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Das Online-Magazin von JACOBIN Deutschland

19. Juni 2025

Israels Angriff auf den Iran erweckt Regime-Change-Fantasien zu neuem Leben

Israel mag mit seinem US-gestützten Angriff auf den Iran seine militärische Überlegenheit bewiesen haben. Nichtsdestotrotz bleibt die alte Fantasie, durch immer weitere Kriege einen neuen Nahen Osten schaffen zu können, so unrealistisch und verhängnisvoll wie eh und je.

Zerstörungen in Teheran infolge der israelischen Luftangriffe, Aufnahme vom 13. Juni 2025.

Zerstörungen in Teheran infolge der israelischen Luftangriffe, Aufnahme vom 13. Juni 2025.

IMAGO / Middle East Images

Im Interview mit Jacobin spricht der Militärexperte Andreas Krieg über den israelischen Angriff auf den Iran, wie dieser in Donald Trumps Außenpolitik passt sowie über die alte neokonservative Fantasie, durch aggressive Kriege im kompletten Nahen Osten israelfreundliche Regierungen installieren zu können.

Im Vorfeld des israelischen Bombardements gab es bereits Spekulationen, der Iran könne womöglich angegriffen werden. Als dies tatsächlich passierte, erschien die iranische Führung dennoch überrumpelt. Das zeigt sich allein schon daran, dass mehrere hochrangige Personen in ihren eigenen Häusern erfolgreich angegriffen wurden. Meinen Sie, die iranische Führung hätte besser auf den Zeitpunkt und die Art des Angriffs vorbereitet sein müssen?

Ja. Ich würde sagen, sie waren ziemlich naiv, nicht nur in den vergangenen Tagen. Die Art und Weise, wie die Sicherheit einiger der hochrangigsten Leute gehandhabt wurde, würde ich als leichtsinnig bezeichnen. Die Iraner hätten damit rechnen müssen, dass etwas passiert. Besonders überrascht hat mich, dass sie in einer Zeit erhöhter Spannungen diese Leute zu Hause in ihren eigenen Betten schlafen ließen.

Ich persönlich war überrascht, wann die Israelis zugeschlagen haben. Ich würde sagen, es war angesichts der Ereignisse des vergangenen Jahres und der Verschlechterung der iranischen Luftabwehr klar, dass es sehr schwierig sein würde, die Israelis davon abzuhalten, die sich bietende Gelegenheit zu nutzen. Andererseits gab es aber zuvor einige Fortschritte bei der Ausarbeitung eines Rahmenabkommens zwischen den USA und dem Iran, dank der Vermittlung Omans, Katars und Saudi-Arabiens. Im Iran ging man daher davon aus, dass die israelischen Angriffe nicht vor den für Sonntag geplanten Gesprächen in Oman stattfinden würden.

Jetzt behauptet Trump, die Öffentlichkeit absichtlich in die Irre geführt zu haben, als er vor den Angriffen sagte: »Sie sollten es besser nicht tun – ich habe ihnen gesagt, sie sollen es nicht tun.« In den vorherigen zwei Jahren sah sich die Biden-Regierung mehrfach mit der israelischen Aussage konfrontiert, man werde zuschlagen. Biden machte dann immer klar: »Nein, das machen wir nicht.« Und jedes einzelne Mal konnten wir beobachten, wie die Israelis sich fügten und dem amerikanischen Druck beziehungsweise dem roten Ampellicht aus Washington nachgaben.

Diesmal haben sie das nicht getan, und das war überraschend. Vieles von dem, was passiert ist, ist nicht im Interesse der MAGA-Truppe in Washington. Es war ein Schlag ins Gesicht für Trump, auch wenn dieser nun behauptet, es würde ihm und seiner Verhandlungsstrategie nützen.

In Wirklichkeit sollte er sich vielmehr bewusst sein, dass diese Geschehnisse den Verhandlungsprozess zumindest verzögern. Außerdem bin ich mir nicht sicher, ob die Iraner jetzt mit sonderlich großer Bereitschaft zu Zugeständnissen an den Verhandlungstisch kommen werden. Offensichtlich hat sich nun das große Risiko entwickelt, dass der Iran mitteilen wird, aus den Verhandlungen auszusteigen und sein Atomprogramm zu militarisieren – selbst, wenn er das zuvor möglicherweise nicht vorgehabt hat.

»Die Iraner waren der Ansicht, das Klima habe sich geändert: Oman hat ein Vermittlungsmandat erhalten und sogar die Saudis und die Emiratis betonten zum ersten Mal, dass sie Gespräche und Deeskalation wollen. Der einzige Ausreißer war Israel.«

Wir müssen auch den breiteren Kontext verstehen, der sich aus Sicht Israels komplett verändert hat. In den vergangenen sechs Monaten war die Lage so, dass Benjamin Netanjahu befürchten musste, in Washington an Einfluss zu verlieren. Der Trump-Wanderzirkus ist beispielsweise zuerst in die Golfstaaten gereist, statt nach Israel. Dort gab es Deal-Zusagen in Höhe von Hunderten Milliarden Dollar. Gleichzeitig kennen wir die Golfstaaten und ihre derzeitige Agenda, die darauf abzielt, Beziehungen und Sicherheit durch gegenseitige Abhängigkeit aufzubauen und sich eher auf Stabilität durch Wohlstand als auf militärische Ansätze zu konzentrieren.

