16. Januar 2024
Israel hat sich von pragmatischer Realpolitik abgewandt. Doch die Alternative – die vollständige Vernichtung seiner Feinde – ist unerreichbar. Und bis die israelische Regierung dies einsieht, könnte es für die Mehrheit der Palästinenser zu spät sein.
Kinder in Gaza blicken durch einen Spalt in einem Blechzaun, Aufnahme vom 24. April 2022.
In einem Essay aus dem Jahr 1948, »The Twilight of International Morality«, blickte Hans Morgenthau auf den Diplomatie-Stil der alten aristokratischen Staaten Europas zurück. Der Politikwissenschaftler und Experte für Internationale Beziehungen wagte in seinem Text ein Gegenargument zu dem vorzubringen, was man als »traditionelle Realpolitik« bezeichnen könnte: Hinter ihrer amoralischen Fassade und trotz ihres Rufs als zynisch und doppelzüngig habe sie stets auf einem unantastbaren ethischen Kodex beruht.
Morgenthau befasste sich mit Otto von Bismarck, dem deutschen Avatar der Realpolitik des 19. Jahrhunderts, und stellte ihn Adolf Hitler gegenüber. Beide Männer sahen sich mit dem gleichen hartnäckigen Problem konfrontiert: der »Umzingelung« Deutschlands durch gefährliche Nachbarn, Frankreich im Westen und Russland im Osten.
Doch während Bismarck »die Unvermeidlichkeit dieser Tatsache akzeptierte und sie durch eine komplizierte und manchmal listige Realpolitik zum Vorteil Deutschlands zu wenden versuchte«, machte sich Hitler, »frei von den moralischen Skrupeln, die Bismarck gezwungen hatten, die Existenz Frankreichs und Russlands zu akzeptieren«, daran, beide zu vernichten.
Man kann darüber streiten, ob dieser Unterschied wirklich auf »moralische Skrupel« zurückzuführen war oder nicht; schließlich war Bismarcks Außenpolitik ein praktischer Erfolg, Hitlers hingegen offensichtlich nicht. Aber Morgenthau hatte den Finger auf eine nützliche und wichtige Unterscheidung gelegt.
Die »Bismarck-Methode« und die »Hitler-Methode« kann man sich als zwei alternative Wege vorstellen, mit den Gefahren in der Welt umzugehen. Die erste ist die Methode der Realpolitik, die die Machtrealitäten als das akzeptiert, was sie sind. Sie geht davon aus, dass die Koexistenz mit Feinden auf Gedeih und Verderb dauerhaft und unvermeidlich ist. Sie zieht es deshalb vor, wo immer möglich, Bedrohungen zu entschärfen, indem sie nach Bereichen von gemeinsamem Interesse sucht und dabei das Mindestmaß an Gewalt einsetzt, das erforderlich ist, um unabdingbare Ziele zu erreichen.
Die zweite Methode wird von einer ideologisch motivierten Dämonologie angetrieben – einer Besessenheit von Monstern, die es zu vernichten gilt – gepaart mit einem unstillbaren Verlangen nach dem, was Henry Kissinger in einem bekannten Aphorismus als »absolute Sicherheit« bezeichnet hat: »Das Verlangen einer Macht nach absoluter Sicherheit«, schrieb er 1954 in seiner Doktorarbeit über die Diplomatie des österreichischen Diplomaten Klemens von Metternich, »bedeutet absolute Unsicherheit für alle anderen.«
Seit dem 7. Oktober hat sich die gesamte Autorität des Westens, von Joe Biden abwärts – in den Außenministerien, den Denkfabriken, den großen Medien – hinter Israels erklärtes Ziel gestellt, die Hamas zu »zerschlagen und zu eliminieren«. Dessen Kommandoangriff auf Israels »eiserne Mauer« im Gazastreifen und die damit einhergehenden Gräueltaten an der Zivilbevölkerung sollen der Gruppe jegliche Legitimität genommen haben, die ihr einst zugestanden haben mag. Die Forderung nach der totalen Niederlage und Auslöschung der Hamas ist – zumindest im Moment – offizielle Politik der USA, der EU und der anderen G7-Staaten.
Das Problem dabei ist, dass die Hamas, die bei den letzten palästinensischen Parlamentswahlen 44 Prozent der Stimmen erhielt, eine politische Massenpartei und nicht nur eine bewaffnete Gruppe ist, und beide nicht »militärisch« ausgerottet werden können. Solange die Hamas existiert, ist der Versuch, sie durch ausländisches Diktat dauerhaft aus der palästinensischen Politik auszuschließen, nicht nur zum Scheitern verurteilt, sondern würde auch zu einem nicht enden wollenden Chaos führen.
Da die »Hamas-muss-weg«-Politik unerreichbar und unhaltbar ist, kann sie nur vorübergehend bestehen. Die einzige Frage ist, wie lange führende Politikerinnen und Politiker der Welt brauchen werden, um ihren Fehler zu erkennen, und wie viel Schaden in der Zwischenzeit angerichtet worden sein wird.
»Gaza kann es sich nicht leisten, zwanzig Jahre zu warten, bis Biden und Co. zur Vernunft kommen.«
In Afghanistan brauchten die Vereinigten Staaten zwanzig Jahre und drei Regierungen, um den Mut aufzubringen, zuzugeben, dass sie die Taliban nicht besiegen konnten. Trotz der fast dreitausend Toten, die auf amerikanischem Boden durch Al-Qaida, die »Gäste« der Taliban in Afghanistan, zu beklagen waren, sahen die USA schließlich ein, dass sie keine bessere Option hatten, als mit der Gruppe zu reden und ein Abkommen zu schließen. Als schließlich im Jahr 2020 eine Einigung erzielt wurde, beruhte diese – in klassischer Realpolitik – auf dem gemeinsamen Interesse, einen gemeinsamen Feind zu besiegen: den Islamischen Staat. Im Gegenzug für die Zusage der Taliban, ihr Territorium nicht als Basis für ausländische terroristische Operationen zu nutzen, zogen die USA 2021 ihre Truppen ab, und die Taliban sind nun an der Macht in Kabul.
Aber Gaza kann es sich nicht leisten, zwanzig Jahre zu warten, bis Biden und Co. zur Vernunft kommen; angesichts des Tempos der israelischen Tötungsmaschinerie wird der letzte überlebende Palästinenser in Gaza bis dahin längst tot sein.
Der israelische Premierminister Benjamin Netanjahu hat sein ganzes Leben lang öffentlich und privat von seinem Traum gesprochen, dass Israel eines Tages die Gelegenheit erhält, die Aufgabe von 1948 zu vollenden und das Land von den Massen palästinensischer Eindringlinge zu befreien. Bei einem Abendessen im Jerusalem der späten 1970er erläuterte er dieses Motiv einem entsetzten Gast: dem Militärhistoriker Max Hastings, der das Gespräch in seinen Memoiren wiedergab. Ein Jahrzehnt später, nach dem Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens, kehrte Netanjahu in der Knesset erneut zu diesem Thema zurück, als er beklagte, dass Israel nicht die Gelegenheit ergriffen habe, eine »Massenvertreibung der Araber« durchzuführen, während die Aufmerksamkeit der Welt auf China gerichtet war.
Dank einer zufälligen Konvergenz der Umstände – einer rachsüchtigen Öffentlichkeit, einer rechtsextremen Regierungskoalition und vor allem einem damit konformen US-Präsidenten – hat Netanjahu nun eine weitere Chance erhalten, die er sich nicht entgehen lässt.
Israel hat in deutlichen Worten erklärt, was es tut. Niemand kann behaupten, er hätte es nicht gewusst. Durch eine Kombination von Terrorbombardierungen mit vielen Opfern – was Robert Pape von der Universität Chicago, ein führender Wissenschaftler auf dem Gebiet der Luftwaffe, als »eine der intensivsten zivilen Bestrafungskampagnen in der Geschichte« bezeichnet hat –, der Zerstörung von Krankenhäusern und anderer kritischer Infrastruktur und einer fast vollständigen Blockade der humanitären Versorgung arbeitet Israel daran, »Bedingungen zu schaffen, unter denen das Leben in Gaza unerträglich wird«, wie es Generalmajor a.D. Giora Eiland, ein Berater des aktuellen israelischen Verteidigungsministers, ausdrückt.
Mit anderen Worten, Israel führt Morgenthaus Argument zu seiner logischen Konsequenz und beweist vor den Augen der Welt, dass die letzte Alternative zur Realpolitik der Völkermord ist.
In einem 2008 vom Israel Council on Foreign Relations veröffentlichten Artikel äußerte Efraim Halevy, einer der pragmatischeren Realpolitiker im israelischen Sicherheitsestablishment, seine Bedenken über den israelischen Umgang mit Gaza und seinen Machthabern.
Als ehemaliger Mossad-Chef, Direktor des israelischen Nationalen Sicherheitsrates und Botschafter bei der Europäischen Union hatte Halevy viele Jahre lang an der Hamas-Akte gearbeitet, und seine Botschaft war unverblümt: Die Hamas wird nicht so bald verschwinden. Israel täte daher gut daran, einen Weg zu finden, die Gruppe »zu einem Faktor für eine Lösung« anstatt zu einem »unüberwindbaren Problem« zu machen.
Da allein der Gedanke, dass die Hamas eine Lösung für irgendetwas sein könnte, die Vorurteile der Lesenden erschüttern würde, hat Halevy darauf geachtet, seine Aussage mit Fakten zu untermauern.
Er erklärte zuerst, dass, was auch immer in den Gründungsdokumenten der Gruppe stehen mag, zwanzig Jahre Kontakt mit Tagespolitik, der Hamas gelehrt haben, wie reale Macht funktioniere. Darum sei es »für die Hamas mehr als offensichtlich, dass sie keine Chance auf der Welt hat, die Zerstörung des Staates Israel mitzuerleben«.
Infolgedessen hatten sich die Führer der Gruppe auf ein einfacher zu erreichendes Ziel besonnen: Statt der Zerstörung Israels strebten sie dessen Rückzug auf die Grenzen von 1967 an. Im Gegenzug würde die Hamas einem verlängerten Waffenstillstand zustimmen – »einem dreißigjährigen Waffenstillstand«, wie Halevy es nannte. Die Gruppe würde diesen nach eigenen Angaben einhalten und sogar bei seiner Durchsetzung helfen. Er könnte letztlich dauerhaft werden – wenn die Parteien dies wünschten.
Zweitens: Die Hamas-Führer erklärten zwar unmissverständlich, dass die Hamas Israel weder anerkennen noch direkt mit dem Land sprechen werde, beanstandeten aber nicht, dass Mahmoud Abbas dies tat. Sie erklärten sich laut Halevy auch bereit, »eine [von Abbas] mit Israel ausgehandelte Lösung zu akzeptieren, wenn diese in einem nationalen palästinensischen Referendum gebilligt würde«.
»Die Hamas-Führung ist sich keineswegs einig, welche Politik sie verfolgen soll.«
Zwei Jahre zuvor hatte sich die Hamas bei den palästinensischen Wahlen durchgesetzt, indem sie ihren Pragmatismus und ihre Bereitschaft betonte, die Zweistaatenlösung zu respektieren, für die in der palästinensischen Bevölkerung große Zustimmung besteht. Diese Entscheidung war ein Sieg für die gemäßigten Kräfte innerhalb der Organisation. Einer von ihnen, Riad Mustafa, ein Hamas-Parlamentsabgeordneter aus Nablus, erläuterte die Position der Gruppe in einem Interview 2006:
»Ich sage unmissverständlich: Die Hamas erkennt Israel nicht an und wird es auch nie tun. Anerkennung ist ein Akt, der von Staaten verliehen wird, nicht von Bewegungen oder Regierungen, und Palästina ist kein Staat. Dennoch fordert das Programm der [Hamas-geführten] Regierung das Ende der Besatzung, nicht die Zerstörung Israels, und die Hamas hat die Beendigung der Besatzung und einen langfristigen Waffenstillstand vorgeschlagen, um Frieden in diese Region zu bringen.
