10. Juni 2024
In Deutschland werden kritische Perspektiven auf Israels Geschichte oft als antisemitisch gebrandmarkt. Drei aktuelle Dokumentationen hinterfragen vorherrschende Narrative aus jüdischer und israelischer Sicht. Es wird Zeit, hinzusehen.
Standbild aus dem Film »Blue Box«.
In Israel, wie in jedem Nationalstaat, prägen nationale Mythen die dominanten Geschichtsbilder und stiften Einheit. Drei aktuelle Dokumentarfilme – Blue Box (2021), Tantura (2021) und Israelism (2023) – versuchen aus jüdischer und israelischer Sichtweise blinde Flecke dieser nationalen Geschichte und Gegenwart auszuleuchten und neue, gerechtere Perspektiven aufzuzeigen. Sie begleiten jüdische und israelische Protagonistinnen und Protagonisten dabei, wie sie mit unbequemen Wahrheiten ringen, mit sicher geglaubten Wahrheiten brechen und dabei in Konflikt mit Familie, Community und Institutionen geraten. Die an ein jüdisches und israelisches Publikum gerichteten, online abrufbaren Dokumentationen wurden international viel diskutiert.
Deutschsprachige Medien hingegen nahmen die Dokumentarfilme mit wenigen Ausnahmen kaum wahr; öffentliche Screenings in Zürich (Israelism) oder Münster (Tantura) wurden medial mit Antisemitismus in Zusammenhang gebracht und institutionell verurteilt. Dabei ist eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Israels Vergangenheit und Gegenwart, wie sie die Dokumentarfilme ermöglichen, dringend notwendig. Vor allem angesichts der aktuellen Intensität des Nahostkonflikts, des humanitären Leids in Gaza – und weil deutsche Israel/Palästina-Diskurse zumeist selbstreferentiell und ahistorisch geführt werden. Kritische inner-israelische und -jüdische Debatten sind daher neben palästinensischen Perspektiven zentral um enge Diskursräume zu erweitern, anstatt ihre Vertreter – wie zurzeit in Deutschland üblich – als antisemitisch zu verurteilen und von Diskursen auszuschließen.
Die Gesamtschau der Dokumentationen lohnt sich: Während Blue Box den zionistischen Landerwerb, die Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung und die Zerstörung ihrer Dörfer in der Gründungszeit des israelischen Staates untersucht, veranschaulicht Tantura die damit einhergehende Gewalt am Beispiel eines Dorfes. Israelism thematisiert den Widerstand junger Jüdinnen und Juden in den USA gegen die pro-israelische Indoktrinierung durch etablierte jüdische Institutionen. Die Dokumentarfilme bieten damit fundierte Diskussionsgrundlagen, die auch einen differenzierteren Blick auf die aktuellen, gerade auch von jüdischen Aktivistinnen und Aktivisten unterstützten propalästinensischen Campus-Demos weltweit ermöglichen.
Die BBC-Dokumentation Blue Box wurde von Michal Weits gedreht, der Urenkelin von Yosef Weitz, dem »Vater der israelischen Wälder«. In der Dokumentation entdeckt Weitz den weniger rühmlichen Spitznamen ihres Urgroßvaters: »Avi ha-transfer«, zu Deutsch »Vater des Transfers«, also der Vertreibung der palästinensischen Bevölkerung in den 1930er und 40er Jahren. Die Regisseurin nutzt die Aufarbeitung der eigenen Familiengeschichte als Zugang zur gesamtgesellschaftlichen Infragestellung nationaler Mythen rund um die israelische Staatsgründung.
