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Das Online-Magazin von JACOBIN Deutschland

09. Dezember 2025

»Massaker« begehen immer nur die anderen

Israels Gewalt wird relativiert, Gewalt gegen Israel dramatisiert. Eine exklusive Auswertung von 11.125 Beiträgen belegt das tendenziöse Framing deutscher Leitmedien in der Nahost-Berichterstattung.

Gaza: Hier haben laut deutschen Medien wenige bis keine »Großangriffe« stattgefunden.

Gaza: Hier haben laut deutschen Medien wenige bis keine »Großangriffe« stattgefunden.

IMAGO / Anadolu Agency

Sprache schafft Wirklichkeit. Diesen Satz haben wahrscheinlich die meisten Journalisten in ihrer Ausbildung gehört. Damit einher geht die Verantwortung, mit diesem mächtigen Werkzeug gewissenhaft umzugehen. Wie irreführend und manipulativ Sprache eingesetzt werden kann, konnte man in den letzten Jahren in der deutschen Nahost-Berichterstattung immer wieder erleben.

Da wurden völkerrechtswidrige Invasionen zu »begrenzten Bodenoperationen«, Flächenbombardements zu »präzisen Gegenschlägen«, Angriffskriege zu »Vorwärtsverteidigungen«, die Bombardierung wehrloser Menschen zu »Kämpfen« und »Gefechten«, gewaltsame Vertreibungen zu »Evakuierungen«, die Schauplätze von Massakern zu »Schutzzonen«, das Zuhause von Millionen Menschen zu »Terror-Hochburgen«.

Welche Formulierungen wählen deutsche Medien, um über Gewalttaten im Nahen Osten zu berichten? Das ist die Frage, die diese Untersuchung anhand folgender Medien beantworten will: der Tagesschau als größtem deutschen Nachrichtenformat, der Bild als größter Tageszeitung, der Zeit als größter Wochenzeitung, dem Spiegel als größtem Nachrichtenmagazin und der Taz als größtem Medium mit explizit linkem Selbstverständnis. Untersucht wurden insgesamt 11.125 Beiträge mit Nahost-Bezug, die zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 19. Januar 2025 – dem Beginn der zwischenzeitlichen Waffenruhe – auf den Websites dieser Medien erschienen sind.

»Attacken Israels gegen Menschen in Gaza, im Libanon und andernorts gelten deutschen Redaktionen in aller Regel nicht als ›Großangriff‹ – ganz gleich, wie groß sie sind.«

»Gegenangriffe« führt fast immer Israel durch

»Israel wird seit dem Morgen massiv angegriffen von der radikal-islamischen Hamas. Militante Kämpfer der Terrororganisation drangen auf israelisches Staatsgebiet vor. Örtliche Medien berichten von mindestens 150 Toten und mehr als 1.000 Verletzten. Das Militär reagierte mit Gegenschlägen.« Mit diesen Worten begann am 7. Oktober 2023 die Berichterstattung der Tagesschau über die aktuelle Gewalt in Nahost. Für die Gewalttaten der Hamas benutzte die Tagesschau den neutralen Begriff »angreifen«, der keine Wertung beinhaltet oder einen Zusammenhang mit vorangegangenen Ereignissen herstellt. Für Israels Gewalttaten entschied sich die Redaktion hingegen für die kontextualisierende Formulierung »reagierte mit Gegenschlägen«.

1015-mal war in den 15 darauffolgenden Monaten bei Bild, Spiegel, Tagesschau, Taz und Zeit von einem »Gegenangriff« oder einem »Gegenschlag« die Rede. In 806 Fällen (79,4 Prozent) waren damit israelische Angriffe gemeint. Anders als die neutralere Bezeichnung »Angriff« verweist der Begriff »Gegenangriff« auf eine Vorgeschichte der Gewalttat und legitimiert sie damit ein Stück weit. Aus der Aktion wird sprachlich eine Reaktion, aus dem Angreifer ein Verteidiger.

