14. Dezember 2024
Über die wirtschaftlichen Aspekte der israelischen Besatzung wird oft hinweggesehen. Dabei sind sie zentral, um den Konflikt in Israel und Palästina zu verstehen.
Ein palästinensischer Junge konfrontiert schwer bewaffnete israelische Soldaten während einer Demonstration im Dorf Al-Masara, Westjordanland, 15. März 2013.
Die zionistische Bewegung, die ursprünglich einen sicheren Ort für Jüdinnen und Juden in der Welt schaffen wollte, hat sich zu einer treibenden Kraft für territorialen Expansionismus und Kriege entwickelt. Israel ist heute vielleicht zum »unsichersten Ort« für Jüdinnen und Juden in der Welt geworden. Dafür ist besonders die israelische Besatzung des Westjordanlands und Gaza ein wichtiger Aspekt. Dieses System der Kontrolle, Unterwerfung und Ausbeutung dient dazu, die Wirtschaft, die Arbeitskraft und die Ressourcen in den besetzten palästinensischen Gebieten zu kontrollieren – in einem Staat, der Jüdinnen und Juden die höchsten Rechte einräumt und Nicht-Juden in verschiedene Kategorien einteilt und beherrscht.
Wenn über die Besatzung gesprochen wird, dann oft aus völkerrechtlicher oder humanitärer Perspektive. Dabei hat sie auch eine ökonomische Komponente: Sie ist das teuerste Projekt Israels seit 1967. Viele ihrer wirtschaftlichen Mechanismen und Auswirkungen sind in Deutschland wenig bekannt. Dazu zählt etwa, wie sie aufrechterhalten wird, wer von ihr profitiert und wer die Kosten für sie trägt. Das Buch Die politische Ökonomie der israelischen Besatzung – Unterdrückung über die Ausbeutung hinaus des Wirtschaftsspezialisten für Palästina und Israel Shir Hever liefert einige Antworten auf diese Fragen.
Wirtschaftlich gelten in Israel und in den besetzten palästinensischen Gebieten die gleichen Gesetze, aber es existieren zwei Ökonomien unter israelischer Kontrolle: die israelische Wirtschaft (israelische Bürgerinnen und Bürger) und die palästinensische Wirtschaft (ohne israelische Staatsbürgerschaft, wie etwa im Westjordanland oder in Gaza). Die Verantwortung für die Lebensbedingungen der unter Besatzung lebenden palästinensischen Bevölkerung liegt beim israelischen Staat, der diese Verantwortung jedoch vollständig an internationale Hilfsorganisationen abgegeben hat. Gleichzeitig sabotiert Israel diese Hilfslieferungen und baut zahlreiche Hürden auf, damit die Hilfe ihr Ziel nicht erreicht.
Für palästinensische Arbeiterinnen und Arbeiter ist diese Situation fatal. Sie erhalten meist nur einen Bruchteil dessen, was Israelis verdienen würden. Sie zahlen zwar in die Sozialversicherung ein, bekommen aber keine Leistungen dafür. Stattdessen müssen sie eine Sicherheitssteuer für ihre eigene Überwachung am Arbeitsplatz aufkommen. Sie sind auch Zwangsmitglieder der israelischen Gewerkschaft Histadrut, die ihnen keinerlei Schutz oder Unterstützung gewährt. Im Jahr 2001 machte die Ausbeutung der billigen palästinensischen Arbeitskräfte (Marktabhängigkeit, Import-/Exportzölle, Wasser- und Landressourcen) zehn Prozent des israelischen Bruttoinlandsprodukts aus.
Die Verhinderung einer lebensfähigen Industrie in den palästinensischen Gebieten verstärkt dieses Abhängigkeitsverhältnis, sodass Israel zum Hauptimporteur der besetzten Gebiete geworden ist. Israel kontrolliert die Zölle und den Handel in allen Gebieten und erzielt dadurch enorme Einnahmen. Erst seit 1995 wird ein Teil der Einnahmen an die Palästinensische Autonomiebehörde (PA) abgeführt. Hilfsorganisationen, die die hohen Zölle umgehen wollen, kaufen lieber direkt auf dem israelischen Markt, weil der billiger ist.