Darüber hinaus gibt es viele Leute in der MAGA-Anhängerschaft, nach deren Ansicht »America First« bedeutet, dass man sich aus dem Nahen Osten zurückziehen und auf den asiatisch-pazifischen Raum konzentrieren müsse. Diese Leute sagen: »Wir wollen nicht in einen weiteren Krieg in Nahost hineingezogen werden.« All dies deutete darauf hin, dass auch Trump nicht sonderlich an einer militärischen Konfrontation [mit dem Iran] interessiert sein würde – und dass damit der Einfluss, den Netanjahu mit einer Regierung Biden noch gehabt haben mag, schwand.

In diesem Zusammenhang erkannte Netanjahu, dass sich das Zeitfenster, etwas gegen das iranische Atomprogramm zu unternehmen, schloss. Die Gespräche am vergangenen Sonntag hätten zu einem Rahmenabkommen führen können. Danach wäre eine militärische Eskalation, wie wir sie jetzt erleben, unmöglich gewesen. Darüber hinaus wurden in den USA Leute wie Mike Waltz – ein Neokonservativer und Hardliner gegenüber dem Iran – in den vergangenen Monaten aus ihren Ämtern gejagt. Das hat der israelischen Führung deutlich gemacht, dass sie in Washington an Boden verliert. Nun ist aber Trump seinerseits in einer Lage, in der er etwas tun muss, was er eigentlich nicht will.

Auch die Iraner waren der Ansicht, das Klima habe sich geändert: Oman hat ein Vermittlungsmandat erhalten und sogar die Saudis und die Emiratis betonten zum ersten Mal, dass sie Gespräche und Deeskalation wollen. Der einzige Ausreißer war Israel. Wir sollten nicht unterschätzen, dass Israel historisch gesehen extrem isoliert ist: Es gab beispiellose Kritik am israelischen Verhalten in Gaza – zwar ziemlich spät, aber immerhin gab es eine gewisse Verurteilung von einer Reihe europäischer Länder und anderen Staaten wie Kanada und Australien. Das bedeutet eben auch, dass Israel isoliert ist und sehr wenig zu verlieren hat. Die Iraner dachten, die Israelis würden schon nicht verrückt genug sein, einen solchen Kriegskurs einzuschlagen. Damit lagen sie falsch.

Auch Netanjahu selbst hat sich grundlegend verändert. Wenn man sich sein bisheriges Profil als Verhandlungsführer oder Politiker ansieht, war er früher immer risikoscheu. Er war jemand, der stets versucht hat, Entscheidungen hinauszuzögern und den Status quo aufrechtzuerhalten. Von ihm stammt der Ansatz des »mowing the lawn«: Wenn eine Bedrohung entsteht, schlägt man kurz zu – man »mäht den Rasen« – und kämpft dann in ein paar Jahren den nächsten kurzen Kampf.

Jetzt sagt er im Prinzip zum ersten Mal: »Ich will das Problem nicht auf die lange Bank schieben – ich will die regionale Ordnung grundlegend verändern.« Das hat Israels Aktionen im Libanon, in Syrien und jetzt auch im Iran geprägt. Es ist ein bedeutender Wendepunkt für den Staat Israel, wenn Netanjahu nun versucht, die Region proaktiv zu gestalten, anstatt nur zu reagieren.

Zurück zur Frage, ob die iranische Führung besser vorbereitet hätte sein müssen: Es scheint ein ähnliches Muster zu geben wie bei der Hisbollah im Libanon. Dort kam es eine Zeit lang zu mehr oder weniger kontrollierten und begrenzten Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Miliz, bevor es im vergangenen Herbst dann eine plötzliche Eskalation gab, bei der Hassan Nasrallah getötet und weitere schwere Schläge gegen die Hisbollah geführt wurden. Hätte man – angesichts der engen Zusammenarbeit zwischen den iranischen Revolutionsgarden und der Hisbollah – in Teheran nicht aus diesen Erfahrungen lernen müssen?

Das ist ein Aspekt der strategischen Schwächen von Ali Chamenei und auch Nasrallah. Sie sind sozusagen aus dem gleichen Holz geschnitzt. Es gab eine Art Echokammer, in der sie sich gegenseitig einredeten, dass ihr Abschreckungssystem viel besser funktioniere, als es tatsächlich der Fall war. Die Iraner haben sich immer wieder gesagt, dass Abschreckung durch reaktive Bestrafung wichtiger sei als Abschreckung in Form von Vereitelung. Sie wissen, dass sie Israel nicht die Möglichkeit nehmen können, seine militärische und technologische Überlegenheit einzusetzen. Sie haben immer auf Abschreckung durch reaktive Bestrafung gesetzt.