Das ist die Position der Hamas selbst. Die Regierung hat auch das Recht von Präsident Abbas anerkannt, politische Verhandlungen mit Israel zu führen. Wenn er ein Friedensabkommen vorlegen würde und wenn dieses Abkommen von unseren nationalen Institutionen und einem Volksreferendum gebilligt würde, dann würden wir – auch wenn es die Anerkennung Israels durch die Palästinenser einschließt – natürlich ihr Urteil akzeptieren. Denn es gehört zu unseren Grundsätzen, den Willen des Volkes und seine demokratische Entscheidung zu respektieren.«
Halevy zufolge hatte die Hamas der israelischen Führung diese Ideen bereits 1997 übermittelt, aber nie eine Antwort erhalten. »Israel lehnte diesen Ansatz von vornherein ab«, schrieb er, »da es ihn als eine Falle ansah, die es der Hamas ermöglichen würde, ihre Stärke und ihren Status zu konsolidieren, bis sie in der Lage wäre, Israel in einem Kampf zu konfrontieren und eine Chance auf den Sieg zu haben«.
Halevy hält dies für einen schweren Fehler. »Ist die derzeitige Annäherung der Hamas echt oder eine Falle?«, fragte er. »Wer kann das sagen?« Alles hänge von den Details ab – aber »solche Details können nicht verfolgt werden, solange die Hamas nicht in sinnvolle Diskussionen verwickelt ist.«
Schließlich – und in weiser Voraussicht, wie sich jetzt herausstellt – erinnerte er seine Lesenden daran, dass die Weigerung zu reden, eigene Risiken mit sich bringt: »Die Hamas-Führung ist sich keineswegs einig, welche Politik sie verfolgen soll. Es gibt die Pragmatiker, die eingefleischten Ideologen, die Politiker und die Kommandeure im Feld. Alle befinden sich in einer ernsthaften Debatte über die Zukunft. Solange die Tür zum Dialog verschlossen ist, besteht kein Zweifel daran, wer sich in dieser ständigen Auseinandersetzung und Gewissenserforschung durchsetzen wird.«
Anstatt Halevys realpolitischem Rat zu folgen, haben Israel und die Vereinigten Staaten ihren Kreuzzug noch verstärkt. Nach dem Wahlsieg der Hamas stellten sie die Hilfe für die Palästinensische Autonomiebehörde ein, boykottierten ihre neue Regierung und versuchten, mithilfe von Kräften, die loyal zu Teilen der Fatah standen, einen Putsch gegen die Hamas im Gazastreifen anzuzetteln. Der Putsch ging jedoch nach hinten los, und als sich der Staub Anfang 2007 lichtete, waren die Fatah-Kräfte im Gazastreifen überrollt und die Hamas erhielt die volle Kontrolle über den Streifen.
Als Reaktion auf dieses Fiasko bezeichnete das israelische Kabinett den Gazastreifen als »feindliche Einheit« und verordnete eine beispiellose Verschärfung der Blockade. Diese Maßnahme, die offiziell als »Abriegelung« bezeichnet wird, ist ein ausgeklügeltes System von Überwachungen des Personen- und Warenverkehrs, das durch Israels anhaltende Kontrolle der Grenzen des Gazastreifens ermöglicht wird.
Die Abriegelung des Gazastreifens war ein einzigartiges Experiment – eine bahnbrechende Innovation in Sachen organisierter Unmenschlichkeit. Der Menschenrechtsjurist der Vereinten Nationen (UN), John Dugard, bezeichnete sie als »möglicherweise die rigoroseste Form internationaler Sanktionen, die in der Neuzeit verhängt wurde«.
Um sie aufrechtzuerhalten, wurde die Abriegelung so gestaltet, dass Israel das Ausmaß des Leidens der Menschen im Gazastreifen feinabstimmen konnte. Das Ziel war, wie ein Berater von Premierminister Ehud Olmert erklärte, »die Palästinenser auf Diät zu setzen, aber nicht, sie verhungern zu lassen«. Auf diese Weise wurde einerseits die produktive Wirtschaft durch die Verweigerung von Rohstoffen, Treibstoff und Maschinen vollständig ausgelöscht. Andererseits versuchte Israel abzuschätzen, wie viele Lastwagenladungen mit Lebensmitteln es pro Tag genehmigen müsste, um den Mindestbedarf der Bevölkerung von Gaza zu decken, ohne eine Hungersnot auszulösen.
»Selbst in den geselligsten Momenten zwischen Israel und der Hamas wurden die Bedingungen im Gazastreifen auf einem Niveau der Entbehrung gehalten, das anderswo als katastrophal gelten würde.«
Die Formulierung, mit der die israelischen Verwalter der Abriegelung ihr Ziel zusammenfassten, lautete: »Kein Wohlstand, keine Entwicklung, keine humanitäre Krise«. Am 7. Oktober war diese Politik seit sechzehn Jahren in Kraft, und die Mehrheit der Bevölkerung des Gazastreifens konnte sich nicht an eine Zeit vor der Blockade erinnern.
Jamie Stern-Weiner hat die Auswirkungen der Blockade so zusammengefasst: »Die Arbeitslosenquote stieg auf ›wahrscheinlich die höchste in der Welt‹, vier Fünftel der Bevölkerung waren auf humanitäre Hilfe angewiesen, drei Viertel wurden von Nahrungsmittelhilfe abhängig, mehr als die Hälfte sah sich mit ›akuter Ernährungsunsicherheit‹ konfrontiert. Eines von zehn Kindern war unterernährt und über 96 Prozent des Trinkwassers war für den menschlichen Verzehr nicht mehr geeignet. Der Leiter des Hilfswerks der Vereinten Nationen (UNRWA) für palästinensische Flüchtlinge stellte 2008 fest: ›Gaza steht kurz davor, das erste Gebiet zu werden, das mit Wissen, Duldung und – manche würden sagen – Ermutigung der internationalen Gemeinschaft absichtlich in einen Zustand bitterster Armut versetzt wird.‹Die Vereinten Nationen warnten 2015, dass die kumulativen Auswirkungen dieser ›humanitären Implosion‹ den Gazastreifen innerhalb eines halben Jahrzehnts ›unbewohnbar‹ machen könnten. Der israelische Militärgeheimdienst stimmte dem zu.«
Im Laufe der Zeit versuchte Israel unter Netanjahu, die Abriegelung in ein Instrument staatlicher Zwangsmaßnahmen zu verwandeln. Wenn die Hamas kooperativ war, wurden die Beschränkungen minimal gelockert, und das Elend der Menschen im Gazastreifen wurde ein wenig gelindert. Wenn die Hamas sich widerspenstig zeigte, setzte Israel die Palästinenser sozusagen auf eine strengere Diät.
Aber selbst in den geselligsten Momenten zwischen Israel und der Hamas wurden die Bedingungen im Gazastreifen auf einem Niveau der Entbehrung gehalten, das anderswo als katastrophal gelten würde. In der Zeit vor dem 7. Oktober hatten die Menschen in Gaza nur den halben Tag lang Strom. 80 Prozent der Bevölkerung waren auf humanitäre Hilfe angewiesen, um ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, 40 Prozent litten unter »schwerem« Nahrungsmittelmangel und 75 Prozent der Bevölkerung hatten keinen Zugang zu sauberem Wasser.
Das war die schlechte Nachricht. Die gute Nachricht war, dass Israel kürzlich angedeutet hatte, dass es Reparaturen an den Wasserentsalzungsanlagen im Gazastreifen genehmigen könnte – je nachdem, wie sich die Hamas verhält.
Es wäre falsch, diese Situation mit dem Kolonialismus des alten Stils aus dem neunzehnten Jahrhundert zu vergleichen. Es ist viel schlimmer als das. Die Handlungen wirken fast wie eine groteske Parodie des Kolonialismus – »kein Wohlstand, keine Entwicklung, keine humanitäre Krise« – eine cartoonhaft grausame Version der Art von Fremdherrschaft, gegen die »nationale Befreiungskriege« von Menschen auf allen Kontinenten und in allen Epochen geführt wurden – und zwar mit den grausamsten Mitteln.
Man kann über diesen oder jenen Aspekt des Diskurses der akademischen Linken über Israel als Siedlerkolonialstaat diskutieren. Aber die koloniale Dynamik, die dem Konflikt zwischen Israel und der palästinensischen Bevölkerung zugrunde liegt, steht nicht zur Debatte. Sie ist eine historische Tatsache, die nicht nur von Aktivistinnen und Aktivisten an den Universitäten, sondern auch von den führenden Figuren des modernen Zionismus anerkannt wird.
Wladimir Jabotinsky, der gelehrte und zahlreich missverstandene Zionistenführer, der posthum zum Gründungsvater der israelischen Rechten wurde (einer seiner engsten Mitarbeiter, Benzion Netanjahu, war der Vater des derzeitigen Premierministers), versuchte in seinem berühmten Essay Die eiserne Mauer aus dem Jahr 1923 genau diesen Punkt zu verdeutlichen.
Damals hielten viele in der zionistischen Linken noch an der Behauptung fest, der Zionismus stelle keine Bedrohung für die palästinensische Bevölkerung dar. In der Öffentlichkeit schwiegen sie über die ultimativen Ziele der Bewegung – die Schaffung eines Staates »so jüdisch wie England englisch ist«, um es mit den Worten von Chaim Weizmann auszudrücken. Aber auch privat erklärten einige von ihnen, die jüdische Präsenz in Palästina würde so wundersame wirtschaftliche Segnungen bringen, dass die Palästinenserinnen und Palästinenser eines Tages für die zionistische Sache gewonnen würden.
»1923, als Jabotinsky Die eiserne Mauer verfasste, war er ein entschiedener Gegner eines Bevölkerungstransfers. ›Ich halte es für völlig unmöglich, die Araber aus Palästina zu vertreiben‹, schrieb er. ›Es wird immer zwei Nationen in Palästina geben.‹«
Diese Kombination aus Täuschung und Selbsttäuschung gefährdete nach Jabotinskys Ansicht das gesamte zionistische Projekt. In Die eiserne Mauer zerstörte er in außergewöhnlich klarer und unversöhnlicher Prosa die Illusionen der Linken.
Es lohnt sich, ihn ausführlich zu zitieren:
»Meine Leser haben eine allgemeine Vorstellung von der Geschichte der Kolonisierung in anderen Ländern. Ich schlage vor, dass sie alle ihnen bekannten Fälle betrachten und prüfen, ob es einen einzigen Fall gibt, in dem die Kolonisierung mit der Zustimmung der einheimischen Bevölkerung durchgeführt wurde. Es gibt keinen solchen Präzedenzfall.
Die einheimische Bevölkerung, ob zivilisiert oder unzivilisiert, hat sich immer hartnäckig gegen die Kolonisten gewehrt, unabhängig davon, ob sie zivilisiert oder wild waren.
Und es machte überhaupt keinen Unterschied, ob sich die Kolonisten anständig verhielten oder nicht. Die Gefährten von Cortez und Pizzaro oder (wie manche uns erinnern werden) unsere eigenen Vorfahren unter Josua Ben Nun benahmen sich wie Räuber; aber die Pilgerväter, die ersten wirklichen Pioniere Nordamerikas, waren Menschen von höchster Moral, die niemandem etwas zuleide tun wollten, am wenigsten den Indianern, und sie glaubten aufrichtig, dass in den Prärien sowohl für das Bleichgesicht als auch für die Rothaut genug Platz war. Doch die einheimische Bevölkerung kämpfte mit derselben Heftigkeit gegen die guten Kolonisten wie gegen die schlechten.
Jede einheimische Bevölkerung, ob zivilisiert oder nicht, betrachtet ihr Land als ihre nationale Heimat, deren alleiniger Herr sie ist, und sie will diese Herrschaft immer behalten; sie wird sich weigern, nicht nur neue Herren, sondern sogar neue Partner oder Kollaborateure aufzunehmen.
Das gilt auch für die Araber. Unsere Friedensbewegten versuchen uns einzureden, dass die Araber entweder Narren sind, die wir täuschen können, indem wir unsere wahren Ziele verschleiern, oder dass sie korrupt sind und bestochen werden können, damit sie uns ihren Prioritätsanspruch in Palästina im Gegenzug für kulturelle und wirtschaftliche Vorteile aufgeben. Ich lehne diese Auffassung von den palästinensischen Arabern ab. Kulturell liegen sie fünfhundert Jahre hinter uns, sie haben weder unsere Ausdauer noch unsere Entschlossenheit; aber sie sind genauso gute Psychologen wie wir, und ihr Verstand ist wie der unsere durch Jahrhunderte fein gesponnener Logomachie geschärft worden.
