30. Juni 2024
Israels Atomprogramm ist ein offenes Geheimnis, das erst durch die Unterstützung westlicher Länder entstehen konnte. Die zynische Missachtung der nuklearen Nichtverbreitung macht die Welt gefährlicher für uns alle.
Israelische Soldaten im Gazastreifen während der Operation »Protective Edge«.
Flickr / Israel Defense ForcesDas israelische Atomwaffenprogramm ist seit über fünfzig Jahren ein offenes Geheimnis. Durch die Freigabe von Dokumenten und die bessere Verfügbarkeit von Satellitenbildern ist das Ausmaß des israelischen Atomprogramms inzwischen weitgehend aufgedeckt. Ebenso haben Whistleblower wie Mordechai Vanunu – ein israelischer Nukleartechniker, der das geheime Programm seines Landes öffentlich machte und anschließend von Mossad-Agenten in Italien entführt wurde, bevor er 1986 nicht-öffentlich vor Gericht gestellt und zu 18 Jahren Haft verurteilt wurde – ihren Teil beigetragen und viel Mut bewiesen.
Die Vereinigten Staaten und andere atomar bewaffnete Staaten sowie eine Vielzahl von Gremien, die für die Überwachung der Verbreitung derartiger Waffen zuständig sind, halten derweil an der bisherigen Politik fest, die Existenz der israelischen Atomwaffen nicht offiziell auszusprechen und anzuerkennen.
Die institutionelle Geheimhaltung treibt teils erstaunliche Blüten, ist wirkmächtig und weitreichend. So wurde etwa ein Angestellter der US-Behörden entlassen, weil er israelische Atomwaffen ansprach. Auch die amerikanische Wikipedia-Seite zum Thema windet sich sprachlich um explizite Verweise auf die Existenz dieser Waffen (die entsprechende Seite kann von den allermeisten Wikipedia-Usern nicht bearbeitet werden).
Die Herangehensweise ist offenbar effektiv: Laut einer Umfrage aus dem Jahr 2021 glauben mehr Amerikanerinnen und Amerikaner, dass der Iran Atomwaffen haben könnte, als dass Israel welche besitzt. Dabei ist es in Wirklichkeit wohl umgekehrt.
Die Mauer des Schweigens hat sich allerdings als bemerkenswert rissig erwiesen: In den ersten Tagen des israelischen Krieges in Gaza erklärte ein Regierungsmitglied offen, man könne den Einsatz von Atomwaffen im Gazastreifen in Erwägung ziehen; in US-amerikanischen Militär-Thinktanks fragt man sich indes, ob Israels Geheimhaltung des Atomprogramms dem Land mehr schaden als nützen könnte.
Rein strategisch gilt für Atomwaffen normalerweise: Es gibt keinen guten Grund, welche zu besitzen, wenn man dies niemandem sagt. Einschüchterung ist genauso Teil der Abschreckungspolitik wie der tatsächliche Einsatz. Wenn niemand weiß, dass ein Land auf einen Angriff mit der gewaltigen Kraft eines nuklearen Gegenangriffs reagieren kann, warum sollte ein potenzieller Aggressor dann zögern?
»Das Programm für israelische Atomwaffen ist so alt wie der Staat selbst.«
Allerdings widerlegen die anhaltenden Angriffe der Hisbollah auf den Norden Israels, die bisher zur Evakuierung von über 90.000 Menschen geführt haben, die Vorstellung, dass der Besitz von Atomwaffen vollständigen Schutz bietet. In einer kürzlich gehaltenen Rede machte Hassan Nasrallah, der Generalsekretär der Hisbollah, deutlich, dass es kein Ziel in Israel gäbe, das vor einem Vergeltungsschlag sicher wäre, sollte die israelische Regierung gewisse rote Linien überschreiten. Es ist somit keinesfalls ausgemacht, dass Israels Atomwaffen allein einen existenzbedrohenden Angriff auf das Land verhindern könnten. Allerdings hat Israel durch seine guten Beziehungen zu den USA eine Reihe beeindruckender offensiver und defensiver nicht-nuklearer Fähigkeiten. Darüber hinaus droht für Angreifer stets die noch größere Gefahr eines militärischen Einschreitens der USA – ein Drohszenario, dass die israelische Regierung gerne nutzt.