Dieses Abschreckungssystem ist gescheitert. Nasrallah fühlte sich in seiner Position sehr sicher. Er war fest überzeugt: Die Israelis hatten so viele Gelegenheiten, mich zu beseitigen, und sie haben diese nie genutzt; also werden sie sich das auch weiterhin nicht trauen. Aus Sicht der Iraner ist jetzt alles offen, sogar – wie die Israelis auch angekündigt haben – die Beseitigung des Obersten Führers. Es gibt also einige Parallelen.

»Je mehr Zivilisten Israel tötet, desto persönlicher werden viele Iraner dies nehmen. Dabei ist dann auch egal, wie sie zum heimischen Regime stehen.«

Das wirklich Merkwürdige ist, dass die Iraner nichts aus der Hisbollah-Geschichte gelernt haben. Die Israelis eskalieren und schwächen ihre Gegner immer weiter, bis sie eine Chance für einen strategisch bedeutenden Schlag sehen, und dann schlagen sie zu. Die Hisbollah gibt es immer noch, sowohl als Widerstandsbewegung als auch als politische Partei, aber sie ist nicht mehr dieselbe Organisation wie zu Nasrallahs Zeiten.

Das Gleiche gilt für den Iran. Die Islamische Republik wird nicht unbedingt zusammenbrechen, wenn der Oberste Führer getötet wird, aber es wird eine andere Islamische Republik sein. Es könnte entweder zu Reformen oder aber zu mehr Unterdrückung kommen, was wiederum zu Aufständen führen könnte. Deswegen: Ja, es ist wirklich sehr erstaunlich, dass die iranische Führung nichts aus den Erfahrungen vom vergangenen Sommer gelernt hat.

Als der Angriff tatsächlich passierte, kam Trump mit Aussagen – inhaltlich nicht immer konsistent – daher, in denen er versuchte, sich dafür zu rühmen und den Eindruck zu erwecken, die vorherigen diplomatischen Manöver der USA seien nur ein Trick gewesen, um den Israelis Handlungsspielraum zu verschaffen. Ungeachtet dieser Statements: Denken Sie, dass die Trump-Regierung von Netanjahu im Vorfeld informiert wurde?

In Washington wusste man am Donnerstag definitiv, dass Israel diesen Schritt machen würde. Trump hat offensichtlich nicht genug getan, um das zu verhindern. Indem er bloß sagte: »Ich mag das nicht, es wäre unangemessen« – ohne alle Hebel in Bewegung zu setzen und klarzumachen, dass Israel eine Grenze überschreiten würde, die dazu führen könnte, dass die USA die Militärhilfe einfrieren – hat er Netanjahu im Grunde genommen eine orangefarbene Ampel gezeigt, garantiert keine rote. Und diese orangene, diese halbrote Ampel ist für Netanjahu ausreichend, um zu handeln.

Die Amerikaner hätten also Donnerstag definitiv wissen müssen, dass dies passieren würde. Die USA hatten sogar Warnungen an ihre Partner im Golf verschickt. Sie wussten, dass der Angriff kommen würde, und sie haben nicht genug getan, um ihn zu verhindern. Trump ist hin- und hergerissen, weil er einfach keinerlei Weltanschauung hat – er hat keine Philosophie, keine Vorstellung, keine Strategie, was er im Nahen Osten eigentlich will. Sein einziges Mantra ist »keine Kriege mehr«, und damit scheitert er eindeutig.

Trump ist in der Zwickmühle zwischen MAGA-Anhängern und Neocons. Die Neokonservativen sind in der Regel Teil der proisraelischen Netzwerke, die eine weitere Eskalation befürworten. Sie wollen die »Enthauptung«, also die Ausschaltung der iranischen Führung, der Houthis, der Hamas, der Hisbollah, der »Achse des Widerstands«. Sie wollen mehr Krieg, mehr Gewalt, um etwas zu beseitigen, das militärisch nicht beseitigt werden kann. Auf der anderen Seite gibt es diejenigen, die sagen: »Lasst uns das diplomatisch klären – lasst uns eine Einigung, einen Deal finden.« Trump neigt eher zu letzteren, zu den Verhandlungsbereiten, aber er weiß auch, dass es viele Leute gibt – nicht unbedingt in seiner Regierung, aber im weiteren Umfeld der Republikaner in Washington – die der Ansicht sind, man müsse Israel jegliche Freiheit geben, so zu agieren, wie man es dort für nötig hält.

Für Trump ist es offenbar schwierig, sich durchzusetzen und zu sagen: »Nein, das machen wir nicht – wir machen es so, wie ich es will.« Netanjahu mag in Washington nicht mehr so beliebt sein wie früher. Aber während Gaza derzeit durchaus kontrovers diskutiert wird, ist der Iran in proisraelischen Kreisen kein sonderlich strittiges Thema. In diesem Punkt sind sich alle einig; man mag Netanjahu vielleicht nicht, aber man sagt sich: »Wenigstens nimmt es irgendjemand mit dem Iran auf.«

Aus Netanjahus Sicht ist das einzig Gute, was seit dem 7. Oktober passiert ist, der Krieg gegen die Hisbollah. Er kann ihn als Sieg verkaufen. Er kann der Welt, der israelischen Öffentlichkeit und den proisraelischen Netzwerken in den USA zeigen, dass er ein Mann der Stärke, Entschlossenheit und Durchsetzungskraft ist. Genau das hat er sich erhofft.

