12. Juni 2024
Seit der Messerattacke von Mannheim ist der Islamismus wieder in aller Munde. Politik und Medien reagieren mit Abschiebungen, Migrationsdebatte und »Leitkultur« – und bestätigen damit die Erzählung der Islamisten.
Teilnehmer einer Demonstration von der islamistischen Gruppe Muslim Interaktiv in Hamburg, 28. April 2024.
Am 31. Mai kam es in Mannheim zu einem Attentat. Ein Mann verletzte sechs Personen. Darunter war ein Polizeibeamter, der an seinen Verletzungen starb. Der Täter war 25 Jahre alt und stammte aus Afghanistan. Er kam mit vierzehn Jahren nach Deutschland und betrieb wohl einen Youtube-Account, auf dem er islamistischen Content verbreitete.
Ziel des Anschlags war offenbar der rechtsextreme Aktivist Michael Stürzenberger. Stürzenberger ist ein altbekanntes Gesicht der muslimfeindlichen Szene in Deutschland. Er ist langjähriger Autor des seit 2004 betriebenen rechtsextremen Blogs PI-News, aktiv in der PEGIDA-Bewegung tätig und Mitglied des Vereins Bürgerbewegung Pax Europa. Alle drei warnen vor einer drohenden »Islamisierung Europas« – eine Angst, die in jüngster Vergangenheit wieder stark befeuert wurde: zum einen durch eben dieses Attentat, zum anderen auch durch islamistische Demonstrationen. So wurde unlängst auf Hamburger Straßen die Errichtung eines Kalifats gefordert.
Die drohende Islamisierung mag ein Hirngespinst sein, der Islamismus aber nicht. Diese Ideologie ist eine reale, ernstzunehmende Gefahr. Sie bedroht vor allem Minderheiten innerhalb migrantischer Communities, etwa Alevitinnen, Eziden, queere Menschen, säkulare Musliminnen, Areligiöse oder schlicht jeden, der die islamistische Ideologie ablehnt. Bedauerlicherweise werden gerade jene bei diesem Thema häufig übersehen. Im hiesigen Diskurs gilt Islamismus vor allem als Gefahr für »unsere westliche Zivilisation«, als etwas, das sich gegen die Werte der Aufklärung stellt.
Seit Jahren ist das ein Dauerthema. Es wurden schon Hunderte Talkshow-Sendestunden und Tausende Zeitungsseiten damit gefüllt. Und immer gibt es die gleichen stumpfen Antworten auf das Problem: Integration, »Leitkultur«, Abschiebungen. Und nicht nur die Rechten bieten diese Lösungsansätze an. Da der Attentäter in Mannheim Afghane war, möchte die Ampelregierung nun Abschiebungen nach Afghanistan erleichtern. Dass man dafür das Gespräch mit der islamistischen Taliban suchen muss, ist ein ironischer Twist dieser Geschichte.
Trotz der Allgegenwärtigkeit des Themas scheinen die meisten überraschend wenig über die zentralen Aspekte des Islamismus zu wissen. Nicht nur das – es herrscht auch Unwissenheit, wenn es um die Geschichte geht, die dahintersteckt. Solange wir den Islamismus nicht begreifen, haben wir auch keine Chance, effektiv gegen ihn vorzugehen.
Islamismus ist mehr als nur islamischer Extremismus oder Fundamentalismus. Religiös motivierte Gewalt und Fanatismus gab und gibt es in jeder Religion, zu jeder Zeit. Aktuelle Beispiele wären christliche Radikale, wie die Westboro Baptist Church in den USA, oder radikale buddhistische Mönche, wie Ashin Wirathu in Myanmar. Islamismus ist auch mehr als nur politischer Islam. Religion war durch die Geschichte hinweg ausnahmslos politisch. Die Legitimierung von Gesetzen und Herrschaft war lange Zeit die primäre Funktion von Religion – und so auch vom Islam.
Der Begriff Islamismus bezieht sich vorwiegend auf politische Bewegungen, die im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts entstanden sind. Der Politikwissenschaftler Armin Pfahl-Traughber betrachtet die Etablierung einer totalitären Gesellschafts- und Staatsordnung als zentrales Ziel dieser Ideologie. Der Islamismus will eine Gesellschaft, die in allen Bereichen von »islamischen« Normen bestimmt wird, und einen Staat, der das durchsetzen kann. Die Islamisten bestimmen hierbei selbst, was »islamisch« ist und was nicht. Auch muslimische Opposition gilt als Gefahr für die Ordnung.