Würden die USA ihre eigenen Richtlinien konsequent durchsetzen, würde Israels faktischer Status als »Staat im Besitz von Atomwaffen« den israelischen Zugang zu US-Unterstützung direkt gefährden. Das Glenn Amendment zum US Arms Export Control Act verbietet ausdrücklich Waffenhilfen für Länder, die nach 1977 Atomwaffen getestet haben (wie Israel im Jahr 1979), und sieht sogar Sanktionen gegen diese Staaten vor. Dass das israelische Atomwaffenprogramm weiterhin eine bizarre Sonderstellung und Rücksichtnahme erfährt, lässt bereits erahnen, was die Verbreitung von Atomwaffen weltweit begünstigt.
Die Nicht-Anerkennung der israelischen Atomwaffen ist heute Teil der grundsätzlichen Haltung der Vereinigten Staaten, israelische militärische Bestrebungen zu unterstützen – unabhängig von den finanziellen oder strategischen Kosten. Der Grund, warum Israel überhaupt Atomwaffen besitzt, hat jedoch weniger mit seinen Beziehungen zu den USA zu tun, sondern vielmehr mit diversen geopolitischen Kräften, die die Verbreitung von Atomwaffen vorangetrieben haben, seit die Amerikaner die erste Bombe auf Japan warfen.
Das Programm für israelische Atomwaffen ist so alt wie der Staat selbst. Wie der israelisch-amerikanische Autor Avner Cohen in Israel und die Bombe detailliert darlegt, wurde ein Atomprogramm von Israels Führern praktisch seit der Gründung des Staates im Jahr 1948 diskutiert. David Ben-Gurion, der erste Premierminister des Landes, interessierte sich persönlich sehr für Nukleartechnologien im Besonderen und für Wissenschaft und Technologie als Grundlagen moderner Staatsführung im Allgemeinen.
Bereits 1949 forschte Israel nach möglichen Uranvorkommen in der Negev-Wüste im Süden des Landes. Als sich diese als unzureichend erwiesen, wurden Techniken entwickelt, um aus den relativ geringen Ressourcen, die Israel zur Verfügung standen, brauchbares Kernmaterial herzustellen. Schließlich wandte sich die israelische Führung an die Vereinigten Staaten als potenzielle Quelle für die Rohstoffe, die für den Aufbau eines Atomprogramms notwendig gewesen wären.
»Heute bemühen sich vor allem die Vereinigten Staaten darum, das israelische Atomwaffenprogramm vor Kritik und allzu viel Öffentlichkeit abzuschirmen.«
Direkt nach dem Zweiten Weltkrieg zeigten sich die USA aber nicht bereit, das benötigte Material ohne israelische Garantien zu liefern. Diese Gegenleistungen galten in der israelischen Führung als inakzeptable Hürde. Stattdessen wandte man sich daher an andere Länder mit Atomprogrammen in unterschiedlichen Entwicklungsstadien, insbesondere an Frankreich und Norwegen, zwei von nur drei europäischen Ländern, die in den frühen 1950er Jahren Atomreaktoren betrieben.
Israel und Frankreich teilten eine Reihe von geopolitischen Interessen. Wohl am wichtigsten: Beide waren Gegner der ägyptischen Regierung unter Präsident Gamal Abdel Nasser. Die Franzosen – motiviert von neokolonialem Idealismus – nahmen Nasser die Verstaatlichung des Suezkanals übel; Israel fühlte sich natürlich durch Nassers arabischen Nationalismus bedroht.