Wir können ihnen von der Unschuld unserer Ziele erzählen, was wir wollen, sie verwässern und mit honigsüßen Worten versüßen, um sie ihnen schmackhaft zu machen, aber sie wissen, was wir wollen, und wir wissen auch, was sie nicht wollen. Sie empfinden zumindest die gleiche instinktive eifersüchtige Liebe zu Palästina, wie die alten Azteken für das alte Mexiko und die Sioux für ihre wogenden Prärien.
Sich vorzustellen, wie es unsere Arabophilen tun, dass sie freiwillig in die Verwirklichung des Zionismus einwilligen, als Gegenleistung für die moralischen und materiellen Annehmlichkeiten, die der jüdische Kolonist mit sich bringt, ist eine kindische Vorstellung, die im Grunde eine Art Verachtung für das arabische Volk hat; es bedeutet, dass sie die arabische Rasse verachten, sie als korrupten Mob betrachten, den man kaufen und verkaufen kann, und bereit sind, ihr Vaterland für ein gutes Eisenbahnsystem aufzugeben.
Es gibt keine Rechtfertigung für eine solche Annahme. Es mag sein, dass einzelne Araber Bestechungsgelder annehmen. Aber das bedeutet nicht, dass das arabische Volk Palästinas als Ganzes seinen glühenden Patriotismus verkaufen wird, den es so eifersüchtig hütet und den selbst die Papuas niemals verkaufen werden. Jede einheimische Bevölkerung in der Welt widersetzt sich den Kolonisten, solange sie auch nur die geringste Hoffnung hat, sich von der Gefahr der Kolonisierung befreien zu können.
Das ist es, was die Araber in Palästina tun, und das werden sie auch weiterhin tun, solange es noch einen Funken Hoffnung gibt, dass sie die Umwandlung von ›Palästina‹ in das ›Land Israel‹ verhindern können.«
Was sollten die Zionisten laut Jabotinsky also tun? Als Erstes und Wichtigstes forderte er die Bewegung auf, ihre militärische Stärke auszubauen – die »eiserne Mauer« aus dem Titel des Aufsatzes.
Zweitens sollten die Zionisten unter dem Schutz ihrer Streitkräfte die Kolonisierung Palästinas gegen den Willen der einheimischen arabischen Mehrheit vorantreiben, indem sie ein Maximum an jüdischer Einwanderung in einer minimalen Zeitspanne sicherstellen.
Wenn die jüdische Mehrheit erst einmal vollendet sei (1923 machten die Juden nur etwa 11 Prozent der Bevölkerung Palästinas aus), sei es nur eine Frage der Zeit, dachte Jabotinsky, bis die Araber endlich begriffen hätten, dass die Juden nicht aus Palästina vertrieben werden würden. Dann würden sie erkennen, dass sie keine andere Wahl hätten, als sich mit dem Zionismus zu arrangieren.
Und an diesem Punkt schloss Jabotinsky: »Ich bin überzeugt, dass wir Juden bereit sein werden, ihnen zufriedenstellende Garantien zu geben« – Garantien für weitreichende bürgerliche, politische und sogar nationale Rechte innerhalb eines jüdischen Staates – »sodass beide Völker in Frieden zusammenleben können, wie gute Nachbarn.«
Was auch immer man von der Moral – oder der Aufrichtigkeit – von Jabotinskys Strategie in Die eiserne Mauer halten mag, als Realpolitik machte sie Sinn. Sie ging von einer realistischen Einschätzung des Problems aus: Man konnte von der palästinensischen Bevölkerung nicht erwarten, dass sie den Kampf um ihre Heimat aufgeben würden. Sie schlug ein Programm der gezielten Gewaltanwendung vor, um ihren Widerstand zu vereiteln. Und sie machte eine Reihe von Zusicherungen, um zu gewährleisten, dass die wichtigsten palästinensischen Interessen im Rahmen einer Gesamtregelung, mit der das Hauptziel der Zionisten erreicht werden würde, gewahrt blieben.
Ob dieses Bismarcksche Programm (aus zionistischer Sicht) hätte »funktionieren« können, wird man allerdings nie erfahren. Denn in den folgenden Jahren gewann ein ganz anderes Szenario im Denken der zionistischen Führung die Oberhand.
Dies wurde als »Transfer« bezeichnet: ein Euphemismus für die »freiwillige« oder unfreiwillige physische Entfernung der palästinensischen Bevölkerung aus dem »Land Israel«.
1923, als er Die eiserne Mauer verfasste, war Jabotinsky ein entschiedener Gegner eines Transfers. »Ich halte es für völlig unmöglich, die Araber aus Palästina zu vertreiben«, schrieb er. »Es wird immer zwei Nationen in Palästina geben.« An dieser Haltung hielt er bis in die letzten Jahre seines Lebens fest, selbst als sich die Unterstützung für das Konzept sowohl im Mainstream der zionistischen Linken als auch unter seinen eigenen, zunehmend radikalisierten Anhängern des rechten Flügels immer weiter ausbreitete.
Der israelische Historiker Benny Morris hat diesen Wandel in seinem Buch The Birth of the Palestinian Refugee Problem beschrieben. Er fasste es folgendermaßen zusammen: »Als der arabische Widerstand gegen den Zionismus in den 1920er und 1930er Jahren zunahm, einschließlich des gewaltsamen Widerstands, und als diese Opposition zu regelmäßigen britischen Maßnahmen gegen die jüdische Einwanderung führte, bildete sich unter den zionistischen Führern ein Konsens oder Beinahe-Konsens über die Idee des Transfers als natürliche, effiziente und sogar moralische Lösung des demografischen Dilemmas.« So kam Morris 1948 zu dem Schluss, dass »der Transfer in der Luft lag«.
In den frühen Morgenstunden des Freitags, 9. April 1948, während des Konflikts, den die Israelis als Unabhängigkeitskrieg bezeichnen, drangen 132 bewaffnete Männer in ein palästinensisches Dorf in der Nähe von Jerusalem ein. Ihr Ziel war, das Dorf einzunehmen und die Vorräte der Menschen zu beschlagnahmen. Die meisten der Bewaffneten waren Teil der Irgun, der rechtsgerichteten paramilitärischen Gruppe, die Jabotinsky bis zu seinem Tod 1940 angeführt hatte, andere zählten sich zu einer Abspaltung namens Lehi.
Sechs Monate zuvor hatte die UNO ihre Entscheidung bekannt gegeben, Palästina in einen jüdischen Staat, dem 55 Prozent des Gebiets zugewiesen werden sollten, und einen palästinensisch-arabischen Staat auf den verbleibenden 45 Prozent zu teilen. (Damals lebten in Palästina etwa 600.000 Jüdinnen und Juden und 1,3 Millionen Araber und Araberinnen.)
Die Zionisten waren hocherfreut über diesen Gewinn, während die palästinensische Seite – schockiert über die Aussicht, dass ihr mehr als die Hälfte ihrer Heimat genommen werden sollte – den Plan in seiner Gesamtheit ablehnte. Als Reaktion auf diese Ankündigung brach eine Welle von Unruhen zwischen den beiden Gruppen aus, die sich bald zu einem Krieg ausweiteten.
Inmitten dieser Gewalttaten hatte das betreffende Dorf, Deir Yassin, einen Waffenstillstand mit den nahe gelegenen jüdischen Siedlungen treu eingehalten. »Es gab nicht einen einzigen Zwischenfall zwischen Deir Yassin und den Juden«, so der örtliche Kommandeur der Haganah, der zionistischen Miliz, die bald den Kern der neu gegründeten Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) bilden sollte.
Trotzdem hatten die rechtsgerichteten Paramilitärs beschlossen, die »Liquidierung aller Männer des Dorfes und aller anderen Kräfte, die sich uns widersetzen, seien es alte Leute, Frauen oder Kinder", durchzuführen, so ein Irgun-Offizier, Ben-Zion Cohen, der an der Planung der Operation beteiligt war. Der erklärte Grund für diese Entscheidung war, dass sie »den Arabern zeigen würde, was passiert«, wenn Juden vereint und zum Kampf entschlossen waren.
(Cohens Erinnerungen an die Operation sowie die mehrerer anderer Deir Yassin-Veteranen wurden aufgezeichnet und Mitte der 1950er Jahre im Archiv des Jabotinsky-Instituts in Tel Aviv hinterlegt, wo sie Jahrzehnte später von einem israelischen Journalisten entdeckt wurden.)
An eben diesem Morgen erwachten die Menschen von Deir Yassin durch den Klang von Granaten und Schüssen. Einige begannen in ihrer Nachtkleidung zu fliehen, andere kramten nach ihren Waffen oder flüchteten in die Häuser von Nachbarn. Der anfängliche Schlachtplan der Angreifer scheiterte schnell an Ausrüstungsfehlern und Kommunikationsproblemen, und die mit Gewehren bewaffneten Einheimischen fügten ihnen unerwartet viele Verluste zu. Nach einigen Stunden des Kampfes wurde beschlossen, den Rückzug anzutreten.
Die palästinensischen Familien, die nicht rechtzeitig fliehen konnten, kauerten zu diesem Zeitpunkt in ihren Häusern. Sobald die paramilitärischen Kommandanten den Rückzug anordneten, wurden diese Dorfbewohner zur Zielscheibe der Frustration der jüdischen Kämpfer.
Was dann geschah, berichteten Überlebende den britischen Polizeiermittlern der Zivilverwaltung des Mandatsgebiets Palästina. Zwanzig Jahre später erhielten zwei Journalisten, Larry Collins und Dominique Lapierre, diese Aufzeichnungen für ihr 1972 erschienenes Bestseller-Buch O Jerusalem!
»Bis Mitte 1949 war die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung um ihr Leben geflohen oder von den jüdischen Streitkräften aus ihren Häusern vertrieben worden.«
Die Überlebenden beschrieben Szenen wie die folgenden. Fahimi Zeidan, ein zwölfjähriges Mädchen, erinnerte sich daran, dass die Tür ihres Hauses aufgesprengt wurde, als sie und ihre Familie sich zusammen mit Mitgliedern einer benachbarten Familie versteckten. Die Paramilitärs brachten sie nach draußen. »Die Juden befahlen unserer ganzen Familie, sich an der Wand aufzustellen, und begannen auf uns zu schießen.« Nachdem sie einen bereits verwundeten Mann erschossen hatten, »schrie eine seiner Töchter, und sie erschossen auch sie. Dann riefen sie meinen Bruder Mahmoud und erschossen ihn, während wir da waren. Als meine Mutter schrie und sich über meinen Bruder beugte (sie trug meine kleine Schwester Khadra, die noch gestillt wurde), erschossen sie auch meine Mutter.«
Haleem Eid, eine dreißigjährige Frau, sagte aus, sie habe gesehen, wie »ein Mann meiner Schwester Salhiyeh, die im neunten Monat schwanger war, eine Kugel in den Hals schoss. Dann schnitt er ihr mit einem Schlachtermesser den Bauch auf«. Als eine andere Dorfbewohnerin, Aiesch Radwas, versuchte, den Fötus aus dem Bauch der toten Mutter zu befreien, wurde auch sie erschossen.
Zeinab Akkel erinnerte sich, dass sie versuchte, das Leben ihres jüngeren Bruders zu retten, indem sie den jüdischen Angreifern ihr gesamtes Geld (etwa 400 Dollar) anbot. Einer von ihnen nahm das Geld und »dann stieß er meinen Bruder einfach um und schoss ihm mit fünf Kugeln in den Kopf.«
Die sechzehnjährige Naaneh Khalil sagte, sie habe gesehen, wie ein Mann »eine Art Schwert nahm und meinen Nachbarn Jamil Hish vom Kopf bis zu den Zehen aufschlitzte und dann auf der Treppe zu meinem Haus dasselbe mit meinem Cousin Fathi tat«.
Meir Pa'il, ein Geheimdienstmitarbeiter der Jewish Agency, der vor Ort war, beschrieb später den Anblick der Irgun- und Lehi-Kämpfer, die verzweifelt durch das Dorf rannten, »ihre Augen waren glasig, voller Mordlust«.
Als einige Irgunisten ein Haus entdeckten, in dem zuvor einer ihrer gefallenen Kameraden tödlich getroffen worden war, stürmten sie es und neun Zivilisten kamen heraus und ergaben sich. Einer der Paramilitärs brüllte: »Das ist für Yiftach!« und erschoss sie alle mit einem Maschinengewehr.