Zudem sind sich Islamisten unter sich nicht einig, wie diese »islamische Ordnung« im Detail aussehen soll und wie man dieses Ziel erreicht. So sind sie zum Beispiel bei der Gewaltfrage gespalten: Während manche auf gewaltlose Mittel setzen, versuchen andere, Wandel mit bewaffnetem Kampf oder Terrorismus zu erzwingen. Letzteres wird auch als Dschihadismus bezeichnet.
Auf die Frage, wie Islamismus entstanden ist, verweisen Historikerinnen und Islamwissenschaftler in der Regel auf drei Personen: Dschmal ad-Ding al-Afghani (1838–1897), Muhammad Abduh (1849–1905) und Rashid Rida (1865–1935). War die islamische Welt dem Westen im Mittelalter noch wissenschaftlich voraus, so änderte sich das Ende des 18. Jahrhunderts. Bald folgte der europäische Kolonialismus. Viele islamische Länder fanden sich im Einflussgebiet europäischer Mächte wieder. Dies löste eine Identitätskrise in weiten Teilen der muslimischen Welt aus.
»Würde man einige der Demoteilnehmer aus Hamburg in eine Zeitmaschine stecken und in das Bagdad des 9. Jahrhunderts bringen, würden sie sich wohl kaum wohlfühlen.«
Intellektuelle wie Al-Afghani, Abduh und Rida versuchten sowohl Lösungen gegen die koloniale Herrschaft zu finden als auch Antworten auf den islamischen Niedergang. Ihre Antwort auf den europäischen Kolonialismus lautete Pan-Islamismus: Die geteilte islamische Identität sollte alle Muslime gegen den gemeinsamen Feind vereinen. Dabei sollten ethnische, kulturelle, soziale, nationale und konfessionelle Unterschiede überwunden werden. Für den Niedergang wurden die Muslime selbst verantwortlich gemacht. Die Reformer sahen den Fehler in der »unislamischen Lebensweise« der Menschen. Die Prinzipien und die »wahren« Intentionen des Islams seien in Vergessenheit geraten.
Dabei muss betont werden, dass gerade Al-Afghani und Abduh nicht unserem heutigen Bild von Islamisten entsprechen. Beide gelten als Vorreiter progressiver und moderner Lesearten des Islams. Al-Afghani plädierte nicht für eine totalitäre, islamische Ordnung. Stattdessen war er der festen Überzeugung, dass Religion und Wissenschaft voneinander getrennt gehören. Und Abduh war alles andere als antiwestlich. In einem berühmten Zitat meinte der damalige Großmufti Kairos: »Ich ging in den Westen und sah Islam, aber keine Muslime. Ich kehrte in den Osten zurück und sah Muslime, aber keinen Islam.« Für ihn war die westliche Aufklärung näher am wahren Islam als die Kultur der Muslime. »Rückkehr zum Islam« bedeutete für Abduh eine Rückbesinnung auf die zentralen Werte der Religion. Fanatismus und blinde Befolgung religiöser Gesetze lehnte er ab. Was ist also schiefgelaufen?
Mit der Abschaffung des Kalifats 1924 in der Türkei kam es zu einem weiteren Wendepunkt für den frühen Islamismus. Während das Kalifat bereits in den Jahrhunderten zuvor politisch und religiös an Relevanz verloren hatte, war es nun endgültig Geschichte. Abduhs Schüler, Rashid Rida, schlussfolgerte, der Niedergang des Kalifats habe die islamische Welt massiv geschwächt. Nur eine Rückkehr zum Kalifat und zum islamischen Staat könne die Muslime zu altem Glanz zurückführen. Diese These inspirierte auch einen ägyptischen Lehrer namens Hassan al-Banna, der 1928 die Muslimbruderschaft gründete.
Die Muslimbrüder und ähnliche Gruppierungen sind der Prototyp der modernen Islamisten. Ihr primärer Feind waren die Regime in ihren Heimatländern. Unter anderem Ägypten, die Türkei und der Iran wurden zu jener Zeit von säkularen, nationalistischen Diktaturen regiert. Diese legten Wert auf Modernisierung im »westlichen« Stil und setzten das auch mit Gewalt durch.