Damals herrschte Skepsis, dass ein US-amerikanischer Nuklearschirm tatsächlich Sicherheitsgarantien bieten könnte. Nationen wie Frankreich sahen sich deswegen veranlasst, eine Politik der strategischen Autonomie zu verfolgen. Das bedeutete auch, die globale Verbreitung von Atomwaffen zu fördern, wenn dadurch die eigenen geopolitischen Interessen gesichert werden konnten.
Heute bemühen sich vor allem die Vereinigten Staaten darum, das israelische Atomwaffenprogramm vor Kritik und allzu viel Öffentlichkeit abzuschirmen. Ähnlich wie Frankreichs Feindseligkeit gegenüber einer von Nasser angeführten antiwestlichen Ordnung ist auch das israelisch-amerikanische Bündnis stark von der Angst vor Dritten motiviert. Dazu gehört natürlich der Iran, aber auch jeder andere antiamerikanisch eingestellte Staat, der sein eigenes Atomprogramm entwickelt oder entwickeln könnte. Im Gegenzug lässt sich allerdings auch festhalten: Israels Atomwaffen sowie der Fakt, dass ein bestimmter Teils der US-Politelite sich seit Längerem für einen Krieg gegen den Iran ausspricht, sind zwei sehr starke Faktoren, die den Iran seinerseits dazu bringen könnten, Atomwaffen zu entwickeln.
Derzeit besitzt der Iran offiziell keine Atomwaffen, wobei Fachleute aber davon ausgehen, dass das Land diese gegebenenfalls schnell bauen könnte. Mit dem Atomabkommen von Ex-Präsident Barack Obama aus dem Jahr 2015 waren die Möglichkeiten des Irans, eine Atomwaffe zu entwickeln, eingeschränkt und ein Inspektions- und Überwachungsregime eingeführt worden, das anderen Ländern die Zusicherung bieten sollte, dass der Iran keine Atomwaffen entwickeln wird. Israel hatte das Abkommen mit der Begründung abgelehnt, es gehe nicht weit genug. Man könne nicht ausschließen, dass der Iran eines Tages trotzdem eine Atomwaffe bauen werde. In einem ähnlichen Alles-oder-Nichts-Ansatz entschied die US-Regierung unter Donald Trump 2018, das Abkommen aufzukündigen.
Da der Krieg in Gaza weitergeht und sich womöglich auf die gesamte Region ausweiten könnte, scheint es nur noch eine Frage der Zeit zu sein, bis der Iran tatsächlich eine Atombombe baut. Im Zuge der jüngsten groß angelegten Raketenangriffe auf Israel kündigte die iranische Führung an, man werde die bisherige Selbstverpflichtung, keine Atomwaffen zu entwickeln, rückgängig machen, falls Israel iranische Atomanlagen als Vergeltungsaktion attackiert. Es liegt auf der Hand, dass der andauernde Konflikt zwischen Tel Aviv und Teheran noch viel gefährlicher werden könnte: Selbst kleinste Zwischenfälle hätten das Potenzial, zu einer dramatischen und verheerenden Situation zu eskalieren.
»Es sind die Staaten mit den meisten Atomwaffen, die am eisernsten an der Logik festhalten, dass solche Massenvernichtungswaffen der einzige Schutz gegen existenzielle Bedrohungen sind.«
Tatsächlich hat die fehlende Bereitschaft, sich für die Nichtverbreitung von Atomwaffen einzusetzen, zu eben dieser Verbreitung von Atomwaffen geführt. So hat beispielsweise Saudi-Arabien in den vergangenen Jahren gewisse Nuklear-Ambitionen gezeigt. Kronprinz Mohammed bin Salman hat in der US-Presse erklärt, Saudi-Arabien müsse Atomwaffen entwickeln, wenn der Iran dies tue. Wie bereits erwähnt, stünde dies gegen die offizielle US-Politik im Rahmen des Glenn Amendment. Die Beziehungen zu Saudi-Arabien leiden darunter aber nicht; vielmehr drängen die Vereinigten Staaten auf ein sogenanntes »Normalisierungsabkommen« zwischen Saudi-Arabien und Israel (das übrigens auch einen »glaubwürdigen Weg zu einem palästinensischen Staat« vorsieht). Saudi-Arabien wiederum fordert, die USA sollten Atomtechnologie liefern – offiziell natürlich für das saudische Stromversorgungsprogramm.