Die Gefangenen wurden auf Lastwagen verladen und in einer »Siegesparade« durch die Straßen von Jerusalem gefahren. Nachdem eine Gruppe von männlichen Dorfbewohnern auf diese Weise paradiert worden war, wurden sie von den Lastwagen abgeladen und hingerichtet. Meir Pa'il erinnerte sich daran, dass er etwa 25 Männer fotografierte, die in Formation erschossen wurden.
Laut Geheimdienstdokumenten der Haganah wurden einige der Dorfbewohnenden zu einem nahe gelegenen paramilitärischen Stützpunkt gebracht, wo Lehi-Kämpfer eines der Babys töteten und dann, als die Mutter vor Schock ohnmächtig wurde, auch die Mutter ermordeten.
Einer der britischen Beamten der Kriminalpolizei fügte der Ermittlungsakte den folgenden Vermerk bei:
»Ich habe viele der Frauen befragt, um Informationen über die in Deir Yassin begangenen Gräueltaten zu erhalten, aber die meisten dieser Frauen sind sehr schüchtern und zögern, über ihre Erfahrungen zu berichten, insbesondere wenn es um sexuelle Übergriffe geht, und es bedarf großen Zuredens, bevor sie Informationen preisgeben. Die Aufnahme der Aussagen wird auch durch den hysterischen Zustand der Frauen erschwert, die während der Aufzeichnung der Aussagen oft zusammenbrechen.
Es besteht jedoch kein Zweifel daran, dass die angreifenden Juden viele sexuelle Gräueltaten begangen haben. Viele junge Schulmädchen wurden vergewaltigt und später getötet. Auch alte Frauen wurden belästigt. Es wird von einem Fall berichtet, bei dem ein junges Mädchen buchstäblich in zwei Teile gerissen wurde. Auch viele Kleinkinder wurden getötet. Ich sah auch eine alte Frau, die ihr Alter mit 104 Jahren angab, die mit Gewehrkolben schwer auf den Kopf geschlagen worden war. Frauen wurden Armbänder von den Armen und Ringe von den Fingern gerissen, und einigen Frauen wurden Teile der Ohren abgeschnitten, um Ohrringe zu entfernen.«
Als die Haganah-Kräfte am nächsten Tag das Dorf inspizierten, war einer von ihnen schockiert, jüdische Guerillas »mit Genuss neben den Leichen essen zu sehen«. Ein Arzt, der das Kommando begleitete, bemerkte, dass »es klar war, dass die Angreifer von Haus zu Haus gegangen waren und die Menschen aus nächster Nähe erschossen hatten«, und fügte hinzu: »Ich war im Ersten Weltkrieg fünf Jahre lang Arzt in der deutschen Armee, aber ich habe noch nie ein so entsetzliches Schauspiel gesehen.«
Der Kommandant der jüdischen Jugendbrigade, die zur Unterstützung der Aufräumarbeiten entsandt worden war, betrat einige der Häuser und berichtete, er habe mehrere »sexuell verstümmelte« Leichen gefunden. Ein weibliches Brigademitglied erlitt einen Schock, als es die Leiche einer schwangeren Frau entdeckte, deren Unterleib offenbar zerquetscht worden war.
Die Aufräumarbeiter verbrannten und vergruben die Leichen in einem Steinbruch und füllten ihn später mit Erde auf.
Währenddessen war in Jerusalem ein Radiosender zu hören, der folgende Botschaft verkündete: »Ich gratuliere zu dieser großartigen Errungenschaft. Übermitteln Sie allen Kommandeuren und Soldaten meine Grüße. Wir schütteln Ihnen die Hände. Wir sind alle stolz auf die hervorragende Führung und den Kampfgeist bei diesem großartigen Angriff. Wir stehen stramm im Gedenken an die Gefallenen. Wir schütteln den Verwundeten liebevoll die Hände. Sagt den Soldaten: Ihr habt mit eurem Angriff und eurer Eroberung Geschichte in Israel geschrieben. Macht so weiter bis zum Sieg. Wie in Deir Yassin, so werden wir überall angreifen und den Feind vernichten. Gott, Gott, Du hast uns für die Eroberung auserwählt.«
Die Stimme, die die Nachricht überbrachte, gehörte dem Oberbefehlshaber der Irgun – dem späteren Friedensnobelpreisträger und Premierminister Israels, Menachem Begin.
»Mehr als jedes andere Ereignis, an das ich mich aus dieser schwierigen Zeit erinnere, sticht Deir Yassin in seiner ganzen schrecklichen und vorsätzlichen Grausamkeit hervor«, erinnerte sich der verstorbene palästinensisch-amerikanische Literaturwissenschaftler Edward Said, der damals zwölf Jahre alt war und in Kairo lebte, später. »Die Geschichten von Vergewaltigungen, von Kindern, denen die Kehle aufgeschlitzt wurde, von Müttern, die ausgeweidet wurden, und dergleichen. Sie fesselten die Fantasie, wie es ihre Aufgabe war, und sie beeindruckten einen Jungen, der viele Meilen entfernt war, mit dem Rätsel einer solch blutrünstigen und scheinbar grundlosen Gewalt gegen Palästinenser, deren einziges Verbrechen darin zu bestehen schien, dass sie dort waren.«
Eine andere Erinnerung an Deir Yassin vermittelte Yaacov Meridor, ein ehemaliger Irgun-Kommandeur, 1949 während einer Debatte in der israelischen Knesset: Auf die missbilligende Erwähnung des Massakers durch einen linken Abgeordneten erwiderte er: »Dank Deir Yassin haben wir den Krieg gewonnen, Sir!«
Aufgrund der großen Öffentlichkeitswirkung trug Deir Yassin in unverhältnismäßigem Maße zu der Panik bei, die die palästinensische Bevölkerung 1948/49 zur Flucht veranlasste. Aber es war nur eines von mehreren Dutzend Massakern, die von jüdischen Streitkräften verübt wurden, von denen die meisten das Werk der Haganah/IDF waren. In einigen wenigen Fällen scheint die IDF die Abscheulichkeit der Irgun in Deir Yassin erreicht oder sogar übertroffen zu haben (wie etwa in al-Dawayima im Oktober 1948).
Die radikalisierten Erben Jabotinskys freuten sich, die Linke an diese Details zu erinnern. »Für wie viele Deir Yassins waren Sie [die Linke] verantwortlich?«, warf ein anderer rechter Abgeordneter ein. »Wenn Sie das nicht wissen, können Sie den Verteidigungsminister fragen.« (Der Verteidigungsminister war David Ben-Gurion, der über die von seinen Truppen während des Krieges begangenen Gräueltaten auf dem Laufenden gehalten wurde).
Das Ergebnis war, dass bis Mitte 1949 die Mehrheit der palästinensischen Bevölkerung um ihr Leben geflohen war oder von den jüdischen Streitkräften aus ihren Häusern vertrieben wurde und nun als Flüchtlinge außerhalb der Grenzen Palästinas lebte. Ihre verlassenen Dörfer wurden mit Bulldozern zerstört, und sie durften nie wieder zurückkehren. In der Zwischenzeit hatte Israel seine Kontrolle in Palästina von den 55 Prozent des Landes, die ihm 1947 von der UNO zugesprochen worden waren, auf die 78 Prozent der Waffenstillstandslinie von 1949 ausgeweitet.
In den 1950er und 1960er Jahren erklärten die arabischen Staaten und palästinensischen Organisationen Israel einhellig zu einem illegitimen »zionistischen Gebilde«, das nach der endgültigen Befreiung Palästinas zerschlagen und zerstört werden sollte. Bis dahin durften die arabischen Regierungen keinerlei Kontakte zu Israel unterhalten, auch nicht auf wirtschaftlicher Ebene, da sie sonst von der übrigen arabischen Welt geächtet würden. Diese Haltung wurde Jahr für Jahr in Reden, diplomatischen Texten und Kommuniqués der Arabischen Liga bekräftigt und bekräftigt.
Doch Israel verbrachte diese Jahre geduldig damit, seine eiserne Mauer zu pflegen, sodass sie 1967, als es zu einem zweiten allgemeinen arabisch-israelischen Krieg kam, so uneinnehmbar war, dass Israel die vereinten Kräfte all seiner Gegner in weniger als einer Woche besiegen und weite Teile ägyptischen, jordanischen und syrischen Territoriums erobern konnte.
»Das paradoxe Ergebnis all dieser Dinge war, dass Israel, je mächtiger es wurde, das Gefühl hatte, mehr Macht zu brauchen.«
Von diesem Moment an änderten sich die Spielregeln des Konflikts. Für die arabischen Staaten gab es nur einen gangbaren Weg, die eroberten Gebiete zurückzugewinnen: Sie mussten sich mit dem Eroberer arrangieren. Moshe Dayan, Israels Verteidigungsminister, brachte die Situation drei Tage nach Kriegsende mit einer lakonischen Bemerkung auf den Punkt. »Wir sind mit dem, was wir jetzt haben, recht zufrieden. Wenn die Araber eine Änderung wünschen, sollten sie uns anrufen.«
Nun, da die brutale Physik des militärischen Zwangs die Arabischen Staaten dazu zwang, ihre langjährige Haltung gegenüber dem jüdischen Staat zu überdenken, bot sich Israel die einmalige Gelegenheit, endlich die Bismarcksche Siedlungspolitik zu verfolgen, die Jabotinsky fünfzig Jahre zuvor (wenn auch in einem ganz anderen Kontext) befürwortet hatte.
Aber aus Gründen, die sowohl auf die Traumata der jüdischen Geschichte als auch auf die politischen Umstände der Welt nach 1967 zurückzuführen sind, war Israel nicht in der Lage, dies zu tun. Seit dem Krieg war die politische Kultur des Landes – bei Linken wie bei Rechten, bei Säkularen wie bei Religiösen – durchdrungen von einem messianischen Glauben an die Notwendigkeit jüdischer territorialer Expansion und an die Unzulässigkeit territorialer Kompromisse. Die Israelis klammerten sich an ein Konzept der »absoluten Sicherheit« (im Sinne Kissingers), das sie im Laufe der Jahre in eine Reihe militärischer Katastrophen trieb, allen voran der »Einmarsch« in den Libanon 1982, der eigentlich nur ein paar Wochen dauern sollte, sich aber schließlich fast zwei Jahrzehnte hinzog. Und in der kollektiven Psyche der Nation hat sich ein grob verzerrtes Bild von Israels arabischen Nachbarn festgesetzt, das auf der sich selbst erfüllenden Prophezeiung einer ewigen Feindschaft beruht, die von einem zeitlosen Hass auf Jüdinnen und Juden angetrieben wird.
Diese Mentalität wurde von Joshua Cohen in seinem Roman The Netanyahus aus dem Jahr 2021 sehr treffend beschrieben. In dem fiktiven Bericht geht es um den Aufenthalt von Benzion Netanjahu und seiner jungen Familie (einschließlich des Teenagers Binyamin) im Jahr 1960 in einer idyllischen amerikanischen College-Stadt. Netanjahu ist aufgrund eines Vorstellungsgespräches vor Ort.
An einer Stelle des Buches bewertet ein israelischer Akademikerkollege die Arbeit von Netanjahu père, der Experte für mittelalterliche jüdische Geschichte war:
»In fast jedem seiner Texte kommt ein Punkt, an dem sich herausstellt, dass das eigentliche Phänomen, um das es geht, nicht der Antisemitismus im frühmittelalterlichen Lothringen oder im spätmittelalterlichen Iberien ist, sondern der Antisemitismus im nationalsozialistischen Deutschland des 20. Jahrhunderts. Plötzlich wird aus einer Beschreibung, wie eine bestimmte Tragödie eine bestimmte Diaspora betroffen hat, eine Hetzrede über die allgemeine Tragödie der jüdischen Diaspora und wie diese Diaspora in der Gründung des Staates Israel enden muss – als ob Geschichte nicht beschreiben, sondern vorschreiben sollte.