Eben diese Hilfsorganisationen spielen eine ambivalente Rolle in Israel und den besetzten Gebieten. In den Osloer Jahren (1994-2000) verbesserte sich die israelische Wirtschaft jedes Jahr, während sich die palästinensische Wirtschaft verschlechterte. Die Rolle der NGOs wird ab 2006 tragend, da quasi öffentliche Dienstleistungen, die der PA unterlagen, von NGO-Mitarbeitenden übernommen werden. Ursprünglich sollten internationale Hilfsgelder, dem Aufbau einer eigenen palästinensischen Wirtschaft dienen, in der Praxis verstärken sie bestehende Ungleichverhältnisse, weil die Frage nach der eigentlichen Verantwortung für die prekäre Lebenssituation der Palästinenserinnen und Palästinenser damit umgangen wird.
»Der Aufbau eines Staates wird dadurch verhindert, dass NGOs dem Staat seine Regierungsaufgaben abnehmen.«
Für alle Hilfsgüter müssen Abgaben an den israelischen Staat geleistet werden. Das Problem der Auslandshilfe, die auch für humanitäre Zwecke verwendet werden kann, besteht darin, dass die Autonomiebehörde keine Souveränität über die Verteilung und Kontrolle der Hilfe hat und diese daher nicht planen kann. Checkpoints und Ausgangssperren verschärfen die Ernährungsunsicherheit und treiben die Lebensmittelpreise in die Höhe, während die Einkommen stetig sinken. Die UN beklagt seit Jahren, dass sie in keiner Region der Welt so große Schwierigkeiten hat, Hilfe zu leisten.
Mit der Wahl der Hamas 2006 wurde diese Spirale durch die militärische und humanitäre Blockade des Gazastreifens weiter verstärkt. Seitdem gibt es in Gaza keine Todesfälle durch natürliche Ursachen mehr, sondern nur noch durch Bombardierungen, schlechte Wasserqualität und unzureichende Gesundheitsversorgung sowie Mangelernährung. Die ausländische Hilfe ist daher einerseits notwendig, andererseits aber auch destruktiv, da sie zu einer Normalisierung der Besatzung führt. Der Aufbau eines Staates wird dadurch verhindert, dass NGOs dem Staat seine Regierungsaufgaben abnehmen.
Erwähnenswert ist, dass vor der zweiten Intifada mehr ausländische Hilfe nach Israel floss als in die Palästinensischen Gebiete, obwohl Israel kein verarmtes Land ist und eigentlich keinen Anspruch auf humanitäre Hilfe hätte, sondern eines der Länder mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen ist. Im Gegenzug ist die palästinensische Wirtschaft eine der am stärksten von Hilfe abhängigen. Die israelische Wirtschaft ist in hohem Maße von Kapitalimporten in Form von ausländischen Spenden und Kompensationszahlungen abhängig. Mit diesem Kapital finanziert Israel seine Importe, Militärkosten und Staatsdefizite. Gleichzeitig ist es eines der westlichen Länder mit der größten Kluft zwischen Arm und Reich, gleich nach den USA. Als einziges Land darf es US-Hilfen auch für Rüstungskäufe aus eigener Produktion verwenden. So erhielt Israel bis 2002 die höchste Pro-Kopf-Hilfe aller Länder.
Israelische Firmen erwirtschaften ihre Profite durch die subventionierten billigen Arbeitskräfte der Palästinensischen PA. Sie haben den Auftrag, die palästinensische Bevölkerung mit Konsumgütern zu versorgen. Weil in Palästina keine eigene Industrie entstehen konnte, muss Israel auch nicht mit palästinensischen Firmen konkurrieren. Checkpoints erschweren den Warenverkehr unter Palästinenserinnen und Palästinensern weiter. Es ist für sie einfacher vom benachbarten israelischen Markt zu importieren, als innerhalb der PA Handel zu treiben. So wurden die besetzten palästinensischen Gebiete nach den USA zu Israels zweitgrößtem Exportmarkt. Auch Lebensmittel der NGOs werden auf dem israelischen Markt gekauft, da sonst Zölle auf Lebensmittel aus anderen Ländern anfallen würden. Somit fließen 45 Prozent der Hilfe für die besetzten palästinensischen Gebiete zurück in den israelischen Markt.