Die Israelis sind sehr gut vorbereitet. Sie haben einen solchen Angriff seit über zwanzig Jahren geplant. Trump muss sich damit auseinandersetzen. Er ist eigentlich ziemlich risikoscheu: Er macht den starken Mann, aber wenn es darauf ankommt, ist er jemand, der schwierige Entscheidungen vermeidet. Er ist darüber hinaus naiv genug zu glauben, dass die derzeitige Eskalation zu seinem sonstigen Verhandlungsmuster passt – nämlich zuerst jemanden mit harter Hand unterwerfen und sich dann mit ihm an einen Tisch zu setzen und zu verhandeln. Das mag im New Yorker Immobiliengeschäft funktioniert haben, aber in der internationalen Politik geht das offensichtlich nicht. Trump tut nun so, als ob er alles unter Kontrolle hätte; das ist seine Art. Er ist ein Narzisst, der niemals zugeben würde, dass er irgendwann in seinem Leben Fehler gemacht hätte. In diesem Sinne darf er keine Schwäche zeigen.

Es sollte recht klar sein, dass es aktuell keinen Schlagabtausch zwischen gleich starken Parteien gibt: Israel kann iranische Ziele viel präziser und schwerer treffen als umgekehrt. Was haben wir in den vergangenen Tagen über die jeweiligen Fähigkeiten der beiden Staaten und ihrer Militärapparate gelernt?

Korrekt. Es gibt einen massiven technologischen Gap zwischen Israel und Iran. Das war auch vorher klar. Man sehe sich nur einmal die Luftstreitkräfte an: Die iranische Luftwaffe fliegt Flugzeuge der sogenannten vierten Generation, die seit den späten 1970er Jahren nicht mehr richtig gewartet oder geupdatet wurden, gegen israelische Flugzeuge der fünften Generation. Der technologische Rückstand ist vergleichbar mit dem zwischen einer Spitfire aus dem Zweiten Weltkrieg und einem modernen Kampfjet.

Die Iraner wissen, dass sie diesen Rückstand niemals aufholen können, weshalb sie so viel in ballistische Raketen investiert haben. Was die Verteidigung angeht, so hat Israel das wohl modernste Luftabwehrsystem der Welt. Da das Land flächenmäßig ziemlich klein ist, ist es leichter zu verteidigen als der deutlich größere Iran.

Die iranische Luftabwehr wurde bereits bei den Angriffen im Oktober 2024 ausgeschaltet. In vielerlei Hinsicht hatten die Israelis den Weg nach Teheran also bereits geebnet. Sie können nun mit F-35-Kampfflugzeugen vorfliegen, um die verbleibenden Ziele auszuschalten, und sind dann in der Lage, mit viel älteren Flugzeugen – Kampfflugzeugen der vierten Generation wie F-16 mit deutlich weniger hochentwickelter Technologie – einzudringen und alles auszuschalten, was ausgeschaltet werden soll.

Damit haben die Israelis die volle Kontrolle und können nahezu ungehindert im iranischen Luftraum operieren. Dass die Verbündeten des Iran in Syrien ausgeschaltet wurden und die Israelis den syrischen Luftraum zum Auftanken nutzen, bedeutet auch, dass die Entfernung zwischen Auftanken und Einsatzort viel geringer ist als früher.

»In den westlichen Medien wird oft nicht erkannt, dass es Unterschiede zwischen den Ansichten von Iranern innerhalb und außerhalb des Landes gibt. Die Leute, die Pahlavi Junior, den Sohn des 1979 gestürzten Schahs, bejubeln und unterstützen, sind allesamt Menschen in der Diaspora.«

Das israelische Militär kann mit seinen Waffen Ziele viel präziser treffen als die Iraner. Die iranischen Raketen haben vor allem Probleme beim Start. Wenn sie dann gestartet sind, besteht die große Wahrscheinlichkeit, dass sie abgefangen werden. Und wenn sie doch ein Ziel treffen sollten, ist das nicht unbedingt sehr präzise.

Aus israelischer Sicht können [die iranischen Raketen] natürlich trotzdem verheerende Auswirkungen haben. Die Israelis, vor allem die jüngere Generation, sind an Bedrohungen und Bombardierungen nicht mehr gewöhnt. Sie haben in der Illusion gelebt, ein normaler westlicher Staat zu sein, und dabei vergessen, dass sie sich in einer Gegend der Welt befinden, in der ihre Nachbarn sie nicht unbedingt mögen. Jetzt sehen sie sich einem Krieg an der Heimatfront gegenüber, wie es ihn seit dem Golfkrieg Anfang der 1990er Jahre nicht mehr gegeben hat. Wobei: Heute ist es sogar noch schlimmer. Das ist sicherlich nichts, was man einfach so wegwischen kann. Ich denke, die israelische Gesellschaft ist insgesamt deutlich weniger resilient und belastbar als die iranische, was in gewisser Weise die [militärische] Asymmetrie zwischen den beiden Staaten ausgleichen kann.