Ich bin mir nicht sicher, ob diese Politisierung des jüdischen Leidens in der amerikanischen akademischen Welt die gleiche Wirkung hätte wie bei uns. Aber in jeder Umgebung muss die Verbindung der Pogrome der Kreuzfahrerzeit mit der iberischen Inquisition und dem Nazireich als Überschreitung der Grenzen einer schlampigen Analogie angesehen werden, um eine Zyklizität der jüdischen Geschichte zu behaupten, die gefährlich nahe am Mystischen ist.«
Das paradoxe Ergebnis all dieser Dinge war, dass Israel, je mächtiger es wurde, das Gefühl hatte, mehr Macht zu brauchen. Je mehr Zugeständnisse es seinen Feinden abverlangte, desto mehr Zugeständnisse benötigte es. Jabotinsky hatte der zionistischen Bewegung geraten, ihre militärische Stärke auszubauen, um die Angriffe des Gegners zu vereiteln – und Israel wurde darin ziemlich geschickt. Aber ohne äußeren Zwang konnte es sich nie dazu durchringen, den Höhepunkt von Jabotinskys Bismarckschem Programm zu erreichen: die endgültige Einigung mit dem besiegten Feind.
Mit anderen Worten: Israel konnte sich nicht mit einem Ja zufriedengeben.
Im Februar 1971 erklärte Anwar Sadat, der neue Präsident Ägyptens, des größten und mächtigsten arabischen Staates, als erster arabischer Staatschef seine Bereitschaft zur Unterzeichnung eines Friedensvertrags mit Israel. Er würde dies tun, sagte er, wenn Israel sich verpflichten würde, sich von der ägyptischen Sinai-Halbinsel zurückzuziehen und einer Verhandlungslösung für die Palästinenserfrage zuzustimmen.
Schließlich zahlte sich Sadats Beharrlichkeit bei der Suche nach einem Abkommen mit Israel aus: Dank der guten Dienste von Jimmy Carter wurde 1978 in Camp David ein ägyptisch-israelisches Abkommen über die Bedingungen eines Friedensvertrags unterzeichnet – wofür Sadat 1978 den Friedensnobelpreis erhielt – und Israel gab die ägyptische Sinai-Halbinsel schrittweise bis 1982 zurück.
Aber es sollte acht Jahre dauern, einen Krieg in der gesamten Region, ein amerikanisch-sowjetisches Patt, das die Welt an den Rand eines nuklearen Armageddons brachte, und eine spektakuläre diplomatische Geste Sadats – sein erstaunlicher Besuch in Jerusalem 1977, der vier Jahre später direkt zu seiner Ermordung durch islamische Extremisten führte – um die israelische Obstruktionspolitik zu überwinden und ein ägyptisch-israelisches Abkommen Wirklichkeit werden zu lassen.
Zwei Jahre lang versuchte Sadat nach seiner Initiative vom Februar 1971 vergeblich, seinen Friedensvorschlag angesichts der verächtlichen Ablehnung Israels voranzutreiben. (Damals, so schreibt der israelische Soziologe Uri Ben-Eliezer, wurde Sadat in Israel noch »als unwissender ägyptischer Bauer und Zielscheibe des Spottes dargestellt«). Im Frühjahr 1973 beschloss er, dass seine diplomatischen Möglichkeiten erschöpft waren, und zog in den Krieg, um Ägyptens verlorenes Gebiet zurückzugewinnen.
Sadat wusste, dass Ägypten die Gebiete nicht im Kampf zurückerobern konnte. Sein Plan war im Wesentlichen die Strategie eines Kneipenschlägers: Er würde einen Kampf mit seinem stärkeren Gegner beginnen, schnell ein paar gute Schläge austeilen und dann darauf zählen, dass die Zuschauer – in diesem Fall die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion – eingreifen und das Handgemenge beenden, bevor zu viel Schaden angerichtet werden konnte. Indem er eine Krise des Kalten Krieges heraufbeschwor, wollte er die Vereinigten Staaten, die einzige Macht mit Einfluss auf Israel, dazu zwingen, die Israelis an den Verhandlungstisch zu zerren.
Sein brillant ausgeführter Überraschungsangriff vom 6. Oktober 1973, der im Geheimen mit Syrien abgestimmt war, erfüllte seinen Zweck. Er traf Israel unvorbereitet und unbewusst und löste eine nationale Vertrauenskrise aus, deren Nachhall in der gesamten israelischen Gesellschaft noch jahrelang zu spüren sein sollte. Er führte zu einer Konfrontation zwischen den USA und der Sowjetunion, die beinahe zu einer nuklearen Eskalation geführt hätte. Und sie zwang die Vereinigten Staaten dazu, Israel in Richtung einer Einigung zu drängen.
Als er Jahrzehnte später in seinen Memoiren auf diese Abfolge von Ereignissen zurückblickte, schrieb der israelische Elder Statesman Shimon Peres, der die Entscheidungen seiner früheren Kollegen nicht beurteilen wollte (er war 1971–73 Staatssekretär in der Regierung gewesen), vorsichtig über Sadats abgelehnte Vorkriegs-Friedensbedingungen: »Es ist heute schwer zu beurteilen, ob ein Frieden mit Sadat zu den Bedingungen, die schließlich fünf Jahre später vereinbart wurden, damals möglich gewesen wäre.«
Andere Beamte aus dieser Zeit waren jedoch weniger zurückhaltend. »Ich glaube wirklich, dass es ein historischer Fehler war, Sadats Angebot von 1971 abzulehnen«, schrieb Eytan Bentsur, ein hochrangiger Berater des damaligen Außenministers Abba Eban. Dieses Urteil wird heute von vielen israelischen und amerikanischen Analysten geteilt. »Die Geschichte wird darüber urteilen, ob nicht eine Gelegenheit verpasst wurde, den Jom-Kippur-Krieg zu verhindern und den Frieden mit Ägypten in Camp David vorwegzunehmen«.
Auch wenn Sadats Vorschlag von 1971 durch die über vertrauliche diplomatische Kanäle übermittelten Negativmeldungen zu Fall gebracht wurde, in der Öffentlichkeit war er ebenso Opfer eines tief verwurzelten mentalen Ticks im westlichen Diskurs über den Nahen Osten: dem Reflex, jeden arabischen Friedensvorschlag als Trick zu interpretieren, der insgeheim nicht den Frieden, sondern die Vernichtung Israels zum Ziel habe.
Wie eine Friedensinitiative überhaupt ein Trick sein kann und was man sich von der Ankündigung eines »Trick-Friedensvorschlags« erhofft, sind Fragen, auf die es keine naheliegenden Antworten gibt. Dennoch hat die Legende von der »falschen arabischen Friedensinitiative« bis heute einen starken psychologischen Einfluss auf viele westliche und israelische Beobachter.
So warnte beispielsweise der Diplomatenhistoriker A. J. P. Taylor – der berühmteste britische Historiker seiner Zeit – kurz nachdem Sadat 1971 sein Friedensangebot veröffentlicht hatte, in einem Zeitungskommentar davor, dass der ägyptische Führer einen ausgeklügelten Kniff versuche. »Lassen Sie sich nicht von dem gerissenen Sadat täuschen«, warnte Taylor. Der verräterische Hinweis, der Sadats wahre Absichten entlarvte, war nach Ansicht des Gelehrten sein Beharren auf der Rückgabe aller besetzten ägyptischen Gebiete, einschließlich der strategisch wichtigen Stadt Sharm el-Shaikh.
Offensichtlich hat die Geschichte diese Annahme nicht bestätigt. Zweiundfünfzig Jahre später ist Sharm el-Shaikh ein Luxusferienort, das Juwel der ägyptischen Tourismusindustrie. Ein ägyptisch-israelischer Friedensvertrag ist seit mehr als vier Jahrzehnten in Kraft und wurde nie gebrochen, weder von der einen noch von der anderen Seite. Es ist fast unnötig zu erwähnen, dass Israel damit natürlich nicht die Luft abgeschnürt wurde.
Die Mentalität der westlichen Publizisten Israels entfernte sich auf diese Weise immer mehr von der Realität. Sie interpretierten das Weltgeschehen durch die zunehmend verzerrte Linse der zionistischen Dämonologie. Ein Leitartikel aus dem Jahr 1973 in der damals auflagenstärksten jüdischen Zeitung der Vereinigten Staaten – der New Yorker Jewish Week – ist bezeichnend. Zu diesem Zeitpunkt begann in Genf eine UN-Friedenskonferenz für den Nahen Osten, und es hatte kürzlich eine Flut von Pressekommentaren gegeben, die vorsichtig andeuteten, dass Sadat vielleicht doch Frieden mit Israel wollte.
»Die Theorie des arabischen Friedensschwindels hatte schon immer die Tendenz, sich selbst in einen logischen Graben zu führen.«
Die Redakteure der Jewish Week hatten eine Frage an solche Naivlinge: Hatten sie denn nichts von Hitler gelernt?
»Die arabischen Führer haben uns gesagt, dass ihre Ziele recht begrenzt sind. Sie sagen, sie wollen nur die Gebiete zurückgewinnen, die Israel 1967 erobert hat. Dann werden sie zufrieden sein und Israel anerkennen, um für immer in Frieden zu leben.
Hätten Chamberlain und Daladier Mein Kampf gelesen und die darin enthaltenen Warnungen beherzigt, hätten sie gewusst, dass Hitler seine wahren Ziele verheimlicht hat.
Wenn die leichtgläubigen Redakteure und Staatsmänner, die den arabischen Beteuerungen von begrenzten Kriegszielen Glauben schenken, die nicht dementierten Kriegsziele der arabischen Führer lesen würden, die sich jetzt zur Mäßigung bekennen, wüssten sie, dass der Jom-Kippur-Krieg und die anschließende arabische Friedensoffensive direkt auf den Münchner Verrat zurückzuführen sind.«
Es ist einfach im Nachhinein und mit der enormen Herablassung der Nachwelt über diese Art von Hysterie zu lachen. Nach fünfzig Jahren können wir mit Gewissheit sagen, dass keine Tschechoslowakei des Nahen Ostens den Bataillonen der ägyptischen Wehrmacht zum Opfer gefallen ist.
Aber genau die gleiche Argumentation und Rhetorik wird heute routinemäßig verwendet, nur dass jetzt die Hamas Anwar Sadats Ägypten als Epizentrum des heraufziehenden Vierten Reiches ersetzt – eine traumlogische Montage der Geschichte, in der ein austauschbarer Chor von Hitler-Arabern in einem unheimlich München-ähnlichen Genf (oder ist es ein Genf-ähnliches Oslo) »Mäßigung beteuert«, um leichtgläubige Westler über ihre genozidalen Absichten zu täuschen.
Als Friedensstifter wird Sadat heute fast heilig von allen im offiziellen Washington verehrt – von den seriösen Redenschreibern im Weißen Haus bis zu den fahnenschwenkenden Yahoos im Kongress. Um den Leitartiklern der Jewish Week gegenüber fair zu sein, sollte man sich allerdings auch daran erinnern, dass Sadat routinemäßig antisemitische Beschimpfungen von einer Schärfe von sich gab, die man heute von den Führern der Hamas niemals hören würde.
In einer Rede aus dem Jahr 1972 bezeichnete er die Juden als »ein Volk von Lügnern und Verrätern, das für Taten des Verrats geboren ist«, und sagte: »Das Großartigste, was der Prophet Mohammad getan hat, war, sie von der gesamten arabischen Halbinsel zu vertreiben.« Außerdem versprach er, dass er »niemals direkte Verhandlungen« mit den Juden führen würde. (Wie man sieht, hat er genau das kurz darauf getan.)
Sadat zögerte auch nicht, die »Zerstörung Israels« verbal heraufzubeschwören, wenn es ihm passte; er tat dies routinemäßig, unter anderem in einer Rede vor seiner regierenden Partei der Arabischen Sozialistischen Union nur vier Monate nach seiner Friedensinitiative vom Februar 1971. In dieser Juni-Rede sprach er von seiner Vorfreude auf den kommenden Kampf zur Zerstörung des »zionistischen Eindringlings«.
Es gab zwei gegensätzliche Arten, diese Art von Rhetorik von Sadat zu interpretieren. Auf der einen Seite gab es den Ansatz der Leitartikler der englischsprachigen Jerusalem Post – einer Publikation, die der Legende vom arabischen Friedensschwindel tief verhaftet ist –, die schadenfroh erklärten, Sadats Rede habe »die Maske des Friedenssuchenden heruntergerissen, um das wahre Gesicht des Kriegstreibers zu zeigen.« Seine Friedensinitiative von vier Monaten zuvor sei dadurch als »kalkulierter Betrug« entlarvt worden.