Einleitend skizziert Michal Weits hegemoniale israelische Motive, wie den Slogan: »Ein Land ohne Volk für ein Volk ohne Land«. Geprägt vom Antisemitismus des russischen Zarenreichs kam ihr 18-jähriger Urgroßvater Yosef Weitz (1890–1972) als zionistischer Pionier ins vorgeblich »volklose« Palästina. In den darauffolgenden Jahrzehnten wurde er Direktor der Land- und Aufforstungsabteilung des Jüdischen Nationalfonds (JNF). Die weltweit verteilten blauen Spendendosen der Organisation, die Blue Boxes, halfen Weitz, im britischen Mandatsgebiet Palästina Land für jüdische Siedlungen zu erwerben und später Israels Aufforstung zu finanzieren.
Doch alsbald erscheinen Risse im Bild des Urgroßvaters. Nachgesprochene Passagen aus Weitz über 5.000 Tagebuchseiten, Interviews mit Verwandten und Archivdokumente offenbaren Geschichten von aktiver Vertreibung, Gewalt und Zerstörung.
Für Weitz schien ein gleichberechtigtes Zusammenleben in Palästina unmöglich; Landerwerb für eine ausschließlich jüdische Bevölkerung verband er mit der Hoffnung, die palästinensisch-arabische Bevölkerung zu verdrängen. 1940 schreibt er in sein Tagebuch: »Wir müssen uns darüber im Klaren sein: In diesem Land ist kein Platz für zwei Völker. Wenn die Araber fortgehen, wird das Land riesig und weitläufig sein. Wenn die Araber bleiben, wird das Land verarmt und beengt sein. Die einzige Lösung ist ein Land Israel ohne Araber. Es gibt keinen Raum für Kompromisse. Alle transferieren. Wir können kein einziges Dorf stehen lassen.«
Chronologisch rekonstruiert Blue Box den Prozess von Landnahme, Besiedlung und Vertreibung. Als JNF-Funktionär kaufte Yosef Weitz Ländereien in Palästina, die Großgrundbesitzer aus Beirut, Damaskus oder Kairo seit osmanischer Zeit an palästinensische Bauern verpachtet hatten. Das Publikum erfährt aus seinem Tagebuch, dass sich sein Magen umdrehte beim Anblick des Leids der hilflosen, tief verwurzelten und nun ausgewiesenen Bauern und eine »innere Stimme der Vernunft schrie: Vertreibe ich jetzt mit Gewalt diese Leute, die das Land jahrelang bearbeitet haben?« Zweifel, die er durch den legalen Erwerb des Landes und die Nullsummen-Logik des »wir oder sie« besänftigte.
»Über zwei Drittel der mehr als sechzig Wälder pflanzte der JNF bewusst auf den Ruinen palästinensischer Dörfer, um diese zu überdecken und eine Rückkehr palästinensischer Geflüchteter zu verunmöglichen.«
Ab Mitte der 1930er-Jahre setzte sich auf zionistischer und britischer Seite eine Teilungslogik durch: Verschiedene Pläne sahen die Aufspaltung des Mandatsgebiets Palästinas in einen jüdischen und einen arabischen Staat entlang der Bevölkerungsstruktur vor. Weitz intensivierte daher den Landkauf und platzierte Siedlungen strategisch, um den geografischen Anspruch des zu gründenden jüdischen Staates zu vergrößern. Dort wurden jüdische Immigrierende, Flüchtlinge und später auch Holocaust-Überlebende angesiedelt.
Auf das Ende des britischen Mandats folgte im Mai 1948 die Unabhängigkeitserklärung Israels und die Kriegserklärung umliegender arabischer Staaten. Militärische Auseinandersetzungen, die der Staatsgründung vorausgingen, sie begleiteten und ihr nachfolgten, führten schließlich zur Nakba (arabisch für Katastrophe). 750.000 Palästinenserinnen und Palästinenser wurden im Zuge der Nakba aus Hunderten von Dörfern und Städten innerhalb des neuen israelischen Staatsgebietes vertrieben, das von etwa 650.000 Jüdinnen und Juden bewohnt wurde.