Dann gibt es noch den Faktor Zeit. Die Zeit ist eher auf der Seite Israels als auf der des Iran. Der Iran könnte schon in dieser Woche oder zumindest sehr bald keine ballistischen Raketen mehr haben, wenn er das aktuelle Tempo des Beschusses beibehält. Die Israelis hingegen können ihre Bestände wieder auffüllen: Die Amerikaner liefern ihnen Raketen zur Luftabwehr und auch Kampfmittel, die sie abwerfen können.

Wenn man bedenkt, dass die Israelis jetzt 200 ältere Kampfflugzeuge einsetzen – sie müssen nicht einmal die Flieger der fünften Generation nutzen – haben sie offensichtlich noch viel mehr Kapazitäten, die sie gegen den Iran einsetzen können. Mit der Zeit wird dem Iran die Munition ausgehen, den Israelis hingegen nicht.

Diese [Asymmetrie] bleibt bestehen, es sei denn, die Iraner schaffen es, ein wirklich bedeutendes Ziel zu treffen, das die Widerstandsfähigkeit Israels komplett untergräbt. Das wären zum Beispiel Ziele wie der Flughafen Ben Gurion oder wichtige nationale Infrastruktur wie das Stromnetz. Das wäre tatsächlich ein schwerer Schlag für Israel und könnte die Lage grundlegend verändern.

Doch selbst in diesem Fall glaube ich, dass Israel den Krieg leichter durchhalten kann als die Iraner – einfach, weil die Israelis das aktuelle operative Tempo aufrechterhalten können, während die Iraner dazu nicht in der Lage sind. Das wirft allerdings die Frage auf, was Israel mit militärischen Maßnahmen überhaupt erreichen kann. Das iranische Atomprogramm als solches kann zwar geschwächt, aber aus der Luft nicht komplett zerstört werden.

Wenn Israel einen Regimewechsel beziehungsweise die Zerschlagung des iranischen Regimes will, wie könnte dann der Plan der israelischen Regierung und des Militärs aussehen, um das zu erreichen? In den vergangenen 25 Jahren haben wir im Nahen Osten und in Nordafrika zwei verschiedene Modelle für Militäraktionen der USA und ihrer Verbündeten gesehen, um einen Regimewechsel zu erreichen. Das erste war der Irak, wo eine umfassende Invasion gestartet und das Land besetzt wurde. In Libyen gab es hingegen eine begrenztere Intervention als Reaktion auf einen bewaffneten Aufstand, der gegen Muammar Gaddafi ausgebrochen war: NATO-Mitglieder flogen Luftangriffe zur Unterstützung der Rebellen, schickten aber keine Bodentruppen.

Im Falle des Iran scheint es unvorstellbar, dass Israel das erste Modell, eine vollständige Invasion, verfolgen kann. Mit Blick auf das zweite Modell lässt sich sagen, dass es zwar interne Meinungsverschiedenheiten im Iran gibt, doch sind diese noch lange nicht so gravierend, dass es zu einer bewaffneten Rebellion kommen dürfte. Andererseits sah sich die iranische Regierung 2022 mit einer starken Protestbewegung konfrontiert, die sie mit aller Härte unterdrückte. Die Begeisterung oder Zustimmung der Bevölkerung für die derzeit Herrschenden scheint sich also in Grenzen zu halten. Angesichts der Aussagen von Netanjahu in den letzten Tagen, einschließlich seiner Fernsehansprache, in der er das iranische Volk aufrief, sich gegen seine Herrscher zu erheben: Glauben Sie, dass die aktuelle politische Lage im Iran einen Teil zur israelischen Entscheidung für einen Angriff beigetragen hat?

Ja, zumindest teilweise. Netanjahu hat dieses Narrativ ja auch schon in Gaza präsentiert, als er sagte: »Wir wollen, dass die Palästinenser gegen die Hamas aufstehen.« Ähnliches hat er mit Blick auf den Libanon gesagt. Die libanesischen Bürgerinnen und Bürger sollten sich auflehnen und die Hisbollah vertreiben. Jetzt bringt er dasselbe Narrativ im Iran. Das ist sozusagen seine Standardbotschaft. Vermutlich glaubt er auch wirklich daran, denn er ist ein Ideologe. Er ist ein Neocon. Er glaubt an den »regime change«. Das war schon immer sein größter Traum für den Iran. Und: Er will eigentlich nicht, dass [der Wandel] von Israel herbeigeführt wird, sondern von einer großen Koalition nach irakischem Vorbild, die den Staat besetzt und das Regime stürzt.

Das ist aber offensichtlich keine Option. Es gibt nirgendwo Unterstützung für einen Krieg, um das iranische Regime zu stürzen und iranisches Territorium zu erobern. Damit bleibt nur die Option, interne Meinungsverschiedenheiten zu schüren. Proisraelische Informationsnetzwerke verbreiten derartige Narrative, wann immer sie können. Es gab beispielsweise Aufnahmen von Menschen im Iran, die die heimische Luftabwehr feierten, als diese versuchte, israelische Flugzeuge abzuschießen. Proisraelische Netzwerke verbreiteten diese Videos und kommentierten: »Schaut mal, das sind Iraner, die israelische Flugzeuge mit Jubel begrüßen.« Das ist sicherlich nicht der Fall.