Aber woher wussten die Leitartikler, dass der Friedensvorschlag vom Februar der Betrug war und nicht die Kriegsdrohung vom Juni? Und wenn der Friedensvorschlag tatsächlich ein »kalkulierter Betrug« war – warum sollte Sadat seinen eigenen kalkulierten Betrug aufdecken? Die Theorie des arabischen Friedensschwindels hatte schon immer die Tendenz, sich selbst in einen logischen Graben zu führen.
Eine alternative Interpretation fand sich in einer konkurrierenden israelischen Zeitung, Al HaMishmar, dem Organ der kleinen, weit links stehenden Mapam-Partei, die eine viel glaubwürdigere Erklärung für Sadats kriegerische Rhetorik hatte. Die Zeitung wies schlicht darauf hin, dass es sich bei seiner Rede um eine Wahlkampfrede handelte, die er auf einem Parteitag hielt. Höchstwahrscheinlich, so das Blatt – im skeptischen Geist klarsichtiger Realpolitik – handelte es sich dabei schlicht um ein wenig Wahlkampf.
Al HaMishmar hatte natürlich recht und die Jerusalem Post lag falsch. Sadats Friedensvorschlag war kein Betrug, und an der Theorie des Sadat-Friedensschwindels war nichts Wahres dran. Aber was noch wichtiger ist, es war das Gegenteil von Wahrheit.
Es sei daran erinnert, dass Sadat bereit war, mit Israel Frieden zu schließen, aber nur unter der Bedingung, dass Israel sich aus den besetzten Gebieten zurückzieht und eine gerechte Lösung der Palästinenserfrage akzeptiert. Vor arabischen Zuhörenden versprach er immer wieder, dass er auf beides bestehen würde – dass er sich niemals zu etwas so Unehrenhaftem, so Verräterischem herablassen würde, wie einen separaten Frieden mit Israel zu schließen, der die Notlage der leidenden Palästinenserinnen und Palästinenser nicht berücksichtigt.
Am Ende hat er jedoch genau das getan. Als er 1978 in Camp David feststellte, dass er Israel in der Palästina-Frage keine substanziellen Zugeständnisse abringen konnte, beugte er sich der Übermacht von Israels eiserner Mauer und unterzeichnete ein Abkommen, das Ägypten seine verlorenen Gebiete zurückgab, den Palästinensern aber kaum mehr als eine Feigenblatt-Geste bot. (Das Abkommen sicherte zu, dass Ägypten und Israel die Verhandlungen über die palästinensische »Autonomie« unter israelischer Souveränität fortsetzen würden. Erwartungsgemäß versiegte das kurze Rinnsal von Pro-forma-Verhandlungen schnell.).
Das Ausscheiden Ägyptens, des stärksten arabischen Staates, aus der arabischen Koalition war eine historische Katastrophe für die palästinensische Bewegung, von der sie sich wohl nie erholt hat.
Wenn Sadat also tatsächlich irgendwelche dunklen Gedanken im Hinterkopf hatte, als er 1971 seinen Friedensvorschlag unterbreitete, so handelte es sich dabei nicht um einen geheimen Plan zur Zerstörung des jüdischen Staates, wie Taylor und die amerikanisch-jüdische Presse sowie eine Kavalkade von wissenden und unwissenden Propagandisten von den Seiten des Reader's Digest bis zu den Podien von Meet the Press fälschlicherweise verkündeten.
Was Sadat in Wirklichkeit verbarg, war seine schamhafte Bereitschaft, die Niederlage der palästinensischen Sache in Kauf zu nehmen – und so kam es, dass Menachem Begin, dreißig Jahre nachdem er verkündet hatte: »Wie in Deir Yassin, so werden wir überall angreifen und den Feind vernichten«, und Sadat, sieben Jahre nachdem er erklärt hatte, er werde »niemals direkte Verhandlungen« mit Israel führen, sondern dessen »völlige Zerstörung« anstreben, gemeinsam auf dem Rasen des Weißen Hauses stehen und sich herzlich die Hände schütteln konnten, während ein strahlender Jimmy Carter zusah. Das war Realpolitik in Aktion.
Zu diesem Zeitpunkt stand der Mann, der zum treibenden Geist hinter der Gründung der Hamas werden sollte – ein 43-jähriger querschnittsgelähmter Mann aus dem Gazastreifen namens Ahmed Yassin – an der Schwelle zu einem erstaunlichen politischen Aufstieg.
Zur Zeit des Camp-David-Abkommens drehte sich die Politik im israelisch besetzten Gazastreifen um zwei Pole. Auf der Linken gab es eine Konstellation von Kräften, die sich um den Arzt Haidar Abdel-Shafi, einen ehemaligen Kommunisten, und seine Ortsgruppe des Palästinensischen Roten Halbmonds gruppierten. Dazu gehörten die Frauenrechtlerin und Gewerkschaftsführerin Yusra al-Barbari von der General Union of Palestinian Women, Fayez Abu Rahmeh von der Gaza Bar Association, die politische Gefangene im Gazastreifen unterstützte, und Mousa Saba, der Leiter der Gaza-Sektion der YMCA (Young Men's Christian Association), die Sommerlager und Diskussionsseminare für Palästinenserinnen und Palästinenser aller Glaubensrichtungen veranstaltete. Abdel-Shafi, der in den 1960er Jahren zu den Gründungsmitgliedern der Palästinensischen Befreiungsorganisation (PLO) gehört hatte, war ein früher Befürworter einer Zweistaatenlösung, bei der ein unabhängiger palästinensischer Staat neben Israel existieren würde.
Der andere Pol konzentrierte sich auf den 1946 gegründeten Gaza-Zweig der Muslimbruderschaft. Yassin, ein frommer Schullehrer mit einer dünnen Stimme, der als Kind bei einem Sportunfall gelähmt worden war, schloss sich schon früh der Bruderschaft an und gewann in den 1960er Jahren durch seine charismatischen Laienpredigten eine treue Anhängerschaft vor Ort.
Ende der 1960er Jahre befand sich die örtliche Bruderschaft auf einem Tiefpunkt, ihre Mitgliederzahl betrug nicht mehr als ein paar Dutzend. Doch im Laufe der 1970er Jahre begannen Yassin und seine Anhänger mit einer starken Organisationskampagne, deren institutionellen Ausdruck sie »Mujama al-Islamiya« (das islamische »Zentrum« oder »Kollektiv«) nannten, ein Netzwerk religiöser Schulen, Gemeindezentren, Kindertagesstätten und dergleichen.
Während sie diese Institutionen aufbauten, hielten Yassin und seine Anhänger strikt Abstand von anti-israelischer Gewalt – oder gar nationalistischer Agitation jeglicher Art. Jean-Pierre Filiu, ein französischer Arabist und Autor einer meisterhaften Geschichte des Gazastreifens, schreibt, dass Yassin »die moralisierende Linie der Bruderschaft vertrat, die der spirituellen Wiederbelebung Vorrang vor aktiver Militanz einräumte«. Nach Yassins Ansicht »hatten die Palästinenser Palästina verloren, weil sie nicht ausreichend muslimisch waren – nur wenn sie zu den Quellen ihres Glaubens und zu ihren täglichen Pflichten als Muslime zurückkehrten, würden sie letztendlich in der Lage sein, ihr Land und ihre Rechte zurückzuerlangen.«
In einer bedeutenden politischen Geste nahm der israelische Militärgouverneur im Gazastreifen 1973 an der Einweihungsfeier der Jura al-Shams Moschee teil, dem zentralen Zentrum und Aushängeschild der Mujama. Noch 1986 konnte der israelische Gouverneur des Gazastreifens, General Yitzhak Segev, erklären, dass Israel »islamische Gruppen über Moscheen und religiöse Schulen finanziell unterstützt, um eine Kraft zu schaffen, die sich gegen die linken Kräfte, die die PLO unterstützen, behaupten kann.«
»Noch 1986 konnte der israelische Gouverneur des Gazastreifens, General Yitzhak Segev, erklären, dass Israel ›islamische Gruppen über Moscheen und religiöse Schulen finanziell unterstützt, um eine Kraft zu schaffen, die sich gegen die linken Kräfte, die die PLO unterstützen, behaupten kann.‹«
Gelegentlich wurden diese Verbindungen von PLO-Partisanen mit dem Vorwurf bedacht, Yassin und seine Männer seien Marionetten oder Handlanger der Israelis. Doch der stillschweigende Nichtangriffspakt der Islamisten mit den Besatzern war nicht das Ergebnis von Manipulation, sondern spiegelte ein Zusammentreffen von Interessen wider – ein Ausdruck von Realpolitik auf beiden Seiten.
Was Yassin und seine Anhänger wirklich antrieb, war vor allem ihre Vision einer »Islamisierung von unten«: die Schaffung einer Gesellschaft, in der sich jeder Einzelne dafür entscheiden konnte, ein guter Muslim zu sein, und von Institutionen umgeben sein würde, die diese Entscheidung fördern würden. Das war die Essenz der Ideologie der Muslimbruderschaft überall, und wie die religiöse Rechte in den USA waren ihre Vertreter sehr anpassungsfähig, wenn es um die Mittel ging, mit denen sie diese Ideologie durchsetzen wollten. Amerikanische Fundamentalisten verbrannten abwechselnd Beatles-Platten oder sponserten christliche Rockfestivals, bauten Megakirchen in den Vorstädten oder predigten mit langen Haaren in Hippie-Konventen. Die Islamisten von Gaza würden ihre Mission mit einer ähnlichen Flexibilität angehen.
In den 1970er und 1980er Jahren war das Ethos der Mujama durch eine vehemente Ablehnung jeder Politik (»die Sprache der Lügen und des Verrats«, wie sie zu sagen pflegten) zugunsten von Prioritäten wie Familie, Bildung und einer Rückkehr zu traditionellen Sitten geprägt. Daher hielten sich die Islamisten hartnäckig aus dem nationalen Kampf heraus – eine Entscheidung, die den zusätzlichen Vorteil hatte, ihr Projekt vor den Schikanen der israelischen Militärbehörden zu schützen.
Die Männer der Mujama waren nicht davor gefeit, bei der Verfolgung ihrer Ziele Gewalt gegen andere Palästinenserinnen und Palästinenser anzuwenden: In einem Moment der Hybris inmitten der Welle arabischer Empörung über Sadats Friedensvertrag versuchten Yassins Kräfte, es mit der lokalen Linken aufzunehmen – »den Kommunisten«, »den Atheisten«, wie sie alle ihre linken Rivalen verächtlich nannten –, indem sie bei den Wahlen zum Vorsitz der Gesellschaft des Roten Halbmonds einen Kandidaten gegen Abdel-Shafi aufstellten.
Als der islamistische Kandidat in einem Erdrutschsieg verlor, »drückten mehrere hundert islamistische Demonstranten am 7. Januar 1980 ihre Wut aus, indem sie die Büros des Roten Halbmonds plünderten, bevor sie zu Cafés, Kinos und Trinkhallen im Stadtzentrum weiterzogen«, berichtet Filiu. (Die israelische Armee griff übrigens nicht ein.) In den 1980er Jahren wurde Gaza zum Schauplatz einer bösartigen und bisweilen gewalttätigen Kampagne der Islamisten, die den Frauen »bescheidene« Kleidung vorschreiben wollten.
Erst nach dem Ausbruch der ersten Intifada Ende 1987 – einem spontanen und massiven Volksaufstand, bei dem PLO-Kader schnell die Führung übernahmen – setzte sich Yassin über seine zerstrittenen Berater hinweg und traf die strategische Entscheidung, sich dem Kampf gegen Israel anzuschließen.
Inmitten der Explosion von Massenstreiks und Boykotten, steinewerfenden Demonstrierenden und Konfrontationen mit israelischen Soldaten erkannten die Männer der Mujama, aus welcher Richtung der Wind wehte. Sie hatten ein Produkt zu verkaufen, und es war offensichtlich, was ihre Zielgruppe wollte. Im Widerspruch zu allem, was sie in den letzten zehn Jahren gepredigt hatten, begannen sie, anonyme Flugblätter zu verteilen, in denen sie die Gläubigen zum Widerstand gegen die Besatzung aufriefen. Bald begannen sie, die Flugblätter mit »Islamische Widerstandsbewegung« zu signieren, deren arabische Initialen »Hamas« bedeuten.