Doch es ging hier um mehr als nur den Kampf gegen Säkularisierung und den Traum einer islamischen Utopie. Islamisten sahen die islamische Welt in Gefahr. Säkulare Reformen sowie der Einfluss westlicher Kultur und Medien waren für sie ein Zeichen des kulturellen Niedergangs. Ironischerweise waren es gerade westliche Autoren, die sie vor dieser drohenden Dekadenz warnten. Die Namen dürften einigen bekannt vorkommen: Martin Heidegger, Ernst Jünger, Carl Schmitt, Alexis Carrel – Autoren, die gern von den Neurechten Europas gelesen werden. Auch islamistische Ikonen wie Sayyid Qutb waren große Fans. Die Vordenker des Islamismus und die Kämpfer gegen die Islamisierung sind vereint in ihrer Liebe zu schlechter Literatur.
Sayyid Qutb gilt als der Vater des Dschihadismus. Der ägyptische Journalist trat 1951 den Muslimbrüdern bei. Der ursprünglich eher liberale Bürgerliche wurde durch einen US-Aufenthalt 1949 radikalisiert. Die dortige Gesellschaft widerte ihn dermaßen an, dass er es sich zum Ziel setzte, die Verwestlichung seiner Heimat zu stoppen. Als es 1952 zum Militärputsch in Ägypten kam, begrüßten die Muslimbrüder anfangs die Absetzung der pro-westlichen Monarchie.
»Viele junge Islamisten stammen nicht aus religiösen Haushalten, sondern entdecken die Religion für sich neu. Die Ideologie bietet Antworten auf ihre individuellen psychosozialen Probleme.«
Das änderte sich jedoch rasch mit der Säkularisierungspolitik unter Gamal Abdel-Nasser. Nach einem gescheiterten Attentat auf Nasser wurden viele Muslimbrüder inhaftiert und hingerichtet, darunter auch Qutb. In Gefangenschaft schrieb er sein Hauptwerk, Die Zeichen auf dem Weg. Die Thesen dieses Buches sollten eine neue Generation gewaltbereiter Islamisten inspirieren. Darunter zählen auch die Al-Qaida-Gründer Osama Bin Laden und Ayman Az-Zawahiri. Aber auch ein gewisser iranischer Geistlicher namens Ruhollah Khomeini kam in Kontakt mit Qutbs Ideen. Sayyid Qutb wurde 1966 auf Befehl Nassers hingerichtet.
Neben dem Projekt einer islamischen Gesellschaftsordnung ist der Islamismus auch ein Narrativ. Für den Islamismus ist »der Westen« das große Andere – der Feind, der stets versucht, den Islam zu zerstören. Über Globalisierung, Medien oder Kriege versuche er, seine Ideen zu verbreiten – Ideen, die den Islam zersetzen würden. So wie ein Michael Stürzenberger vor einer »Islamisierung« warnt, so warnen Islamisten seit jeher vor einer »Verwestgiftung«.
Dieses Narrativ stellt aber auch eine große Schwäche dar. Die Realität islamischer Geschichte hat wenig mit der islamistischen Vision zu tun. Hizb ut-Tahrir und Co. träumen von einem Kalifat, das es so nie gab. Die »glorreiche« Zeit ohne die »Dekadenz« der westlichen Moderne gab es nie. Würde man einige der Demoteilnehmer aus Hamburg in eine Zeitmaschine stecken und in das Bagdad des 9. Jahrhunderts bringen, würden sie sich wohl kaum wohlfühlen.
Alkoholkonsum und homoerotische Poesie gab es in der Hauptstadt des Kalifats reichlich. Es war auch keine Utopie, in der nur islamische Identität zählte. Sozialer Stand und ethnische Zugehörigkeit waren damals mindestens genauso wichtig wie heute. Nicht einmal das erste Kalifat der vier rechtgeleiteten Kalifen – den Gefährten Muhammads – war eine solche Gesellschaft. Islamisten wollen über das Kalifat den Islam einen, dabei waren es die Konflikte des ersten Kalifats, die den Islam überhaupt spalteten.
Die Blütezeit des Islams war geprägt von Akzeptanz fremder Ideen. Es war eben nicht alles 100 Prozent islamisch. Selbst die großen muslimischen Gelehrten studierten die Schriften polytheistischer Heiden aus Indien und Griechenland. Die bedeutenden Denker islamischer Zivilisation konnten hervorragend mit den westlichen Aufklärern mithalten. Ibn Rushd war, wenn es um das Bild der Frau geht, sogar einigen Aufklärern voraus. Und mit dem blinden Al-Ma’arri gab es sogar einen Philosophen, der allgemeine Religionskritik betrieb, ja sogar Islamkritik.