Weit abgeschlagen auf Platz zwei im Ranking der »Gegenangriffe« und »Gegenschläge« landete der Iran. Dessen Gewalttaten wurden in 96 Fällen (9,5 Prozent) als »Gegenangriff« oder »Gegenschlag« bezeichnet. In 48 von 1015 Fällen (4,7 Prozent) verwendeten deutsche Redaktionen die Bezeichnungen »Gegenangriff« oder »Gegenschlag« für Angriffe der Hisbollah auf Israel. Auffällig: In fast allen diesen Fällen handelt es sich um Zitate, meist von Hisbollah-Funktionären oder anderen libanesischen Politikern. Zu eigen machten sich die untersuchten Medien die Bezeichnung hingegen kaum.

Nur Palästinenser reagieren nie auf Angriffe

Während sich in den Fällen von Hisbollah und Iran zumindest vereinzelt Redakteure dafür entschieden, Angriffe in den Kontext vorangegangener israelischer Ereignisse zu stellen, handelte es sich bei den Gewalttaten einer Gruppe laut deutschen Medien nie um Reaktionen: denen von Palästinensern.

In 11.125 Beiträgen und fünfzehn Monaten Berichterstattung findet sich kein einziger Fall, in dem Bild, Spiegel, Tagesschau, Taz oder Zeit palästinensische Gewalttaten als »Gegenangriff« oder »Gegenschlag« bezeichneten. Dabei hätten angesichts tausender israelischer Angriffe für die Redaktionen jede Menge Gelegenheiten bestanden, darauf folgende palästinensische Gewalttaten sprachlich in den Kontext früherer Ereignisse zu setzen. Sie taten dies allerdings kein einziges Mal. Weder wurde der Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 sprachlich als Reaktion auf vorangegangene israelische Gewalttaten oder die Umstände von Besatzung und Blockade dargestellt, noch fand dies bei späteren palästinensischen Gewalttaten wie Raketenangriffen statt.

Man mag diese Ergebnisse zum Teil mit der Annahme erklären, dass die jüngste Gewalteskalation im Nahen Osten mit dem Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 begann und Israels Angriffe deshalb korrekt als Reaktion beschrieben werden. Selbst wenn man dieser These folgt und die Vorgeschichte des 7. Oktobers ausblendet, die jede Menge Gründe liefert, auch die Gewalt der Hamas als Reaktion zu beschreiben, gibt es einige Argumente gegen diese Deutung.

Nicht nur jene Angriffe, die unmittelbar auf die Hamas-Angriffe vom 7. Oktober folgten, wurden in deutschen Medien als Reaktion beschrieben. Stattdessen finden sich entsprechende Bezeichnungen auch noch Monate später für israelische Angriffe in den unterschiedlichsten Zusammenhängen. Am 1. Dezember 2023 berichtete die Tagesschau zum Beispiel: »Die Hamas feuerte am Morgen noch vor Ende der Waffenruhe Raketen auf Israel ab. Die israelische Armee reagierte mit Gegenschlägen.« Dass die Hamas ihrerseits mit ihrem Raketenangriff auf vorangegangene israelische Angriffe reagierte, wurde in der Berichterstattung nicht deutlich.

Israelische Gewalttaten werden in deutschen Medien oftmals grundsätzlich als Reaktion dargestellt – ganz unabhängig vom konkreten Kontext. Während palästinensische Angriffe ohne jede Vorgeschichte scheinbar einfach so passieren, handelt es sich bei israelischen Angriffen quasi per Definition um Reaktionen auf frühere Ereignisse. Ein Jahr Krieg und Genozid in Nahost, bei dem auch zehntausende Palästinenser ihr Leben verloren, fasste die Tagesschau am 7. Oktober 2024 zum Beispiel wie folgt zusammen: »Die Terroristen ermorden im Süden Israels fast 1200 Menschen und verschleppen über 240 in den Gazastreifen. Israel reagiert mit Luftangriffen.«

»Groß« sind immer die Angriffe der anderen

»Die radikalislamische Palästinenserorganisation Hamas hatte am 7. Oktober einen beispiellosen Großangriff auf Israel begonnen«, erfuhren die Leser der Taz am 29. Oktober 2023. 1.188-mal war in fünfzehn Monaten Nahost-Berichterstattung von Bild, Spiegel, Tagesschau, Taz und Zeit von einem »Großangriff« die Rede. In 955 Fällen (80,4 Prozent) war damit der Angriff der Hamas und anderer palästinensischer Gruppen vom 7. Oktober 2023 gemeint. Auf einem weit abgeschlagenen zweiten Platz im »Großangriff«-Ranking folgt der Iran, dessen Angriffe 161-mal (13,6 Prozent) als Großangriff bezeichnet wurden.