Yosef Weitz sah in den Vertreibungen die einmalige Chance, langfristig eine jüdische Mehrheit im Land zu garantieren, denn bis 1948 konnte der JNF trotz großer Anstrengungen nur acht Prozent des Landes erwerben. Blue Box zeigt seine Forderungen, die er als Mitglied eines vom Ministerpräsidenten David Ben-Gurion unterstützten »Transfer-Komitees« aufgestellt hat: erstens zu verhindern, dass Araber zu ihren Ländern zurückkehren, zweitens die Araber darin zu unterstützen, an anderen Orten zu siedeln, drittens Juden in einigen Dörfern und Städten anzusiedeln, damit kein territoriales Vakuum entsteht, und viertens so viele Dörfer wie möglich durch militärische Handlungen zu zerstören.
Anhand offizieller Dokumente, eindeutiger Tagebucheinträge und bewegender fotografischer Zeugnisse verfolgt das Publikum die zerstörerische Umsetzung dieses Programms. Eindrucksvolle Visualisierungen machen die der israelischen Landschaft eingeschriebene Gewalt sichtbar. Auf animierten Landkarten verblassen die Namen der durch das israelische Militär zerstörten Dörfer. Langsame Kamerafahrten zeigen alte palästinensische Häuser, teilweise mit jüdischen Bewohnenden oder verstreut als Ruinen. Größere Kakteenansammlungen, so erfährt das Publikum, verweisen auf einstige palästinensische Dörfer.
Schockierende Vorher-Nachher-Aufnahmen eben solcher Dörfer geben ein weiteres Geheimnis von Yosef Weitz Vermächtnis preis: Über zwei Drittel der mehr als sechzig Wälder pflanzte der JNF bewusst auf den Ruinen palästinensischer Dörfer, um diese zu überdecken und eine Rückkehr palästinensischer Geflüchteter zu verunmöglichen.
Israel deklarierte die enormen Ländereien der palästinensischen Flüchtlinge als »verlassenes Eigentum«. Blue Box zeigt, wie diese Länder entgegen des von der UN-Generalversammlung beschlossenen Rückkehrrechts der palästinensischen Geflüchteten in Zusammenarbeit mit dem JNF enteignet wurden und »legal« in jüdischen Besitz übergingen, um die Heimkehr der palästinensischen Bevölkerung zu verhindern.
»Dass die palästinensische Zivilbevölkerung reihenweise zusammengetrieben, und unter den Augen der Kameraden an die Wand gestellt und exekutiert oder mit Flammenwerfern gejagt und verbrannt wurde, gilt für viele als Einzelfall oder Vergeltung.«
Trotz vehementer Verteidigungsversuche und Relativierungen durch die interviewten Verwandten – es war halt Krieg! Wir können die Vergangenheit aus heutiger Sicht nicht verurteilen! – manifestiert Blue Box ein zunehmend negatives Bild des »Vaters des Transfers«. Am Ende versucht Michal Weits es etwas aufzuhellen. Denn späte Tagebuchaufzeichnungen ihres Urgroßvaters offenbaren, dass er die siegestrunkene israelische Öffentlichkeit vor den moralischen Übeln der Besatzung von Westbank und Gaza im Zuge des Sechstagekriegs 1967 warnte.
Parallel zu Tagebuchauszügen zeigen die letzten Minuten des Dokumentarfilms assoziativ und in schnellen Schnitten die Folgen der Besatzung in schwarz-weiß und Farbaufnahmen – von 1967 bis heute: strukturelle Gewalt gegen Palästinenserinnen und Palästinenser, Demonstrationen, Checkpoints, Anschläge, verängstigte Kinder, die israelischen »Sperranlagen« und Luftaufnahmen weitgehend friedlicher Demonstrationen in Gaza 2018/2019. Was wäre gewesen, fragt die Regisseurin leicht nostalgisch, wenn man auf ihren Uropa gehört hätte?
Der Film endet mit still gewordenen Verwandten und Michal Weits, die zwischen steinernen Überresten zerstörter palästinensischer Dörfer Verantwortung übernimmt und anerkennt, dass ihr Großvater beides war: Vater der Wälder und Vater des Transfers.