In der deutschen Politik beschwert man sich von Links bis Rechts über die lokalen Moscheegemeinden. Viele stehen islamistischen Gruppen wie den Muslimbrüdern oder der Millî Görüş nahe. Andere unterstehen direkt fremden Staaten wie der Türkei, so auch DITIB, der größte Moscheeverband in Deutschland. Allein diese Türkei-nahen Verbände – neben DITIB zum Beispiel ATIB und IGMG – stellen eine direkte Bedrohung für Kurdinnen, Aleviten, Ezidinnen und türkische Dissidenten dar. Dies ist ein gravierendes Problem, das dringend einer Lösung bedarf. Aber wenn man etwas über die Geschichte des Islams in Deutschland weiß, dann weiß man auch, dass Islamismus hier ideale Bedingungen vorfand, um zu wachsen.
Inspiriert von den Ideen al-Bannas und Qutbs stürzten Islamisten im Jahr 1979 unter Führung von Ayatollah Khomeini die Pahlavi-Monarchie im Iran. Spätestens nach der Revolution im Iran war der Islamismus fest etabliert. In vielen der autoritär regierten Staaten der MENA-Region waren Islamisten häufig die einzig nennenswerte Opposition. Wer von den nationalistischen und sozialistischen Regierungen dieser Zeit enttäuscht war, blickte nun auf die dritte Option. Das waren teilweise mittelständische junge Akademiker, die eine »neue« Gesellschaft anstrebten, aber auch Angehörige der Arbeiterklasse, die am stärksten unter Korruption und staatlicher Ineffizienz zu leiden hatten.
Der Islamismus war eine Idee, die zumindest dem Anschein nach »originell« und kein westlicher Import war. Islamistische Parteien konnten ihre Beliebtheit auch dadurch stärken, dass sie in Sektoren eingriffen, bei denen die ineffizienten Staaten versagten. So bauten die Muslimbrüder Schulen, Kindergärten und Suppenküchen.
»Der Islam ist nicht das essenzielle Gegenteil des Westens. Und die Vergangenheit, in die Islamisten zurückwollen, ist ein Märchen.«
Ironischerweise hat sogar der erklärte Feind der Islamisten – der Westen – diese neue Ideologie anfangs gefördert. Während des Kalten Krieges wurden islamistische Milizen, Parteien und Regierungen teilweise als antikommunistische Kräfte gestärkt – eine Strategie, die bereits in den 1950ern unter Eisenhower formuliert wurde. Der damalige US-Präsident meinte, man müsse den »›Heiliger-Krieg‹-Aspekt« im Mittleren Osten betonen. Umgesetzt wurde das unter anderem in den 1970ern mit der Bewaffnung islamistischer Mudschahedin in Afghanistan. Unter ihnen war auch ein junger saudischer Freiwilliger namens Bin Laden.
Der Islamismus verbreitete sich global – zum Teil durch finanzielle Förderung von Gönnern in den Golfstaaten, jedoch auch durch Flucht. Viele Islamisten flohen vor dem arabisch-nationalistischen Regime unter Gamal Abdel Nasser aus Ägypten. Einige davon verschlug es nach Europa und so auch nach Deutschland. Der Schwiegersohn al-Bannas, Said Ramadan, hat 1960 das Islamische Zentrum in München gegründet.
Deutschlands Religionsrecht ist auf das Christentum ausgelegt. Man geht von der Existenz einer Kirche aus – einer Institution, die eigenständig ist und selbst für die Bedürfnisse ihrer Gläubigen sorgen kann. So etwas existiert aber im Islam nicht – wie auch in den meisten anderen Religionen nicht. Aber wenn eine solche Institution nicht existiert, wer baut dann die Moscheen, wer kümmert sich um die Gläubigen? Der Staat wird es aus Neutralitätsgründen nicht tun. Stattdessen sucht er nach geeigneten Partnern.