Auffällig selten wählten deutsche Medien hingegen den Begriff »Großangriff« für jenen Akteur, der mit Abstand die meisten und größten Angriffe durchgeführt hat: Auf gerade einmal 50 »Großangriffe« (4,2 Prozent) brachte es Israels Armee in fünfzehn Monaten Berichterstattung und schaffte es damit knapp vor die Hisbollah, für deren Attacken deutsche Redaktionen 38-mal den Begriff »Großangriff« (3,2 Prozent) wählten.

Noch fragwürdiger wirkt die Begriffswahl deutscher Redaktionen, schaut man sich an, für welche Angriffe genau der Begriff »Großangriff« verwendet wurde. Bei den iranischen »Großangriffen« handelte es sich um zwei Angriffe vom 14. April 2024 und 1. Oktober 2024. Eine Schlagzeile der Tagesschau vom 14. April lautete etwa: »Beispielloser Großangriff des Iran auf Israel«. Beide iranische »Großangriffe« waren jedoch weit weniger groß als ein durchschnittlicher israelischer Angriff im Gazastreifen, von denen es in den Monaten zuvor hunderte gab – sowohl was Schäden und Opfer als auch die Sprengkraft der eingesetzten Raketen und Drohnen betrifft.

»Von den hunderten israelischen Massakern mit zehntausenden palästinensischen und libanesischen Toten wurde kein einziges in Bild, Spiegel, Taz, Tagesschau und Zeit als solches bezeichnet.«

Beim »beispiellosen Großangriff« vom 14. April 2024 kamen etwa 300 Drohnen und Raketen zum Einsatz, die auch nach israelischer Darstellung über eher geringe Sprengkraft verfügten. Von diesen schlugen insgesamt neun Raketen in oder in der Nähe zweier israelischer Militärflugplätze ein. Todesopfer hatte der Angriff nicht zur Folge. Einen ähnlichen Umfang hatte der Angriff des Iran vom 1. Oktober 2024, bei dem ein Mensch ums Leben kam.

Zum Vergleich: Laut Recherchen von CNN setzte Israel bei seinen Angriffen auf den Gazastreifen in den ersten Wochen durchschnittlich 400 Raketen und Bomben pro Tag ein. Viele dieser Raketen und Bomben verfügten zudem über ein Vielfaches der Sprengkraft der iranischen Geschosse. Anders als die iranischen Raketen handelte es sich bei etwa der Hälfte der israelischen Bomben außerdem um sogenannte »Dumb Bombs«, also ungelenkte Bomben, die nicht präzise ihr Ziel treffen können und deshalb zwangsläufig zu hohen Verlusten in der Zivilbevölkerung führen. Auch am Tag des »iranischen Großangriffs« attackierte Israels Armee den Gazastreifen und tötete dabei mindestens 43 Menschen. Als »Großangriff« wurde dieser israelische Angriff genauso wenig bezeichnet wie hunderte andere.

Die Absurdität der Bezeichnung »Großangriff« für einen Angriff, der auch laut offiziellen Stellungnahmen iranischer Offizieller eher symbolische Bedeutung hatte, wurde selbst in einigen Medienberichten deutlich – wenn auch unfreiwillig: »Geringe Schäden durch Irans Großangriff auf Israel«, titelte die Tagesschau am 14. April 2024.

Auf israelischer Seite lösen sich selbst die wenigen Fälle, in denen Redaktionen die Bezeichnung »Großangriff« für israelische Attacken wählten, bei genauerem Hinschauen in Luft auf. Von den 50 Treffern entfallen die meisten auf Zitate oder Befürchtungen über einen bevorstehenden israelischen »Großangriff« – meist auf die palästinensische Stadt Rafah. »USA wollen keine Waffen für Großangriff auf Rafah liefern«, titelte die Tagesschau beispielsweise am 9. Mai 2024. Für den real stattgefundenen israelischen Großangriff auf Rafah, in dessen Folge tausende Menschen getötet, über eine Million Menschen vertrieben und die Stadt nahezu vollständig zerstört wurde, findet sich der Begriff »Großangriff« allerdings nicht.

