16. Juli 2024
Gideon Levy ist einer der prominentesten Kritiker der israelischen Besatzungs- und Kriegspolitik. Im Gespräch mit JACOBIN verdeutlicht er, wie verheerend die Auswirkungen des Gaza-Krieges sind, wie die Annexion des Westjordanlandes eskaliert und der öffentliche Diskurs in Israel stagniert.
Menschen laufen durch die Trümmer einer von den Vereinten Nationen betriebenen Schule in Nuseirat, die von der israelischen Armee bombardiert wurde, 14. Juli 2024.
Seit dem Angriff der Hamas am 7. Oktober 2023 befindet sich Israel in einem absoluten Ausnahmezustand. Das Land wird von einem Kriegskabinett regiert, die Militärzensuren schwärzen ausgewählte Berichte und weisen bestimmte ausländische Medien aus, während der verheerende Krieg in Gaza weiter tobt.
An allem, was seit dem 7. Oktober in Israel und Palästina geschieht, sei allein die Hamas schuld, ist oft zu hören. Doch der Nahostkonflikt entzündete sich nicht am Terrorangriff der Hamas. Dieser Konflikt hat eine lange und blutige Geschichte, im Zuge derer Palästina jahrzehntelang von Israel besetzt und die arabische Bevölkerung zwischen dem Levantinischen Meer und dem Jordanfluss entrechtet wurde.
Wenige wissen dies besser als der israelische Journalist Gideon Levy, der seit Jahrzehnten über die Verteibungs- und Ausgrenzungspolitik berichtet, die Israel gegenüber den Palästinenserinnen und Palästinensern betreibt. Im Gespräch mit JACOBIN sprach er über die Geschichte des Konflikts, die mögliche Annexion des Westjordanlands und seine Hoffnungen für die Region.
An diesem Wochenende wurden Berichten zufolge Dutzende Palästinenserinnen und Palästinenser bei einem israelischen Luftangriff in Gaza getötet, der offenbar den Militärchef der Hamas, Mohammed Deif, zum Ziel hatte. Bilder des Angriffs zeigten große Krater und riesige Rauchwolken an Orten, die Israel als »sichere Zone« deklariert hatte. Bei der Operation zur Befreiung von vier Geiseln in Nuseirat vor ein paar Wochen wurden über 200 Menschen aus Gaza getötet. Der Großteil waren Zivilisten. Wird die Tatsache, dass der Preis dieses Kriegs so hoch ist, in der israelischen Öffentlichkeit diskutiert?
Nein, überhaupt nicht. Ich kann Dir garantieren, wenn es in Nuseirat nicht 200 Getötete, sondern 2.000 gewesen wären, wäre das für die meisten in Israel immer noch gerechtfertigt gewesen. In ihren Augen hat Israel nach dem 7. Oktober das Recht zu tun, was immer es will. Und es ist nicht an der Welt, uns Grenzen zu setzen. Das ist die Denkweise. Natürlich gibt es Menschen, die das anders sehen. Aber sie sind eine kleine Minderheit und haben Angst, ihre Stimme zu erheben. Die meisten Israelis würden im Moment jede Aggression gegen die palästinensische Bevölkerung rechtfertigen. In jedem Ausmaß.
Viele der erklärten Ziele des Krieges – etwa die Befreiung der Geiseln, die Zerstörung der Hamas – wurden nach neun Monaten kaum erreicht. Gibt es in der israelischen Öffentlichkeit denn keine Zweifel an dem andauernden Blutvergießen in Gaza?
Hier ist Israel gespalten. Man kann nicht behaupten, dass die Ziele erreicht wurden, wenn Hamas weiter Raketen abfeuert und die meisten Geiseln nicht freigelassen wurden. International wird Israel zu einem Pariah. Aber der rechte Flügel argumentiert, dass all das daran liegt, dass wir nicht stark genug gekämpft und nicht genug Menschen getötet haben. Sie glauben, die israelische Armee sei nicht entschlossen genug.