Ich denke, wir müssen bei unserer Beurteilung der aktuellen Geschehnisse insgesamt sehr vorsichtig sein. Ja, es gibt schwelende Unzufriedenheit in der iranischen Bevölkerung. Ich würde behaupten, die große Mehrheit der Iraner ist mit diesem Regime unzufrieden. Es ist aufgrund von Unterdrückung an der Macht, nicht aufgrund von Zustimmung. Es hat seinem Volk nur sehr wenig zu bieten. Aber es gibt noch einen anderen Faktor, der hier eine Rolle spielt, nämlich dass die Iraner ein sehr stolzes Volk sind – und jetzt angegriffen werden. Je mehr Zivilisten Israel tötet, desto persönlicher werden viele Iraner dies nehmen. Dabei ist dann auch egal, wie sie zum heimischen Regime stehen.

Es wird viel davon abhängen, wie sich die iranische Führung verhält. Wir haben bei der Hisbollah gesehen, dass es durchaus Auswirkungen auf das Verhalten eines Regimes hat, wenn man die oberste Führung angreift und im Grunde genommen einen nach dem anderen tötet. Dann entsteht eine gewisse strategische Lähmung. Das haben wir den ganzen vergangenen Freitag über beobachten können, bis die iranische Führung sich zusammengerauft und neue Leute ernannt hat.

Das kann man sicher als innenpolitische Schwäche sehen, aber ich denke auch, dass dies im Moment kein ausschlaggebendes Problem ist. Ich glaube nicht, dass die iranische Bevölkerung diesen Moment, in dem sie von Israel angegriffen wird, nutzen würde, um sich gegen das Regime zu erheben. Ich denke, das ist eher eine Frage für später, wenn die Israelis raus sind und der Krieg vorbei ist. Doch auch dann wird weiterhin viel davon abhängen, wie sich das Regime verhält.

»Es war wirklich beschämend, dass vor allem die deutsche Bundesregierung, aber auch andere westliche Führungen, Israels Recht auf Selbstverteidigung anführten, als dieses Israel einen unprovozierten Angriff auf einen anderen souveränen Staat startete.«

Es stellt sich auch die Frage, wer getötet wird. Ein viel problematischeres Szenario würde sich beispielsweise für den Iran ergeben, wenn Chamenei von Israel ermordet wird. Das würde eine Nachfolgerkrise auslösen. Die Frage, wer Chamenei beerben soll, ist überhaupt nicht geklärt. Innerhalb des »deep state« im Iran gibt es keinerlei Einigung darüber, wer dann die Macht übernehmen soll. Das könnte zu einer Spaltung innerhalb der Revolutionsgarden oder innerhalb des Wächterrats führen – ganz zu schweigen vom iranischen Parlament oder dem iranischen Volk. Wenn das Regime intern nicht weiß, was es will, und sich eine Spaltung abzeichnet, könnte das ein Moment der Schwäche sein, der einer Mobilisierung auf den Straßen zugutekommen würde.

All das ist derweil irgendwie losgelöst von dem, was außerhalb des Iran abläuft. In den westlichen Medien wird oft nicht erkannt, dass es Unterschiede zwischen den Ansichten von Iranerinnen und i innerhalb und außerhalb des Landes gibt. Die Leute, die Pahlavi Junior, den Sohn des 1979 gestürzten Schahs, bejubeln und unterstützen, sind allesamt Menschen in der Diaspora. Das sind Leute, die entweder noch im Iran geboren wurden, aber als Kinder emigriert sind, oder die überhaupt nie im Iran gelebt haben. Sie haben nicht das durchgemacht, was die Iranerinnen und Iraner in der Heimat erlebt haben. In den vergangenen zwei Jahren gab es viele Regimegegner in der Diaspora, die die Israelis bejubelt haben, obwohl diese gegen die Hisbollah und die Hamas kämpfen und Zivilisten töten. Es ist ein sehr seltsames Phänomen. Es sind dieselben Leute, die Pahlavi unterstützen und dabei vergessen, dass sein Vater einer der repressivsten autoritären Herrscher war, den die Region je gesehen hat.

Es gibt also eine Kluft zwischen dem, was die Iraner vor Ort wollen, und dem, was die Iraner in der Diaspora wollen. Es gibt keine Persönlichkeit, die diese diversen Fraktionen zusammenbringen könnte. Der Widerstand gegen das Regime ist derzeit eine Revolution ohne Anführer – und deshalb war sie bisher auch nicht erfolgreich. Wenn das Regime von innen implodiert, zum Beispiel im Zuge einer Ermordung Chameneis, könnte das dennoch eine Wende bringen. Vielleicht kommt dann jemand aus dieser Bewegung, der das zerfallende Regime beerbt und die Macht übernimmt. Im Moment sieht es aber nicht danach aus.