»Jeder neue Gewaltausbruch treibt die Preise für Waffen und Öl in die Höhe, die Gewinnerindustrien dieser Kriege.«
Leistungen wie Wasser, Strom und
Kommunikationsdienste werden von Israel kontrolliert. Eigentlich stehen der PA
dafür Hilfsgelder zu, da sie für diese Versorgungsleistungen zuständig ist.
Aber diese Gelder werden von Israel konfisziert, um diese Leistungen selbst zu
erbringen, mit überhöhten Preisen für die palästinensische Bevölkerung.
Hilfsgelder unterstützen somit Israel, seine Angriffe auf die PA fortzusetzen
und aus ihr Profit zu schlagen.
Da die PA über keine eigene Währung verfügt, haben die Hilfsgelder zu einem massiven Anstieg der Reserven der israelischen Zentralbank geführt, das heißt, die Besatzung wird »exportiert« und das Elend genutzt, um den Zufluss ausländischer Devisen aufrechtzuerhalten. Durch die unterschiedliche Inflationsentwicklung in Israel und in den palästinensischen Gebieten wird einerseits die israelische Wirtschaft angekurbelt, andererseits die Versorgung der palästinensischen Bevölkerung mit Gütern und Dienstleistungen durch Preissteigerungen unterminiert. Laut Weltbank sind Transportkosten die stärkste treibende Kraft hinter den steigenden Preisen in den besetzten Gebieten. Die Ausbeutungsstrukturen werden somit indirekt durch die Hilfe gefestigt. Insbesondere Gaza stärkt durch seine wirtschaftliche und militärische Blockade die israelische Wirtschaft, da es zu einer der am stärksten von Hilfslieferungen abhängigen Regionen geworden ist.
Die Gesamtkosten der Besatzung lassen sich nicht beziffern, da die israelische Armee und das Verteidigungsministerium viele Daten mit dem Argument der »nationalen Sicherheit« zurückhalten. Diese Strategie der Verschleierung von Fakten gilt auch für die Höhe der kommunalen Subventionen für die Siedlungen. Damit soll der öffentlichen Empörung über die Günstlingswirtschaft der Siedler vorgebeugt werden und die internationale Empörung über die israelische Siedlungspolitik im Zaum gehalten.
Die größten Nutznießer der Besatzung sind israelische Militärfirmen und die Homeland Security, die aus ehemaligen Militärs mit Kriegserfahrung besteht. Ihre Produkte werden dem Verteidigungsministerium als »an Menschen getestet« verkauft. Jeder neue Gewaltausbruch treibt die Preise für Waffen und Öl in die Höhe, die Gewinnerindustrien dieser Kriege.
»Da die PA über keine eigene Währung verfügt, haben die Hilfsgelder zu einem massiven Anstieg der Reserven der israelischen Zentralbank geführt, das heißt, die Besatzung wird ›exportiert‹ und das Elend genutzt, um den Zufluss ausländischer Devisen aufrechtzuerhalten.«
Die Siedlungen spielen in der Wirtschaft der besetzten palästinensischen Gebiete eine besondere Rolle, da sie stark subventioniert werden. Die Landwirtschaft vor allem durch Investitionen aus der Zionistischen Weltorganisation. Auch in den Bereichen Bildung und Gesundheit erhalten die Siedlungen eine überdurchschnittliche Förderung: Schulen profitieren von kleineren Klassen, Schülertransport und Anreizen für Lehrkräfte, während das Gesundheitssystem durch zusätzliche Kliniken, gepanzerte Fahrzeuge und Sicherheitsmaßnahmen gestärkt wird. Der Wohnungsbau wird durch subventionierte Kredite und Zuschüsse gestützt und Stadtverwaltungen in den Siedlungen bekommen pro Kopf doppelt so hohe Zuschüsse wie Gemeinden innerhalb Israels. Die Wasserversorgung wird durch Investitionen in die Ausbeutung des Grundwassers in der Westbank, an dessen Nutzung die palästinensische Bevölkerung gehindert wird, bezuschusst. Diese Subventionen sind ein großer Anreiz für die Bevölkerung, in die Siedlungen zu ziehen.