»Viele beginnen mit neun Monaten Verspätung zu verstehen, dass dieser Krieg seine Ziele nicht erreichen kann, weil sie per Definition unerreichbar sind.«
Auf der anderen Seite gibt es viele, die mit neun Monaten Verspätung zu verstehen beginnen, dass dieser Krieg seine Ziele nicht erreichen kann, weil sie per Definition unerreichbar sind. Leute wie ich haben das vom ersten Tag an gesagt. Aber trotzdem zieht niemand die Konsequenz daraus, den Krieg heute zu beenden. Wenn er nach neun Monaten nichts bewirkt hat, wird er auch nach weiteren neun Monaten nichts bewirken, außer mehr Töten und mehr Zerstörung. Warum also weitermachen?
Das letzte Mal, als wir gesprochen haben, war kurz vor den letzten Wahlen in Israel, die die derzeitige, von Extremisten geführte Regierung an die Macht brachten. Sie äußerten damals sehr geringe Erwartungen an die Opposition. Der Krieg gegen Gaza dauert nun schon neun Monate an. Zehntausende Zivilisten sind getötet worden. Siehst Du heute eine nennenswerte Opposition in Israel?
Es gibt eine engagierte Opposition, sie demonstrieren jede Woche und halten teils sogar den Verkehr auf. Aber sie konzentrieren sich nur auf zwei Dinge: Sie wollen Netanjahu loswerden und die Geiseln nach Hause bringen. Es gibt keine wirkliche Opposition gegen den Krieg. Keine Opposition gegen die Verbrechen Israels. Keine Opposition gegen das Massentöten in Gaza. Überhaupt nicht. Deshalb wird, selbst wenn Netanjahu ersetzt wird, keiner der anderen Kandidaten die grundlegenden Themen angehen – den Krieg, die Besatzung, Apartheid. Keiner von ihnen ist zu wirklichem Wandel bereit. Wenn es um die Kernfragen geht, wird Israel gleich bleiben.
Vor dem 7. Oktober gab es in Israel Proteste gegen die sogenannte Justizreform. Ein kleiner, beständiger Block in diesen Demos, der Anti-Besatzungs-Block, hat die von Dir erwähnten Themen immer wieder adressiert. Sie versuchten, eine Verbindung zwischen Israels Unterdrückung der Palästinenserinnen und Palästinenser und der Justizreform herzustellen. War das nur eine Randerscheinung?
Definitiv. Erstens wollte auch bei diesen Demos die Mehrheit der Demonstrierenden diese Gruppe nicht dabei haben. Sie haben keine palästinensischen Flaggen toleriert. Sie wollten mit diesem Thema nichts zu tun haben, weil sie befürchteten, dass es die meisten Israelis irritieren würde. Und dieser Block schrumpft jetzt noch weiter. Die Menschen, die wirklich gegen Krieg und Besatzung sind, sind nach dem 7. Oktober ein viel kleineres Lager.
»Shimon Peres, der den Friedensnobelpreis erhalten hat, ist für mehr Siedlungen verantwortlich als Netanjahu.«
Seit Jahren sprichst Du selbst immer wieder Themen an, die in Israel oft unangetastet bleiben. Interessanterweise hast Du Premierminister Benjamin Netanjahu allerdings öfter verteidigt und seine liberalen Kritikerinnen und Kritiker zurechtgewiesen. Warum?
Die Einheitsfront gegen Netanjahu war ausschließlich damit beschäftigt, ihn loszuwerden, während sie all die anderen Probleme vertuschte. Als ob sich Israel in eine Art Paradies verwandeln würde, sobald wir Netanjahu los sind. Als ob alles allein seine Schuld wäre. Besatzung und Siedlungen – all das hat die israelische Arbeiterpartei verursacht, nicht Netanjahu. Shimon Peres, der den Friedensnobelpreis erhalten hat, ist für mehr Siedlungen verantwortlich als Netanjahu. Gegen Netanjahu zu sein, ist sehr bequem. Dazu braucht man keinen Mut. Aber wenn man keine Alternative hat, weder persönlich, noch programmatisch oder ideologisch, ist dieses Argument hohl. Außerdem bin ich auch der Meinung, dass Netanjahu persönlich als Politiker ein viel höheres Niveau hat als all die anderen Kandidaten.