Fast über Nacht verwandelten sich die berüchtigten Quietisten der religiösen Rechten im Gazastreifen, die einst von den palästinensischen Nationalisten verspottet und verurteilt wurden, weil sie den Anti-Israel-Kampf aussitzen, in bewaffnete Guerillas.
Zum Zeitpunkt des Osloer Abkommens von 1993 waren sie überraschend zu den Fahnenträgern eines kompromisslosen palästinensischen Nationalismus geworden.
Wenn die Zeremonie zur Unterzeichnung des Osloer Abkommens 1993 wie eine Neuinszenierung des früheren Händedrucks auf dem Rasen des Weißen Hauses aussah – eine Neuinszenierung eines alten Theaterstücks, mit Yassir Arafat und Yitzhak Rabin in den Rollen von Sadat und Begin und Bill Clinton in der Rolle des neuen Jimmy Carter – so war das nicht die einzige Ähnlichkeit zwischen Camp David und Oslo. Beide Abkommen waren ein Nebenprodukt der angeborenen Unfähigkeit Israels, ein Ja als Antwort zu akzeptieren.
Wenn das »Ja« im Falle Ägyptens 1971 kam, als Sadat zum ersten Mal seine Bereitschaft signalisierte, Israel anzuerkennen, so wurde das »Ja« von Yassir Arafats PLO zum ersten Mal im Dezember 1973, kurz vor der Genfer Friedenskonferenz, übermittelt, als Arafat eine geheime Botschaft nach Washington schickte:
Die Palästinensische Befreiungsorganisation strebt keineswegs die Zerstörung Israels an, sondern akzeptiert dessen Existenz als souveränen Staat; das Hauptziel der PLO auf der Genfer Konferenz ist die Schaffung eines palästinensischen Staates aus dem »palästinensischen Teil Jordaniens« [d.h. dem Westjordanland und Ostjerusalem] sowie dem Gazastreifen.
Doch Arafats private Erklärung änderte nichts an der formellen, öffentlichen Position der PLO: Offiziell blieb die Gruppe, in den Worten der PLO-Charta von 1968, der »Beseitigung des Zionismus in Palästina« verpflichtet. Diese Diskrepanz lässt sich darauf zurückführen, dass die »Anerkennung Israels« für die Palästinenserinnen und Palästinenser etwas ganz anderes bedeutete als für Ägypten.
Sadats Friedensinitiative hatte vorgeschlagen, die Anerkennung Israels gegen eine vollständige Wiederherstellung der territorialen Integrität Ägyptens einzutauschen. Für die Palästinenser hingegen war die Anerkennung Israels gleichbedeutend mit dem Verzicht auf ihr Recht auf 78 Prozent des Territoriums ihrer Heimat. Was für Ägypten lediglich ein demütigendes politisches Zugeständnis an einen regionalen militärischen Rivalen war, bedeutete auf palästinensischer Seite einen existenziellen Akt der Entsagung.
Arafat glaubte, dass die palästinensischen Massen ein solches Opfer dennoch unterstützen würden – aber nur als Teil eines historischen Kompromisses, bei dem die Anerkennung des Verlusts von 78 Prozent Palästinas durch die Zusicherung ausgeglichen würde, dass die verbleibenden 22 Prozent ein palästinensischer Staat werden würden.
Daher wählte er das, was man seine »amerikanische Strategie« nennen könnte. In den folgenden fünfzehn Jahren versuchte Arafat, einen Dialog mit den USA zu führen, in der Hoffnung, eine Einigung zu erzielen: Im Gegenzug für eine formelle, öffentliche Verpflichtung der PLO, Israel anzuerkennen, würde sich Washington öffentlich verpflichten, sich für die palästinensische Eigenstaatlichkeit einzusetzen und den notwendigen Druck auf Israel auszuüben.
Der PLO-Führer warb bei jedem Amerikaner, der ihm zuhören wollte, für dieses Konzept. In einem Gespräch mit einem US-Senator, der 1976 in Beirut zu Besuch war, »sagte Arafat, dass er seinem Volk etwas vorweisen müsse, bevor er Israels Recht auf Existenz als unabhängiger Staat anerkennen könne«, heißt es in einem Bericht der US-Botschaft an das Außenministerium in Washington. »Dieses Etwas könnte ein israelischer Rückzug von ›einigen Kilometern‹ im Gazastreifen und im Westjordanland sein«, wobei eine UN-Truppe die Kontrolle über das geräumte Gebiet übernehmen würde.
Israel handelte schnell, um Arafats Strategie zu vereiteln. 1975 entlockte es Außenminister Henry Kissinger eine unterzeichnete Absichtserklärung, in der Kissinger zusicherte, dass die USA nicht mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation verhandeln würden, solange diese das Existenzrecht Israels nicht anerkenne. Indem die Vereinbarung die Anerkennung Israels durch die PLO zur Vorbedingung für einen Dialog mit den USA machte, schloss sie jedes Szenario aus, in dem die Anerkennung im Gegenzug für Zusagen der USA gewährt werden könnte.
Kissinger hatte keine Skrupel, seine Fähigkeit zu Gesprächen mit der PLO aufzugeben. Er war überzeugt, dass solche Gespräche zu nichts führen würden – nicht weil die palästinensische Seite ablehnend war, sondern weil die Israelis es waren. »Sobald [die PLO] in den Friedensprozess eingebunden ist«, sagte er auf einem Treffen der US-Botschafter im Nahen Osten im Juni 1976, »werden sie all die Fragen aufwerfen, mit denen die Israelis nicht umgehen können« – die Fragen des Westjordanlandes, des Gazastreifens und Ostjerusalems.
Kissinger zufolge unterschätzt jeder, der so töricht ist zu glauben, dass eine US-Regierung ihren Einfluss nutzen könnte, um Israel in diesen Fragen zum Einlenken zu zwingen, »völlig, was es bedeutet, es mit der [Israel-]Lobby aufzunehmen. Sie treffen dich nie in einem Punkt; du musst gegen zehn andere Punkte kämpfen – deine Glaubwürdigkeit, alles«. Kurz gesagt: »Wir können die Mindestforderungen der PLO nicht erfüllen, warum also mit ihnen reden?«
Sobald Kissingers Memorandum unterzeichnet war, machten sich Israels Drahtzieher und Propagandisten an die Arbeit, um es von einer bloßen Übereinkunft zwischen Außenministern in ein sakrosanktes Totem der Innenpolitik zu verwandeln, vor dem jeder ehrgeizige US-Politiker niederknien musste. Bei den Präsidentschaftswahlen 1980 versuchten alle vier großen Kandidaten – Ted Kennedy, Jimmy Carter, John Anderson und Ronald Reagan –, sich gegenseitig darin zu überbieten, die PLO anzuprangern.
Diesmal musste der ideologische Wurlitzer aufgedreht werden: Es reichte nicht aus, die PLO als eine Gruppe darzustellen, die derzeit die Existenz Israels ablehnt (was, wenn überhaupt, als Argument für US-Kontakte mit der Gruppe dienen könnte – um sie zu überzeugen, ihre Haltung zu ändern).
Vielmehr musste die PLO als unfähig dargestellt werden, die Existenz Israels zu akzeptieren oder überhaupt mit Jüdinnen und Juden zusammenzuleben. In der populären Formulierung jener Zeit, die von angeblich sachlichen Nachrichtenorganisationen wie der Associated Press und der New York Times endlos wiederholt oder paraphrasiert wurde, war die PLO eine Organisation, die »auf die Zerstörung Israels geschworen« hatte. Oder, wie es der Exodus-Autor Leon Uris – der Homer des amerikanischen Zionismus, sein Barde und Ur-Mythologe – 1976 in einem offenen Brief ausdrückte: Die PLO war »emotional und konstitutionell an die Vernichtung der jüdischen Existenz im Nahen Osten gebunden«.
Hochrangige US-Beamte waren gezwungen, diese Behauptung – dass die PLO auf die Zerstörung Israels aus sei – rituell zu wiederholen, obwohl sie aus erster Hand wussten, dass dies nicht stimmte. »Wir müssen berücksichtigen, was die Position der Parteien ist«, sagte Jimmy Carters Außenminister Edmund Muskie im Juni 1980, als er die zunehmend isolierte Haltung der USA gegen eine Beteiligung der PLO an Friedensgesprächen verteidigte, »und die Position der PLO ist, dass sie nicht an einer Verhandlungslösung mit Israel interessiert ist. Sie ist nur an der Auslöschung Israels interessiert«.
Unterdessen teilte die CIA dem Außenministerium privat mit, dass die PLO sich keineswegs weigere, Israel anzuerkennen, sondern intern diskutiere, was sie als Gegenleistung für die Anerkennung verlangen solle: »Trotz der Bemühungen von gemäßigten Fatah-Mitgliedern [wie Arafat], den Rest der [PLO-]Führung davon zu überzeugen, dass ein Dialog mit den USA genügend langfristige Vorteile mit sich bringt, um [die Anerkennung Israels] zu rechtfertigen, bleibt die PLO-Führung weitgehend davon überzeugt, dass sie mehr als nur Gespräche mit den USA verlangen muss, bevor sie das aufgibt, was sie als ihre einzige wichtige ›Karte‹ im Verhandlungsprozess betrachtet.«
Wie A. J. P. Taylors Betrachtungen über Anwar Sadat sind auch die Einschätzungen über die PLO, die damals vorherrschten, schlecht gealtert. Weit davon entfernt, sich als »emotional und verfassungsmäßig an die Vernichtung der jüdischen Existenz im Nahen Osten gebunden« zu erweisen, erkennt die PLO Israel heute an. Zusätzlich hat sie einen Führer, Mahmoud Abbas, dessen Politik der »Sicherheitskoordination« mit den Besatzungsbehörden als so unentbehrlich für die israelische Armee gilt, dass die Lobbyisten und Diplomaten des Landes verwirrte rechte Republikaner regelmäßig daran erinnern müssen, dass sie eigentlich wollen, dass die USA die palästinensischen Sicherheitskräfte weiter finanzieren.
Abbas, dessen endlose Zugeständnisse an Israel ihn in seinem eigenen Volk zur politischen Bedeutungslosigkeit verurteilt haben, hat das letzte Jahrzehnt damit verbracht, um eine NATO-Besetzung des Westjordanlandes zu betteln – eine seltsame Art, die »Vernichtung der jüdischen Existenz im Nahen Osten« zu verfolgen.
Schließlich, 1988, gab Arafat nach. Im tunesischen Exil, nach der blutigen Vertreibung der PLO aus dem Libanon, drängte er den Palästinensischen Nationalrat (PNC) zu einer einseitigen Anerkennung Israels, ohne die Gewissheit zu haben, dass irgendeine Bewegung in Richtung eines palästinensischen Staates bevorstehen würde. In seinen Memoiren fasste der damalige Außenminister George Shultz die Episode scherzhaft wie folgt zusammen: »Arafat sagte endlich ›Onkel‹.«
Israel hatte endlich sein »Ja« von den Palästinensern erhalten, unterzeichnet, bezeugt und notariell beglaubigt. Aber es hatte keinerlei Auswirkungen auf die Haltung der USA oder Israels gegenüber der palästinensischen Eigenstaatlichkeit.
Mehr als dreißig Jahre später bleibt der palästinensische Beschluss von 1988 – der einen Frieden zwischen einem Israel auf 78 Prozent des Landes und einem palästinensischen Staat auf 22 Prozent forderte – ein Angebot auf dem Tisch, das keine israelische Regierung je anfassen wollte.
Hätte Arafat dort aufgehört, wären die Palästinenserinnen und Palästinenser in diplomatischer Hinsicht so vorteilhaft positioniert gewesen, wie es unter den gegebenen Umständen zu erwarten war. Stattdessen beging er einen tragischen, historischen Fehler. Er ging über ein »Ja« hinaus.
1992 genehmigte Arafat, der befürchtete, in der Aufregung der Nahost-Diplomatie nach dem Golfkrieg ins Abseits zu geraten, heimlich Gespräche in Oslo mit Vertretern der neu gewählten israelischen Regierung von Yitzhak Rabin. Im Verlauf dieser Gespräche machte er Zugeständnisse, die, nachdem sie öffentlich gemacht worden waren, von den aufmerksamsten palästinensischen Beobachtern mit Empörung und Unglauben aufgenommen wurden.