Von der Größe des Angriffs hängt es also nicht ab, wann Redaktionen den Begriff »Großangriff« nutzen. Woran liegt es dann? Die Antwort ist klar: Entscheidend ist nicht das Ausmaß des Angriffs, sondern wer ihn ausführt und wer von ihm betroffen ist. Als »groß« gelten Angriffe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit für deutsche Leitmedien dann, wenn sie sich gegen Israel richten. Attacken Israels gegen Menschen in Gaza, im Libanon und andernorts gelten deutschen Redaktionen in aller Regel nicht als »Großangriff« – ganz gleich, wie groß sie sind. Dieses Schema wird bei einem weiteren Begriff noch klarer, der fast ausschließlich für Gewalttaten vorbehalten ist, die sich gegen Israel richten.

Nur Palästinenser begehen »Massaker«

»In der Nacht überraschte die ultra-islamistische Terrororganisation Hamas Israel mit einem komplexen Großangriff und richtete ein Massaker an«, berichtete Bild am 7. Oktober 2023. »Bei ihrem Angriff auf Israel haben militante Palästinenser auf einem Musikfestival ein Massaker angerichtet«, erfuhr am selben Tag das Publikum der Tagesschau. »Bei einem Friedensfestival, das in der Nähe der Grenze zum Gazastreifen stattfand, richteten die Angreifer ein Massaker an«, hieß es in der Zeit.

Insgesamt taucht der Begriff »Massaker« in den folgenden fünfzehn Monaten 3.617-mal in den fünf untersuchten Medien auf. In 3.160 Fällen sind damit die palästinensischen Gewalttaten vom 7. Oktober gemeint (87,4 Prozent). Dabei unterscheiden sich die Medien untereinander, wie auch bei der Wahl der anderen untersuchten Begriffe, nur geringfügig: In der Taz sind in 82,3 Prozent der Fälle mit dem Begriff »Massaker« palästinensische Gewalttaten gemeint, in der Tagesschau sind es 83,3 Prozent, in der Zeit 87,7 Prozent, im Spiegel 88,0 Prozent und in der Bild 94,2 Prozent. Für israelische Gewalttaten seit dem 7. Oktober 2023 – sei es in Palästina, im Libanon oder anderswo – findet der Begriff »Massaker« insgesamt 235-mal und damit in 6,9 Prozent aller Fälle Verwendung.

Betrachtet man die Fälle genauer, in denen der Begriff »Massaker« für israelische Gewalttaten verwendet wurde, fällt aber auch hier auf: Es handelt sich dabei ausschließlich um Zitate. In einem Spiegel-Beitrag vom 9. April 2024 über türkische Handelsbeschränkungen lautet die Stelle zum Beispiel: »Das Ministerium beschuldigte Israel in der Mitteilung, für ein ›Massaker an den Palästinensern‹ verantwortlich zu sein.«

Lässt man all diese Fälle weg und zählt nur die Textstellen, in denen sich Redaktionen den Begriff »Massaker« für israelische Gewalttaten zu eigen machten, fällt die Bilanz noch eindeutiger aus. In fünfzehn Monaten Berichterstattung und 11.125 Beiträgen machten sich die untersuchten Medien den Begriff »Massaker« kein einziges Mal zu eigen, um israelische Gewalttaten zu beschreiben. Von den hunderten israelischen Massakern mit zehntausenden palästinensischen und libanesischen Toten wurde kein einziges in Bild, Spiegel, Taz, Tagesschau und Zeit als solches bezeichnet.

Wie Angriffe im Nahen Osten bezeichnet und welche Bilder damit beim Publikum erzeugt werden, scheint für die deutschen Medien also nicht vom jeweiligen Ereignis und dessen konkreten Umständen und Folgen abzuhängen. Ausschlaggebend ist vor allem, wer die Tat begeht.

Fabian Goldmann arbeitet als Islamwissenschaftler und Journalist zu stereotyper und diskriminierender Berichterstattung über Migration, Islam und Nahost. Außerdem betreibt er den Blog »Schantall und die Scharia«. Im Dezember 2025 erscheint sein Buch »Staats(räson)funk. Deutsche Medien und der Genozid in Gaza«.