Israels Sicherheitsausgaben gehören zu den höchsten der Welt, die Aufrechterhaltung der territorialen Kontrolle in den besetzten palästinensischen Gebieten ist dabei der größte Kostenfaktor. Ziel ist es, jeglichen Kontakt zwischen Israelis und Palästinensern zu verhindern. Hier fallen die höchsten Kosten für Polizei und innere Sicherheit an. Die Mauer, die als Sicherheitsmauer propagiert wird, in Wirklichkeit aber der Trennung dient, ist ebenfalls ein Kostentreiber, da Militär und private Sicherheitsfirmen für den täglichen Betrieb zuständig sind.
Sollte Israel jemals beschließen, alle illegalen Siedlungen im Westjordanland zu räumen, müsste es Entschädigungen für 471.000 Siedlerinnen und Siedler (Stand 2008) zahlen, was zu diesem Zeitpunkt das Anderthalbfache seines Jahreshaushalts ausmachen würde. Eine Nicht-Räumung könnte Israel aber letztlich noch mehr kosten. Der Staat müsste also schon jetzt für diesen Fall sparen.
»Die nahezu uneingeschränkte Macht ethnonationalistischer, neoliberaler Regierungsvertreter hemmt den sozialen Wandel.«
Ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum Israels ist die Grundlage für die Aufrechterhaltung der Besatzung. Die Verteuerung der Besatzung erzeugt einen politischen Druck, der Israel entweder zum Rückzug zwingt, zu einer Reform des Kontrollsystems, zum Völkermord – oder zum Zusammenbruch des israelischen Staates. Die Unterdrückung und Ausbeutung der Palästinenserinnen und Palästinenser wird nicht widerspruchslos hingenommen, sondern erzeugt Widerstand in der Bevölkerung, was wiederum zu höheren Sicherheitskosten führt und Israel immer mehr zu einem Militärstaat macht. Durch die nicht enden wollenden Gelder und Waffen aus den USA ist Israel jedoch weiterhin in der Lage, die Besatzung mit militärischer Gewalt aufrechtzuerhalten. Die BDS-Bewegung (Boycott, Divestment and Sanctions), IGH-Urteile, UN-Entscheidungen, Kriegsverbrecherprozesse gegen israelische Offiziere und Beamte sowie Klagen gegen Firmen, die mit Siedlungsprodukten handeln, tragen mitunter zur schlechten Kreditwürdigkeit Israels bei.
Auch Entschädigungszahlungen an Palästinenserinnen und Palästinenser sind mögliche Szenarien der Zukunft Israels. Innerhalb Israel fehlt allerdings der Diskurs darüber fast vollständig. Solange ethnische und nationale Unterscheidungen wichtiger sind als eine Klassenidentität, wird es keinen Raum für deren Entwicklung geben. Die nahezu uneingeschränkte Macht ethnonationalistischer, neoliberaler Regierungsvertreter hemmt den sozialen Wandel. Unterstützt wird dies durch die Medien, die der Gesellschaft kaum Informationen über die besetzten palästinensischen Gebiete zur Verfügung stellen und somit in »selbstgewählter Ignoranz verharren«.
Sara Ehsan ist Autorin, Übersetzerin, Coach und Antidiskriminierungsberaterin. Ihre Bücher und Texte wurden in deutschen Verlagen veröffentlicht.