In einer Aufarbeitung der Täterperspektive untersucht Alon Schwarz’ Dokumentarfilm Tantura am Beispiel des gleichnamigen Fischerdorfs die in Israel bis heute weitgehend tabuisierte Erinnerung an die Gewalt, Massaker und Vertreibung im Zuge der Nakba. Mit einer Luftaufnahme überwucherter Ruinen des vom israelischen Militär 1948 eroberten und später zerstörten Dorfes beginnt eine Spurensuche.
Tanturas Protagonist Teddy Katz hatte 1998 in seiner Masterarbeit Massaker an unbewaffneten Palästinenserinnen im Dorf akribisch nachgewiesen. Er hatte zwei Jahre lang geforscht und 135 Interviews mit palästinensischen Zeitzeugen sowie mit beteiligten Kämpfern der zionistischen Alexandroni-Brigade geführt. Katz rät dem Dokumentarfilmer: »Du kannst dir die Tapes anhören, aber wenn du einen Film daraus machen willst, sei vorsichtig, denn du wirst genauso gejagt wie ich.«
Denn Alexandroni-Veteranen verklagten Katz im Jahr 2000, die Tonbänder wurden vor Gericht als Beweismittel nicht zugelassen und unter Ausschluss seines Anwalts wurde er unrechtmäßig gedrängt zu erklären, es habe keine Massaker gegeben. Er wurde öffentlich diffamiert, mit Drohanrufen terrorisiert, alle Exemplare seiner Abschlussarbeit wurden eingezogen und sein Titel aberkannt. Tantura zeigt ihn als gebrochenen, von Schlaganfällen gezeichneten Mann, der sich trotzdem weigert zu vergessen.
In der Dokumentation verschränkt Schwarz kunstvoll drei Zeitebenen: Fotografien, Karten und Archivmaterialien aus der Zeit des Unabhängigkeitskriegs 1948, die Tonbänder, die Ende der 1990er aufgenommen wurden, und aktuelle Interviews mit greisen israelischen Soldaten, den Beteiligten der »Katz-Affäre«, palästinensischen Dorfbewohnern und israelischen Historikern.
Auf Tantura angesprochen, reagieren die Veteranen auffällig wortkarg und angespannt; sie beklagen Erinnerungslücken, streiten alles ab oder erwähnen stotternd »Gerüchte«. Viele berichten dennoch übereinstimmend, einige unter Schuldgefühlen, andere ganz offen, von Kriegsverbrechen wie Vergewaltigungen und Massakern. Meist rationalisieren sie die Gräueltaten. Dass die palästinensische Zivilbevölkerung reihenweise zusammengetrieben, und unter den Augen der Kameraden an die Wand gestellt und exekutiert oder mit Flammenwerfern gejagt und verbrannt wurde, gilt für viele als Einzelfall oder Vergeltung.
»Die Protagonisten berichten retrospektiv und unterlegt durch kontrastreiche Bilder, wie ihnen in jüdischen Kindergärten und Schulen, bei Austauschprogrammen und Familienbesuchen beigebracht wurde, Israel als Kernbestandteil ihrer jüdisch-amerikanischen Identität zu begreifen.«
Die Veteranen betonen paradoxerweise, dass obwohl Katz hinsichtlich der Gräueltaten recht gehabt hätte, all das besser nicht erwähnt werden solle, da die Soldaten »so nicht gewesen seien«. Sie halten damit an in Israel gängigen Erzählungen fest, laut derer die palästinensische Bevölkerung 1948 freiwillig oder auf Anweisung arabischer Militärs geflohen und die israelische Armee (IDF) die moralischste Armee der Welt sei.