Für die USA ergibt sich ein Dilemma: Sie müssen ihr Interesse an der Nichtverbreitung von Atomwaffen gegen ihr allgemeines Engagement für die bisherige globale Hegemonie abwägen. Die US-Hegemonie droht untergraben zu werden, wenn China (das Washington inzwischen als seinen Hauptkonkurrenten sieht) technische Unterstützung für gewisse nationale Atomprogramme leisten würde. Dies ist in Saudi-Arabien bereits vorgekommen: Letztes Jahr hat China eine Ingenieur-Delegation entsandt, um die Uranvorkommen in der Golfmonarchie zu erkunden. Es scheint allerdings unwahrscheinlich, dass diese Vorkommen für ein ernstzunehmendes Atomprogramm geeignet wären.
Atomwaffenexperten fordern weitere Sicherheitsvorkehrungen, die die Entwicklung eines saudischen Atomwaffenprogramms verhindern könnten. Doch anders als im Fall der israelischen Suche nach Nuklearmaterial [in der Nachkriegszeit] scheint diese Drohung sich nicht sonderlich stark auf die offen geäußerten Nuklearambitionen des Königreichs auszuwirken. Manchmal hat es den Anschein, die US-Politik zum Thema basiere heute darauf, dass man stillschweigend akzeptiert hat, in der globalen Atomwaffenverbreitung machtlos zu sein. Anstatt zu versuchen, die Weiterverbreitung von Atomwaffen zu verhindern, sehen sich die USA zunehmend gezwungen, dort, wo es noch möglich ist, die Rolle des wichtigsten nuklearen Schutzherren zu sichern.
Mit Blick auf den laufenden Krieg in Gaza ist Israels Besitz von Atomwaffen weitgehend irrelevant. Das Land hat schon mit seinen konventionellen Waffen eine überwältigende Überlegenheit auf dem Schlachtfeld – was Zehntausende Zivilistinnen und Zivilisten das Leben kostet.
Der Besitz von Atomwaffen verstärkt jedoch die Weltsicht, die Israels allgemeinem politischen Kalkül zugrunde liegt (und bis zu einem gewissen Grad auch dem jedes anderen atomar bewaffneten Landes): dass die eigene Existenz ständig bedroht ist und es daher nur vernünftig ist, die Mittel zu besitzen, um auf solche Bedrohungen mit geradezu unbegrenzter Gewalt reagieren zu können.
Es sind die Staaten mit den meisten Atomwaffen – Russland und die USA – die am eisernsten an der Logik festhalten, dass solche Massenvernichtungswaffen der einzige Schutz gegen existenzielle Bedrohungen sind. Beide haben es immer wieder vermieden, die sehr realen, unmittelbaren Risiken für die Sicherheit der gesamten Menschheit, die die Existenz von Atomwaffen nun einmal darstellen, zu deeskalieren. Damit haben sie einen Präzedenzfall für alle anderen Länder der Welt geschaffen: Atomwaffen erscheinen so als einzige echte Garanten für die eigene Sicherheit.
Ohne ein ernsthaftes Engagement der Staaten, die es sich wirklich leisten könnten, die Bedeutung von Atomwaffen in der Weltpolitik zu verringern, wird die Weiterverbreitung von Atomwaffen de facto gefördert. Israels Status als Atommacht (die diese Stärke nicht einmal offiziell betonen muss) ist in dieser Hinsicht keine besondere Ausnahme, sondern vielmehr ein Beispiel für andere Staaten, die mit dem Gedanken spielen, sich Atomwaffen zuzulegen.
Emma Claire Foley ist Autorin und Filmemacherin aus New York. Ihre Arbeiten erschienen unter anderem bei Newsweek, NBC und The Guardian.