»Israel hat sich, in die Enge getrieben, schließlich von seiner letzten moralischen Verpflichtung befreit.«
In den Osloer Abkommen bekräftigte Arafat nicht nur die Anerkennung Israels durch die PLO, ohne dass Israel im Gegenzug die palästinensische Eigenstaatlichkeit anerkannte oder auch nur die Möglichkeit einer Eigenstaatlichkeit erwähnte; er räumte Israel ein Vetorecht in Bezug auf die palästinensische Eigenstaatlichkeit ein (»Die PLO ... erklärt, dass alle noch offenen Fragen in Bezug auf den dauerhaften Status durch Verhandlungen gelöst werden sollen«).
Arafat verzichtete nicht nur auf die Anwendung von Gewalt gegen Israel – einseitig und ohne Gegenleistung – und erklärte sich bereit, den Widerstand gegen die Besatzung im Namen Israels zu unterdrücken; er tat dies auch ohne die Zusage der Besatzer, die Beschlagnahme palästinensischen Landes für den Ausbau jüdischer Siedlungen, Straßen oder Militäreinrichtungen einzustellen.
Der palästinensisch-amerikanische Historiker Rashid Khalidi nannte Arafats Schritt »einen durchschlagenden, historischen Fehler mit schwerwiegenden Folgen für das palästinensische Volk«. Edward Said bezeichnete ihn als »ein Instrument der palästinensischen Kapitulation, ein palästinensisches Versailles«. Haidar Abdel Shafi, der die offizielle palästinensische Delegation bei den von den USA geförderten Friedensgesprächen nach dem Golfkrieg leitete, verurteilte das Abkommen und seine »schrecklichen Opfer« und nannte es »an sich ein Zeichen für die schreckliche Verwirrung, in der sich die Palästinenser befinden.« Mahmoud Darwish, der palästinensische Nationaldichter und Verfasser der Unabhängigkeitserklärung von 1988, trat aus Protest von der PLO-Führung zurück.
Eine der am meisten unterschätzten Tatsachen in Bezug auf das Osloer Abkommen ist, wie die obigen Zitate belegen, dass zu seinen vehementesten palästinensischen Kritikern nicht nur die Gegner der Zweistaatenlösung gehörten, sondern auch deren engagierteste und langjährigste Befürworter. Personen wie Khalidi, Said, Darwish oder Shafi, die bereits in den frühen 1970er Jahren den damals einsamen Schritt unternommen hatten, eine palästinensische Abrechnung mit dem bitteren Urteil von 1948 zu fordern.
»Wir haben die Lektion von Oslo gelernt«, sagte Khaled Meshaal, der in Katar ansässige Leiter des externen Politbüros der Hamas, Ende letzten Monats einem Reporter der französischen Tageszeitung Le Figaro. »1993 erkannte Arafat Israel an, das ihm im Gegenzug nichts gab.«
Er verglich Arafats Fehler mit dem, was er als klügeren Balanceakt der Hamas darstellte. 2017 nahm die Gruppe eine neue Charta an – ein Projekt, das Meshaal persönlich geleitet hat –, in der eine Zweistaatenlösung befürwortet wird und die antisemitische Sprache und apokalyptische Kriegsstimmung der ursprünglichen Gründungserklärung von 1988 gestrichen wurden. Dies geschah jedoch, wie er betonte, »ohne die Anerkennung Israels durch die Hamas zu erwähnen«.
Meshaal »schlägt vor, dass die Frage der Anerkennung Israels geprüft wird, wenn die ›Zeit gekommen ist‹, das heißt, wenn ein palästinensischer Staat gegründet wird«, berichtet Le Figaro. »Aber da nicht alle in der Hamas damit einverstanden sind, will er nicht weiter gehen«.
Die oberste politische Führung der Hamas hatte die Jahre vor dem 7. Oktober damit verbracht, die Hamas als respektablen diplomatischen Gesprächspartner zu positionieren, der eines Tages dort Erfolg haben könnte, wo Arafat mit der Erlangung der palästinensischen Staatlichkeit gescheitert war. All das brach mit den Gräueltaten des 7. Oktober zusammen und ließ Beobachterinnen und Beobachter ratlos zurück, was genau geschehen war und warum.
Fast sofort wurde unter Diplomaten, Journalistinnen und Geheimdienstmitarbeitenden über eine Art Spaltung innerhalb der Hamas gemurmelt. Aber nur selten wurde der Fall so unverblümt dargestellt wie von Hugh Lovatt, einem Experten für palästinensische Politik beim European Council on Foreign Relations, der Ende Oktober mit den Worten zitiert wurde: »Die brutale Gewalt, die die Hamas gegen israelische Zivilisten anwendet, stellt eine Machtergreifung der Radikalen im militärischen Flügel dar, die die gemäßigten politischen Kräfte, die für Dialog und Kompromiss eintreten, in die Enge drängen.«
In den letzten Wochen sind weitere Details aufgetaucht. In einem Bericht für das israelfreundliche Washington Institute for Near East Policy schrieb Ehud Yaari, ein israelischer Spezialist für arabische Politik mit engen Verbindungen zum Sicherheitsapparat des Landes, Ende letzten Monats über »wachsende interne Spannungen zwischen Hamas-Führern« und berief sich dabei auf »ausführliche private Gespräche mit zahlreichen regionalen Quellen«.
»Die Einzelheiten des Anschlags [vom 7. Oktober]«, so Yaari, »scheinen für [den Hamas-Vorsitzenden Ismail] Haniyeh und den Rest der externen Führung völlig überraschend gekommen zu sein.« Sie hatten einen grenzüberschreitenden Angriff genehmigt, aber nicht den, der schließlich ausgeführt wurde.
Nur eine »Kerngruppe von Kommandeuren« sei an der detaillierten Planung für den 7. Oktober beteiligt gewesen, berichtete Yaari. Dazu gehörten der starke Mann der Hamas im Gazastreifen, Yahya Sinwar, sowie zwei Spitzenkommandeure des militärischen Flügels (bekannt als Izz ad-Din al-Qassam-Brigaden), von denen einer Sinwars Bruder Mohammed ist.
Es war diese Gruppe, so Yaari, die in letzter Minute neue Befehle – »so viele Zivilisten wie möglich zu ermorden, Geiseln zu nehmen und israelische Städte zu zerstören« – in den Schlachtplan einfügte. Der Plan wurde den Feldkommandeuren der Hamas »bis wenige Stunden vor der Operation« vorenthalten. (Bei der Operation am 7. Oktober handelte es sich um eine gemeinsame Aktion, die von einer Koalition von Streitkräften verschiedener bewaffneter palästinensischer Gruppierungen durchgeführt wurde, nicht nur von der Hamas.)
»Das Ausmaß und die Brutalität des Angriffs lösten Kritik von externen Führern« der Hamas aus, schrieb Yaari, von denen einige in privaten Gesprächen »Sinwars megalomanes Streben nach Größe« scharf verurteilten.
Die Änderungen des Schlachtplans in letzter Minute könnten dazu beitragen, die überraschenden Unterschiede in den Aussagen der Opfer über das Verhalten der Angreifer zu erklären. In einem Artikel, der letzten Monat in Haaretz veröffentlicht wurde, berichtete Lishay Idan, eine Bewohnerin des Kibbuz Nahal Oz, von der Tortur ihrer Familie und erzählte, wie in Nahal Oz »sehr seltsame Dinge passierten«.
»Ein Terrorist in Tarnkleidung und mit grünem Stirnband, der aussah, als hätte er das Sagen, erklärte den Geiseln, er gehöre zum militärischen Flügel der Hamas, der keine Zivilisten verletze. ›Sie sagten, sie würden nur nach Soldaten suchen und Frauen und Kindern nichts antun‹, so Idan«. Auch wenn andere Angreifer in der Gegend mit äußerster Brutalität gegen Zivilistinnen und Zivilisten vorgingen, so Idan, verhielten sich diese Kämpfer anders.
»Es ist nicht einfach für mich, das zu sagen«, schloss sie, »aber es scheint, dass die Zellen, die in unseren Kibbuz kamen, besser konzentriert waren. In einigen Fällen berücksichtigten sie humanitäre Erwägungen«. Sie »brachten uns eine Decke und Kissen und sagten uns, wir sollten die Kinder ins Bett bringen«, und als ihr Kind gefüttert werden musste, »baten sie mich, genau aufzuschreiben, wo [eine Flasche Babynahrung] im Haus nebenan war«. »Lishay schrieb es auf Hebräisch«, heißt es in dem Artikel, »die Terroristen benutzten Google Translate, und schon waren sie weg«.
Einige andere Opfer des 7. Oktober haben ähnlich widersprüchliche Aussagen gemacht. Derzeit führen führende Hamas-Vertreter intensive »Day-after«-Gespräche über die Aussichten auf ein Abkommen zur nationalen Einheit mit Vertretenden der Fatah-Partei von Mahmoud Abbas – möglicherweise auch über das seit langem diskutierte Szenario eines Beitritts der Hamas zur PLO, der anerkannten internationalen Vertretung des palästinensischen Volkes.
Yaari zufolge verschärfen diese Gespräche nun die Spaltung zwischen Sinwar und dem Rest der Hamas-Führung: »Als die Berichte über diese Gespräche Sinwar erreichten, teilte er Haniyeh mit, dass er dieses Verhalten als »empörend« betrachte. Er forderte, dass alle Kontakte mit der PLO und den dissidenten Fatah-Gruppierungen abgebrochen werden, und bestand darauf, dass keine Konsultationen oder Erklärungen über den »Morgen danach« stattfinden, bis eine dauerhafte Waffenruhe erreicht ist. Die externe Führung hat Sinwars Anweisung jedoch ignoriert.«
Eine Quelle, die mit Le Figaro gesprochen hat – ein »Gaza-Kenner« – geht sogar noch weiter und behauptet: »Israel hofft nicht allein, dass [Sinwar] verliert. Seine Freunde aus dem politischen Flügel in Katar und die Kataris selbst wären nicht unglücklich, wenn er von Israel getötet würde«.
In einer anderen Welt – einer Welt, in der Israel den Frieden der Eroberung vorzöge – könnte man sich einen verschlagenen Bismarck-ähnlichen Führer in Jerusalem vorstellen, der diese Machenschaften wie ein Schachspieler überwacht und plant, die Hamas zu spalten, die Unversöhnlichen zu isolieren und ein Abkommen mit einer palästinensischen nationalen Einheitsfront zu schließen.
Oder man könnte sich vorstellen, dass ein internationaler Vermittler ein Abkommen vorschlägt, in dem sich Israel auf die Grenzen von 1967 zurückzieht und die Hamas im Gegenzug der Zerstörung ihrer Tunnel im Gazastreifen unter UN-Aufsicht zustimmt. Würde die Hamas einem solchen Plan zustimmen? Wer kann das schon sagen? Aber es ist leicht zu erraten, wie Netanjahus Antwort ausfallen würde.
Vor einem Jahrzehnt entsandte US-Außenminister John Kerry ein Team von US-Militärberatern nach Jerusalem, um einen Plan auszuarbeiten, der Israels Sicherheitsbedenken im Falle eines Friedensabkommens mit den Palästinensern und eines israelischen Rückzugs aus dem Westjordanland gerecht werden könnte.
Netanjahu weigerte sich, seine Generäle mit den amerikanischen Besuchern zusammenarbeiten zu lassen. »Sie verstehen die Bedeutung eines amerikanischen Sicherheitsplans, der für uns akzeptabel ist?«, fragte Netanjahu seinen Verteidigungsminister. »Dann müssten wir anfangen, über Grenzen zu sprechen.«
Das sind die Folgen von Israels jahrzehntelangem Streben nach Gebietserweiterung. Abgestoßen von der Idee einer Sicherheit ohne Eroberung, verängstigt durch »sprechende Grenzen« und umzingelt von selbst geschaffenen Feinden, hat sich Israel, in die Enge getrieben, schließlich von seiner letzten moralischen Verpflichtung befreit. Es fühlt sich nicht länger verpflichtet, die physische Existenz seiner Nachbarn zu akzeptieren. Was auch immer als Nächstes geschieht, Israel und seine Verbündeten werden sich am Ende verantworten müssen.
Seth Ackerman ist Redakteur der US-Ausgabe von JACOBIN.