Die von den Veteranen detailreich geschilderten Vorgehensweisen klassifiziert der israelische Historiker Ilan Pappe in einem begleitenden Interview als exemplarisch für den Prozess ethnischer Säuberungen. Auch ohne direkte Befehle hätten die Soldaten die Absicht verstanden, die Anzahl der Palästinenserinnen und Palästinenser auf israelischem Staatsgebiet zu minimieren. Verschiedene Taktiken hätten die Vertreibung ermöglicht: die Verbreitung von Angst und Schrecken durch gezielte Gewaltakte, Angriffe, Massaker und die Zerstörung der verlassenen Dörfer.
Die Historiker Shay Hazkani und Adam Raz erläutern, wie der israelische Staat seit den 1950er-Jahren versucht, diese Ereignisse zu verdrängen. Durch befangene Historikerkommissionen und Archivrichtlinien, die Dokumente über Kriegsverbrechen und Gräueltaten der IDF 1948 unzugänglich machen, wird das eigene Geschichtsbild künstlich aufrechterhalten.
Die Dokumentation lokalisiert den vermuteten Standort eines Massengrabs unter einem Parkplatz in Tantura, dessen Existenz trotz vielfältiger Hinweise vom israelischen Staat und der Mehrheitsgesellschaft ignoriert wird. Es wird nahegelegt, dass dieses Unwissen die gesamtgesellschaftlich unterdrückte Erinnerung der Nakba insgesamt repräsentiert. Schwarz ruft in Tantura zur Anerkennung der Verbrechen der Nakba als notwendigen Schritt zur Versöhnung auf, trotz massiven Widerstands der Mehrheitsgesellschaft, die darin eine Gefahr für die Legitimität Israels sieht. Auf überzeugende Weise rekonstruiert der Film wie Erinnerung unterdrückt wird, um staatstragende historische Erzählungen aufrechterhalten und wie mutige Individuen sich dagegen wehren.
Palästinensische Stimmen kommen dabei – anders als in Blue Box – zwar vor, im Mittelpunkt stehen aber Teddy Katz’ Forschung und israelische Zeitzeugen. Was es bedeutet hätte, die Stimmen palästinensischer Überlebender zu zentrieren, zeigt diese aktuelle Untersuchung von Forensic Architecture. Durch aufwendige digitale Geolokalisierungen der Zeitzeugenberichte gelingt eine überzeugende visuelle Rekonstruktion der Ereignisse, die mindestens ein weiteres Massengrab ausmacht. Sie ist Teil einer juristischen Initiative, die auf die offizielle Anerkennung und Demarkation dieser Orte durch Israel drängt – und untermauert, dass die palästinensischen Überlebenden glaubhafte Zeugen sind, die endlich gehört werden müssen.
Weder Blue Box noch Tantura gelingt es sich ganz von offiziellen israelischen Geschichtsnarrativen zu lösen. Beide Dokumentationen behaupten fälschlicherweise, die Vertreibung der Palästinenserinnen und Palästinenser habe erst mit Israels Staatsgründung im Mai 1948 begonnen – dabei fanden beispielsweise das Massaker von Deir Yassin und die Entvölkerung Yaffas und Haifas durch zionistische Milizen bereits mehrere Wochen zuvor statt. Eine jüdische Perspektive, die die historische und fortwährende Unterdrückungserfahrung der Palästinenser ins Zentrum ihrer Analyse setzt, bietet die dritte Dokumentation.
In den USA existiert mit über 7 Millionen Juden und Jüdinnen die weltweit größte jüdische Diaspora, numerisch quasi gleichauf mit Israels jüdischer Community. Erin Axelman und Sam Eilertsen erzählen in ihrer Dokumentation Israelism in schnellen Schnitten am Beispiel von Simone Zimmermann und Eitan, wie sich politisierte, junge amerikanische Juden und Jüdinnen kritisch mit der »pro-Israel-Indoktrinierung« ihrer Community auseinandersetzen. In Blue Box und Tantura sind es Yosef Weits’ Tagebücher und der »Skandal« um Teddy Katz, die einen transformativen Perspektivenwandel anstoßen. In diesem Fall sind es persönliche Erfahrungen der Protagonisten mit Israels struktureller Unterdrückung der Palästinenser. Israelism umfasst Aufnahmen aus Israel, Palästina und den USA sowie Interviews mit jüdischen Intellektuellen, Aktivistinnen und Vertretern des pro-israelischen jüdischen US-Establishments.