Aber wer hat die Ressourcen und Mittel dazu? Wer kann etwa einen Moscheebau finanzieren? Wer bildet Imame aus? Fremde Staaten oder politische Bewegungen mit einem großen internationalen Netzwerk zum Beispiel. Aus Ägypten geflohene Muslimbrüder haben den Islam in Deutschland mitaufgebaut. Sie, die Türkei und andere Staaten und islamistische Parteien haben die Lücke gefüllt. Sie haben die Rolle der öffentlichen Vertreter der Muslime in Deutschland übernommen – schlicht, weil niemand anderes dazu in Lage war.
Moscheeverbände sind aber nur ein Aspekt der islamistischen Szene in Deutschland. Gerade die Radikalisierung von Gewalttätern findet nicht zwangsläufig in einem Gebetsraum statt. Dschihadistische Islamisten haben bereits früh das Internet als Medium für sich entdeckt. Über Online-Plattformen wird vor allem eine junge Zielgruppe erreicht – speziell eine perspektivlose Generation von jungen, vorwiegend männlichen Muslimen. Der Islamismus bietet einfache Antworten auf die wirtschaftlichen und sozialen Fragen junger migrantischer Muslime.
Warum findest du keine Arbeit? Weil sie dich hier wegen deines Glaubens ausschließen. Warum bist du deprimiert? Weil diese Gesellschaft ohne Werte und Prinzipien ist. Der Islamismus bietet Antworten, Identität und Guidelines. Vor allem bietet er aber einen Schuldigen: den Westen. Der Attentäter von Mannheim ist ein Paradebeispiel für diese Zielgruppe. Er kam mit vierzehn zusammen mit seinem Bruder nach Deutschland. Er machte seinen Hauptschulabschluss, lernte Deutsch, gründete eine Familie, blieb aber arbeitslos. Auf Youtube entdeckte er dann die Predigten afghanischer Islamisten, die zum Krieg gegen den Westen aufrufen. Radikalisiert hat er sich dennoch in Deutschland.
»Muslime werden als das Problem betrachtet und nicht als Gleichwertige. Sie werden nicht als Teil der Gesellschaft behandelt, mit dem man gemeinschaftlich nach einer Lösung sucht.«
Forschungsergebnisse zeigen, dass bei der Radikalisierung die Religion häufig kein entscheidender Faktor ist. Viele junge Islamisten stammen nicht aus religiösen Haushalten, sondern entdecken die Religion für sich neu. Die Ideologie bietet Antworten auf ihre individuellen psychosozialen Probleme. Ein gewisser deutscher Wirtschaftsphilosoph hätte dies wohl als »Opium« oder »Ausdruck des wirklichen Elends« bezeichnet. Sozialarbeit und andere klassische Präventionsmaßnahmen sind hier zwar notwendig, aber auch die besonderen Umstände, die jemanden in die Arme des Islamismus treiben, müssen mitgedacht werden.
Das Problem mit den Moscheeverbänden wiederum ist struktureller Natur. Wer keine türkischen Imame von der DITIB und Co. will, muss Alternativen bieten. Hierzu gibt es sogar schon einige richtige Schritte, mit neuen Lehrstühlen für islamische Theologie. Wer keine Finanzierung aus dem Ausland möchte, muss Moscheegemeinden Möglichkeiten geben, sich zu finanzieren. Das ist weiterhin eine sehr große Baustelle. Wer ständig von »Integration« redet, sollte vielleicht Formen schaffen, die die Religion auch integrieren. In Westkurdistan zum Beispiel gibt es Räte für Vertreter unterschiedlicher Religionen.
Aber sind wir als Gesellschaft bereit dazu, uns auch dem Islam anzupassen? Viel eher wird das Umgekehrte gefordert. Der Islam müsse sich Deutschland und seiner »Leitkultur« anpassen. Ich als Muslim verstehe mich selbst als progressiv. Ich bin absolut für eine zeitgemäße Lesart des Islams. Aber gerade die Forderung nach Anpassung und »deutschem« Islam ist absolut kontraproduktiv.
Der Islam ist nicht das essenzielle Gegenteil des Westens. Und die Vergangenheit, in die Islamisten zurückwollen, ist ein Märchen. Hier sollte man den Islamismus angreifen. Aber das wird nicht getan, im Gegenteil. Nicht einmal die liberalen Vorzeige-Muslime versuchen es. Sie sind es, die am lautesten nach einem »deutschen« Islam rufen. Die Imamin Seyran Ateş macht es vor und nennt Martin Luther als ihr Vorbild. Der Theologe Abdel-Hakim Ourghi nagelte 2017 sogar seine Thesen an die Tür der Berliner Dar-Assalam-Moschee – ein PR-Stunt für sein damaliges Buch.