Wenn es zu offenem Dissens kommt, würde der Sicherheitsapparat des Regimes jede Form der Unterdrückung einsetzen, um sein Überleben zu sichern. Und: Wenn das Regime implodiert, von innen heraus zusammenbricht, könnten verschiedene gegensätzliche Fraktionen entstehen. Wenn dann die derzeit herrschende Angstbarriere durchbrochen werden kann, könnte es zu einer Mobilisierung kommen, wie wir sie noch nie gesehen haben. Aber wie gesagt: Das ist im Moment reine Spekulation.

Wie werden sich andere Akteure – nicht nur die USA, sondern europäische Staaten, China oder regionale Mächte wie Saudi-Arabien — verhalten, wenn der aktuelle Krieg länger andauern sollte?

Wenn die Konfrontation so bleibt wie derzeit, mit Zerstörung ausschließlich im Iran und in Israel, werden sie einen Waffenstillstand fordern. Sie werden auch ihre jeweiligen Diplomatenbüros nutzen, um etwas zu erreichen. Aber der eine Akteur, der dem Ganzen wirklich ein Ende setzen kann, sind die USA. Das heißt: Wer es schafft, zwischen den USA und dem Iran zu vermitteln, der wird im Prinzip diesen Krieg beenden.

Die wahrscheinlichsten Kandidaten dafür sind Oman und Katar. Ich glaube nicht, dass die europäischen Länder noch als glaubwürdig angesehen werden. Es war wirklich beschämend, dass vor allem die deutsche Bundesregierung, aber auch andere westliche Führungen, Israels Recht auf Selbstverteidigung anführten, als dieses Israel einen unprovozierten Angriff auf einen anderen souveränen Staat startete. Die europäischen Staaten haben sich in ihrer Auslegung des Völkerrechts sehr wankelmütig gezeigt. Das hat das Vertrauen in die Europäer als Vermittler in Sachen Iran untergraben.

Man hat sozusagen klar gemacht, dass man eindeutig auf einer Seite steht. Während Länder wie Großbritannien, Kanada und Australien zwar eine zunehmend israelkritische Haltung mit Blick auf Gaza einnehmen, ist der Iran ein ganz anderes Thema. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der sich recht offen zu Israels Vorgehen in Gaza geäußert hat, stellte sich in der Iran-Frage klar auf die Seite Israels und erklärte, der Iran stelle die größte Bedrohung für die regionale Sicherheit dar.

Insgesamt ist die Situation für die Europäer schwierig. Einerseits wollen sie eine Verhandlungslösung. Andererseits scheinen sie sich zu denken: »Okay, schauen wir mal, wie weit die Israelis gehen können, um dieses Problem, das wir in der Region haben, nämlich das iranische Atomprogramm, tatsächlich zu beseitigen.« Ob es sich nun um ein militärisches oder ein ziviles Atomprogramm handelt: Man mag die Vorstellung nicht, dass der Iran ein solches Programm hat. Israel etwas Zeit zu geben, um so viel Schaden wie möglich anzurichten, ist daher wahrscheinlich im europäischen Interesse. Und so fordern die europäischen Mächte auch nur halbherzig ein Ende des Konflikts.

Das würde sich natürlich ändern, wenn die Energieinfrastruktur angegriffen würde. Es war schon brenzlig, dass Israel Teile des South-Pars-Gasfelds attackiert hat, das sich Iran und Katar teilen. Auf der Seite Katars haben große amerikanische Firmen Milliarden investiert, und noch wichtiger: Ein Großteil dieses Gases landet in Ländern wie dem Vereinigten Königreich, Deutschland, Spanien und Belgien. Wenn die Gaslieferungen unterbrochen würden, hätte das also direkte Auswirkungen auf die nationale Sicherheit in Europa, und dann wäre der Krieg für diese Staaten ganz bestimmt nicht mehr tragbar.

Das Gleiche gilt, wenn die Straße von Hormus gesperrt würde, auch wenn ich das im Moment nicht für wahrscheinlich halte. Dennoch: Damit würde die Energieversorgung des Westens beeinträchtigt und eine globale Energiekrise ausgelöst. Wenn so etwas passiert, werden die Europäer meiner Meinung nach deutlich aktiver werden.

Im Moment sind sie der Ansicht, Israel habe die Lage unter Kontrolle. In Wirklichkeit sollte aber niemand darauf vertrauen, dass die Regierung Netanjahu etwas im weltweiten Interesse tut. Es geht ihm in erster Linie um seine persönlichen Interessen und sein politisches Überleben; in zweiter Linie denkt er an die nationalen Interessen Israels. Mit Blick auf Zweiteres ist aber durchaus Zynismus angebracht: Netanjahu hat zum Beispiel sehr wenig getan, um die Geiseln in Gaza tatsächlich nach Israel zurückzubringen. Er hätte viele Möglichkeiten gehabt, die Geiseln durch Verhandlungen zu befreien, was eigentlich im Interesse Israels liegt, aber er hat sich dagegen entschieden.