Die Protagonisten berichten retrospektiv und unterlegt durch kontrastreiche Bilder, wie ihnen in jüdischen Kindergärten und Schulen, bei Austauschprogrammen und Familienbesuchen beigebracht wurde, Israel als Kernbestandteil ihrer jüdisch-amerikanischen Identität zu begreifen. Die Lebensumstände und Erfahrungen von Palästinenserinnen und Palästinensern wurden ihnen vorenthalten. Teil dieser Indoktrination war auch der positive Bezug zur IDF, beispielsweise durch Armee-Rollenspiele mit israelischen Soldaten während jüdischer Sommercamps. Bei sogenannten Birthright-Trips nach Israel werde jungen Juden und Jüdinnen aus der ganzen Welt mit überwältigenden Pomp ihre Zugehörigkeit zu Israel und ein unkritischer Blick auf dessen Gesellschaft vermittelt.
»Ich war nie in einem palästinensischen Haus – bis ich als Soldat in eines einbrach.«
Ein junger Israeli berichtet, dass die israelische Regierung ihn als »Israel Fellow« für Lobbyarbeit zu jüdischen Communities an US-Universitäten entsende. An einer anderen Stelle jubelt die Lehrerin einer jüdisch-amerikanischen Bildungseinrichtung: »Viele unserer ehemaligen Schüler:innen treten der IDF bei, […] das sind Kinder, 18, 19 Jahre alt – großartig!« Einen ähnlichen Lebensweg gehen auch Eitan und Simone als junge Erwachsene: Er wird Mitglied der IDF, sie einer pro-israelischen Campusgruppe – beide werden dabei mit Realitäten konfrontiert, die sie desillusionieren.
Die Kamera zeigt intensive Diskussionsrunden an US-Universitäten, wo Simone mit Fragen zur Unterdrückung der palästinensischen Bevölkerung konfrontiert wird, auf die sie keine Antworten findet – weshalb sie beschließt, eigenständig im Westjordanland nachzuforschen. Eitan nimmt als Soldat aktiv an Unterdrückung und Schikane in der Westbank teil; in einer grafisch animierten Erinnerungsszene foltern seine Kameraden am Huwara-Checkpoint einen Palästinenser unbehelligt unter den Augen eines IDF-Kommandanten. Nachts stürmte Eitan grundlos in die Häuser verängstigter palästinensischer Familien, »um unsere Anwesenheit spürbar zu machen« – eine Taktik, die auch der interviewte Veteran Avner Gvaryahu von Breaking the Silence kennt: »Ich war nie in einem palästinensischen Haus – bis ich als Soldat in eines einbrach.«
Während in Bluebox und Tantura israelische Stimmen den historischen Kontext erzählen, überlässt Israelism diese Rolle bewusst den Palästinensern Baha Hilo und Sami Awad, die – mit Edward Said gesprochen – den »Zionismus aus dem Standpunkt seiner Opfer« betrachten. Durch Orte der Westbank spazierend sprechen sie von Nakba, Besatzung, fortschreitender Kolonisierung und der alltäglich erfahrenen, strukturellen Gewalt.
»Die Entwicklung einer zionismus-kritischen Haltung ist für junge Juden und Jüdinnen vielfach mit persönlichen und sozialen Brüchen sowie Anfeindungen und Verleumdungen aus der eigenen Community verbunden.«
Da über 10 Prozent der fast 500.000 illegalen Siedler und Siedlerinnen im besetzten Westjordanland US-Staatsbürger sind, richtet sich Friedensaktivist Sami Awad direkt an die jüdische US-Community: »Warum sollte ein Fremder, der hierherkommt, das Gefühl haben, er habe umfassendere Rechte als die einheimische Bevölkerung? Weil man ihm erzählt, es sei sein [ihm zustehendes] Zuhause«, erklärt er. Er appelliert an Simone und das Publikum, vor allem in der jüdischen Gemeinde Amerikas Druck auf die US-Politik von Demokraten und Republikanern auszuüben, die Israel bedingungslos unterstützen.