Aber Luther, der Judenhasser, als Vorbild? Oder doch lieber der Fanatiker Calvin, der in Genf eine Theokratie etablierte? Wie kann man die christliche Reformation hier als Vorbild nehmen? Viele der Reformatoren hatten mehr mit den Vordenkern des Islamismus gemein als mit progressiven Muslimen. Sollen deutsche Muslime so werden wie die Evangelikalen in den USA? Die meisten von ihnen sind Mitglieder reformierter Kirchen. Es ist klar, was der Bezug auf Luther hier soll: Diese Muslime möchten verdeutlichen, dass die deutsche Leitkultur Teil ihres Islams ist.
Aber muss Islam erst deutsch oder europäisch werden, um Frauen- oder LGBTIQ-Rechte zu respektieren? Muss er erst ein Teil dieser Kultur werden, um demokratisch zu sein? Ist es nicht rassistisch, anzunehmen, dass ein arabischer, kurdischer, indonesischer oder sudanesischer Islam das alles nicht sein kann? Welche Botschaft sendet man mit solchen Forderungen?
»Man kann Islamismus nicht einfach abschieben. Besonders dann nicht, wenn die Radikalisierung in Deutschland selbst stattfindet.«
Der aktuelle Diskurs in Deutschland verhindert nicht Islamismus, er schwächt ihn nicht, er gibt ihm recht. Jedes Mal, wenn man von »Leitkultur« redet, gibt man ihm recht. Immer dann, wenn man einen »deutschen«, »französischen« oder sonst wie »europäischen« Islam fordert, stimmt man ihm zu. Immer, wenn man von »Aufklärung« und »Reformation« spricht, stärkt man ihn. Weder die Linke noch die bürgerliche Mitte noch die liberalen Muslime wirken hier entgegen.
Es ist, als würden man laut sagen: Ja, ihr habt recht. Menschenrechte, Demokratie, Religionsfreiheit, Frauenrechte, sexuelle Freiheit und so weiter – all das ist nicht eures, es ist unseres. All das gehört nicht zu eurer Kultur, es ist unsere Kultur. Und wenn eure Religion all diese Dinge haben soll, dann muss sie erst europäisch werden.
Allein die sinnlose Kopftuchdebatte verdeutlicht das. Es geht dabei nicht um Integration oder die Befreiung der Frau. Es geht darum, etwas unsichtbar zu machen, das man als fremd und invasiv betrachtet. Man antwortet auf Kulturessenzialismus mit mehr Kulturessenzialismus. Der Kampf der Kulturen ist das Herzstück des Islamismus. Und »Leitkultur«-Fans liefern ihm diesen Kampf.
Die Bilanz zum Umgang mit Islamismus ist ein Armutszeugnis. Zuerst hat die Mehrheitsgesellschaft die muslimischen Gemeinden der Gastarbeitergeneration derart ignoriert, dass sie zu einem guten Nährboden für die Ideologie wurden. Anstatt das Weltbild des Islamismus zu widerlegen, wurde sich auf den Kulturkampf eingelassen und dieser weiter befeuert. Und alle Alternativen, die als »guter Islam« präsentiert werden, sind nicht für Muslime geschaffen, sondern für die deutsche Mehrheitsbevölkerung. Und da wundert man sich, dass es nicht besser wird?
Wenn wir den Islamismus bezwingen wollen, kommen wir um gewisse Dinge nicht herum. Man kann Islamismus nicht einfach abschieben. Besonders dann nicht, wenn die Radikalisierung in Deutschland selbst stattfindet. Lösungsansätze müssen an die Lebensrealität speziell von migrantischen Muslimen anknüpfen. Auf der Suche nach Gemeinschaft, Zusammenhalt und Antworten fallen viele in die Arme von Islamisten. Die Frage ist, welche Alternativen gerade linke und Arbeiter-Strukturen hier bieten können.
Muslime werden als das Problem betrachtet und nicht als Gleichwertige. Sie werden nicht als Teil der Gesellschaft behandelt, mit dem man gemeinschaftlich nach einer Lösung sucht. Deswegen scheinen einige auch zu glauben, dass mit der Abschiebung jedes Straftäters und Islamisten schon alles gut wird.
Ilyas Ibn Karim ist Religions- und Kulturwissenschaftler mit muslimischem Hintergrund.