Langwierige Konflikte sind in Netanjahus Interesse. Er weiß, dass mit dem Ende der Kriege wahrscheinlich auch seine politische Herrschaft in Israel zu Ende gehen wird. Nur zur Erinnerung: Er ist bereits angeklagt, und wenn es Neuwahlen gibt, wird er höchstwahrscheinlich nicht gewinnen. Er könnte nun versuchen, den aktuellen Krieg zu nutzen, um die Menschen in Israel für sich zu mobilisieren, indem er ihnen sagt: »Ich bin derjenige, der Israel Sicherheit gebracht hat.« Dann würden vielleicht auch die Fehler vom 7. Oktober verziehen. Für Netanjahu geht es also sehr stark um Innenpolitisches. Das wird im Westen meist übersehen.

»Peking und Moskau wittern auch eine Chance in der Großmachtpolitik. Sie können sich jetzt hinstellen und als Verfechter des Völkerrechts auftreten. Im Falle Russlands ist es mit Blick auf die Ukraine natürlich höchst zynisch zu sagen: ›Wir sind gegen Aggression.‹ Trotzdem wird man das aus Moskau hören.«

Die Chinesen und Russen wollen ihrerseits auf jeden Fall sicherstellen, dass die Energieversorgung nicht unterbrochen wird. Die Iraner haben schon einige Exporte gestoppt, weil sie den Treibstoff selbst brauchen. Ein gewichtiger Teil der heimischen Energieinfrastruktur ist zerstört. Das ist nicht im Interesse Chinas oder Russlands. Sie sehen den Iran vor allem als Energieexporteur, und das soll auch so bleiben.

Peking und Moskau wittern darüber hinaus auch eine Chance in der Großmachtpolitik. Sie können sich jetzt hinstellen und als Verfechter des Völkerrechts auftreten. Im Falle Russlands ist es mit Blick auf die Ukraine natürlich höchst zynisch zu sagen: »Wir sind gegen Aggression.« Trotzdem wird man das aus Moskau hören: »Wir stehen für internationales Recht und der Westen nicht.« Das Gleiche gilt für China. Wie dem auch sei; beide Staaten haben ein Interesse daran, dass dieser Krieg so schnell wie möglich endet.

Was bedeuten die aktuellen Entwicklungen für die Palästinenserinnen und Palästinenser – vor allem in Gaza, aber auch im Westjordanland?

Israel ist ein ziemlich kleiner Staat und ein großer Teil seiner Luftwaffe wurde mobilisiert, um den Iran anzugreifen. Trotzdem scheinen die Israelis immer noch genug Kapazitäten zu haben, um ihre Operationen im Gazastreifen fortzusetzen. Im Moment redet niemand über Gaza oder das Westjordanland. Das gibt den Israelis möglicherweise ein paar Wochen Zeit, in denen sie die Schlagzeilen kontrollieren und die Aufmerksamkeit von dem ablenken können, was sie nach wie vor in den besetzten Gebieten tun.

In den vergangenen Tagen gab es Angriffe auf Zivilisten, die versuchten, Hilfsmittel zu bekommen, sowie weitere Aktionen im Westjordanland. Die Beschlagnahmung von Land geht weiter und die formelle Annexion des Westjordanlandes wird vorangetrieben. Im Moment werden von den Israelis zahlreiche Verbrechen gegen das humanitäre Völkerrecht begangen, ohne dass jemand auch nur davon erfährt. In gewisser Weise erkaufen sie sich [mit dem Krieg gegen den Iran] Zeit.

Das geht alles zu Lasten der Palästinenser. Netanjahu will so schnell wie möglich die Fakten vor Ort ändern, bevor ihm endlich jemand sagt, dass er aufzuhören hat. Er hat sich also ein paar Wochen Zeit gekauft, um weiterzumachen. Dabei scheint er allerdings keinen klaren Plan zu haben.

Zum Westjordanland: Ja, eine Annexion könnte [Netanjahu] durchsetzen. Es gäbe zwar Kritik von westlichen Ländern, aber niemand würde ihn daran hindern. In Gaza gibt es wohl keine Möglichkeit für etwas Ähnliches. Letztendlich würde Netanjahu ethnische Säuberung und Vertreibung der Menschen präferieren, aber ich kann mir das im Moment nicht vorstellen. Auch eine Annexion von Teilen Gazas erscheint mir nicht wie etwas, das er realistisch umsetzen könnte.

Also macht er einfach weiter wie bisher. Wie gesagt: Er hat kein strategisches Endziel. Ich weiß allerdings auch, dass die Länder, die derzeit zwischen der Hamas und Israel vermitteln, über einen Plan zur Freilassung von Geiseln und eine mögliche achtwöchige Waffenruhe diskutieren. Zeitgleich zur derzeitigen Verlagerung der Medienberichterstattung auf den Iran könnte hinter den Kulissen daher durchaus ein Moment entstehen, in dem Netanjahu tatsächlich etwas erreichen und israelische Geiseln freibekommen kann.

Andreas Krieg ist Associate Professor am Institut für Defence Studies des King’s College London sowie Autor von Socio-Political Order and Security in the Arab World.