Enttäuscht und mit dem Gefühl, belogen worden zu sein, demonstrieren Simone Zimmermann, Eitan und viele junge jüdische Mitstreitende vor den Gebäuden des uneingeschränkt pro-israelischen jüdischen Establishments: beispielsweise vor Institutionen wie Birthright, dem American Israel Public Affairs Committee (AIPAC) oder der Anti-Defamation League (ADL). In Interviews attestiert der jüdisch-amerikanische Intellektuelle Noam Chomsky, dass es zurzeit tatsächlich »markante Veränderungen« innerhalb der jüdisch-amerikanischen Community gebe und der ehemalige ADL-Landesdirektor Abraham Foxman pflichtet bei: »Wir reden davon, die jüdische Jugend zu verlieren. Wir haben sie schon verloren!«
»Die deutsche Öffentlichkeit und insbesondere sich als links verstehende Menschen und Medien wie die Taz oder Jungle World sollten die Fragen und Thematiken, die diese drei Dokumentationen aufwerfen, ernst nehmen und die Diversität des jüdischen und israelischen Meinungsspektrums anerkennen.«
Die Entwicklung einer zionismus-kritischen Haltung ist für junge Juden und Jüdinnen vielfach mit persönlichen und sozialen Brüchen sowie Anfeindungen und Verleumdungen aus der eigenen Community verbunden, wie Israelism eindrücklich dokumentiert. Zugleich erfährt das Publikum von neuen, progressiven Communities, die den dominanten »wir oder die Palästinenser«-Dualismus und die israelische Besatzung von Westbank und Gaza ablehnen. Politische Bewegungen wie Jewish Voice for Peace und die von Simone Zimmermann mitgegründete Antibesatzungsbewegung IfNotNow, das Magazin Jewish Currents und vielfältige religiöse Gruppen setzen sich für Gerechtigkeit für alle Menschen zwischen Mittelmeer und Jordan ein. Israels militärisches Vorgehen nach dem 7. Oktober 2023 verstärkt diesen Trend, aber auch die Polarisierung unter jungen US-Juden und Jüdinnen.
In Israelism sind, stärker als in Blue Box und Tantura, die palästinensischen Unrechtserfahrungen zentral. Daraus ergeben sich viele Fragen, etwa welchen Platz nicht-, post- oder antizionistische jüdische Positionen und Identitäten im Kontext einer uneingeschränkten, innenpolitisch wie ideologisch motivierten Unterstützung Israels durch alle politischen Parteien und Institutionen – in den USA, aber auch in Europa – einnehmen.
Die deutsche Öffentlichkeit und insbesondere sich als links verstehende Menschen und Medien wie die Taz oder Jungle World sollten die Fragen und Thematiken, die diese drei Dokumentationen aufwerfen, ernst nehmen und die Diversität des jüdischen und israelischen Meinungsspektrums anerkennen. Das würde eine Grundlage für Diskussionen darüber bieten, mit welchen politischen Positionen und Akteuren man sich konkret solidarisieren will – anstatt durch eine vorbehaltlose Solidarität auch rechte Politiker wie Benjamin Netanjahu oder Yoav Gallant einzubeziehen. Diese Diskussionen müssen geführt werden, auch wenn sie unbequem sind.
Jan Altaner promoviert an der University of Cambridge zur Geschichte Libanons und des Nahen Ostens im 20. Jahrhundert. Zuvor studierte er Nahost-, Geschichts- und Islamwissenschaft in Beirut, Kairo und Freiburg. Außerdem schreibt er für Medien wie Zeit Online, Taz, dis:orient, Übermedien und Qantara.