwendigkeit einer neuen Staatsführungsform«.
Besonders wichtig ist, dass sich die Frauen erfolgreich gegen den Staat gewehrt haben, der den Kopftuchzwang heute nicht mehr uneingeschränkt durchsetzen kann. Das ist ein großer Sieg, sowohl konkret als auch symbolisch. Er zeigt die Handlungsfähigkeit der Frauen im alltäglichen Leben und widersetzt sich offensiv dem Beharren der Regierung auf der Zwangsverschleierung als einer der wichtigsten Säulen der Islamischen Republik. In anderen Bereichen gehen die politischen Scharmützel bisher ohne greifbare Ergebnisse weiter. Auch hier scheint die Regierung zumindest zu einem gewissen Entgegenkommen bereit. Der Justizchef forderte Offenheit für Kritik und der Oberste Führer selbst wollte sich zur Frage, ob ein Verfassungsreferendum hypothetisch möglich sei, äußern.
Auf der anderen Seite hat die Regierung aber auch wichtige Erfolge feiern können. Neben der Eindämmung der Proteste sind diese hauptsächlich auf die Außenpolitik beschränkt. So kündigten der Iran und Saudi-Arabien im März 2023 überraschend an, ihre äußerst angespannten diplomatischen Beziehungen verbessern zu wollen. Die Islamische Republik versucht damit, ihren mächtigsten Widersacher neben den Vereinigten Staaten und Israel zu neutralisieren.
Darüber hinaus machten die Atomverhandlungen mit den Vereinigten Staaten und der EU im Stillen Fortschritte, obwohl der iranische Staat hart gegen die Proteste vorging sowie Drohnen für den Krieg Russlands gegen die Ukraine bereitstellte. Im vergangenen Monat gaben der Irak und Südkorea – offenbar mit Zustimmung der USA – mehrere Milliarden Dollar an eingefrorenen Vermögenswerten Teherans frei. Ebenso tauschte der Iran politische Gefangene mit Belgien und Österreich aus.
Aktuell führt die Islamische Republik in Katar und Oman formelle Gespräche mit der EU, bei denen auch hochrangige US-Diplomaten anwesend sind. Internationale sowie iranische Medien berichten von einer »Übereinkunft«, wonach Washington die Sanktionen im Gegenzug dafür lockern könnte, dass der Iran sich verpflichtet, keine militärischen Nuklearprojekte zu verfolgen sowie Konflikte mit den US-Streitkräften im Irak und in Syrien einzustellen.
»Angesichts der Vielzahl an sozialen Missständen sowie der wirtschaftlichen Abwärtsspirale ist ein weiterer landesweiter Aufstand durchaus möglich.«
Auf diese Weise könnte die Regierung Biden auch ohne ein formelles Abkommen behaupten, das (angebliche) iranische Atomwaffenprogramm und die iranische »Terrorismusunterstützung« eingedämmt zu haben. Im Gegenzug könnte der Oberste Führer Chamenei sich damit brüsten, die internationalen Sanktionen erfolgreich zurückgedrängt und dabei das iranische Nicht-Atomwaffen-Arsenal in seiner bisherigen Form erhalten zu haben.
Die reformorientierte Opposition der Islamischen Republik und viele Linke begrüßen eine Lockerung der Sanktionen für die iranischen Normalbürgerinnen und -bürger sowie eine Deeskalation der Beziehungen zu den USA. Schließlich dürfte dies sowohl die Kriegsgefahr verringern als auch der iranischen Regierung wieder erschweren, Widerstand im Inneren auf ausländischen Einfluss zu schieben. Die rechte Diaspora-Opposition hingegen ist enttäuscht. Kein Wunder, denn ihr Wunsch nach einem Regime Change basiert auf internationalen Sanktionen und möglichen militärischen Interventionen.
In der Zwischenzeit geht der interne »Abnutzungskrieg« gegen die Islamische Republik weiter, geführt mit täglichen Widerstandsaktionen einfacher Frauen und Männer, vereinzelten Streiks von Arbeiterinnen und Arbeitern sowie der Studierendenschaft, Massendemonstrationen ethnischer Gruppen sowie Journalistinnen, die die Grenzen der Zensur bewusst überschreiten und verschieben. All dies kumuliert in der grundlegenden Forderung nach einer Öffnung des politischen Systems. Ein wichtiger Gradmesser für den Erfolg dieser Aktionen werden in weniger als einem Jahr die Wahlen zum Madschles (dem iranischen Parlament) und zum sogenannten Expertenrat sein, einem mächtigen geistlichen Gremium, das den nächsten Obersten Führer wählt. Es bleibt diesbezüglich abzuwarten, ob sich die Regierung bei den Wahlen flexibler zeigt oder ob sie an ihrem derzeitigen Kurs festhält, nur Kandidaten der extremen Rechten zuzulassen.
Zu guter Letzt: Angesichts der Vielzahl an sozialen Missständen in der Bevölkerung sowie der wirtschaftlichen Abwärtsspirale, die auch nach einer Lockerung oder gar Aufhebung der Sanktionen anhalten dürfte, ist ein weiterer landesweiter Aufstand durchaus möglich. Ohne eine zentralisierte Organisation und Führung hat ein solcher spontaner, revolutionärer Ausbruch aber wenig Aussicht auf Erfolg.
Afshin Matin-Asgari ist Professor für Geschichte an der California State University, Los Angeles sowie Autor von Both Eastern and Western: An Intellectual History of Iranian Modernity.