Hat sich Deine Haltung hierzu geändert?
Heute würde ich kein einziges gutes Wort mehr über Netanjahu verlieren. Er muss gehen. Daran kann es keinen Zweifel geben.
In diesen Tagen wird viel über die Annexion des Westjordanlandes gesprochen. Sie berichten seit Jahrzehnten von dort. Expertinnen und Experten warnen, seit Israels Finanzminister Bezalel Smotrich die Zivilverwaltung übernommen hat, dass es sich nicht mehr nur um eine De-facto-Annexion, sondern um eine De-jure-Annexion handelt. Palästinensisches Land wird dort jetzt in rasantem Tempo konfisziert. Israel »genehmigt« den Bau von immer mehr Häusern in Siedlungen. Wie bedeutsam ist dieser Prozess?
Er ist sehr wichtig für die Opfer, aber historisch gesehen nicht so sehr. Wir haben den Punkt, an dem es keinen Platz mehr gibt für einen palästinensischen Staat, schon lange überschritten. Mit 700.000 Siedlern, die nicht evakuiert werden, weil niemand die politische Macht dazu hat. Das Westjordanland ist seit vielen Jahren praktisch annektiert. Deshalb schockiert mich die Möglichkeit einer Annexion de jure nicht so sehr.
»Heute haben wir eine Vision: Ein demokratischer Staat mit gleichen bürgerlichen und nationalen Rechten für alle Menschen zwischen dem Fluss und dem Meer.«
Oft dachte ich sogar, dass es etwas Gutes wäre. Denn wenn Israel das Westjordanland de jure annektiert, erklärt es sich zu einem Apartheidstaat. Dann kann es niemand mehr leugnen. Solange man es nicht tut, kann man behaupten, die Besatzung sei vorübergehend. Niemand kann diesen Diskurs noch ernst nehmen. Aber diejenigen, die daran glauben wollen, tun das.
Wenn ich Dich richtig verstehe, sagst Du, dass eine Nicht-Annektierung de jure quasi diplomatischen Schutz bietet?
Sicher. Denn dann gibt es die Zwei-Staaten-Lösung und all die anderen Argumente, die meiner Meinung nach heute völlig irrelevant sind. Sie kommen viel zu spät. Aber sobald Israel einen Ein-Staat erklärt, ist die Maskerade vorbei. Dann wird niemand mehr behaupten können, Israel sei eine Demokratie. Es gibt keine Demokratie, wenn die Hälfte der Bevölkerung unter Tyrannei lebt. Es ist heute dasselbe. Aber mit einer De-jure-Annexion wird es unbestreitbar und offiziell.
Wenn Du sagst, die Zweistaatenlösung sei tot – was wäre denn die Alternative?
Im Moment befinden wir uns in einer ziemlich aussichtslosen Situation. Aber wenn wir herauszoomen, leben wir de facto seit über fünfzig Jahren in einem Staat. Zwischen dem Fluss und dem Meer gibt es nur einen Staat, ich kenne keinen anderen. Die einzige Frage, die zählt, ist die nach dem Regime. Man kann nicht zugleich ein demokratischer und ein jüdischer Staat sein. Israel hat das eine dem anderen vorgezogen, indem es Lippenbekenntnisse zu Demokratie abgab, während es sich im Klaren war, dass jemand, der in Jenin oder Ramallah lebt, keine Rechte hat. Es ist einfach: Israel ist keine Demokratie. Heute haben wir eine Vision. Ein demokratischer Staat mit gleichen bürgerlichen und nationalen Rechten für alle Menschen zwischen dem Fluss und dem Meer.
Was müsste denn geschehen, damit diese Vision Wirklichkeit wird?
Es muss mit internationalem Druck beginnen, um der Apartheid ein Ende zu setzen. Die Welt hat die Apartheid in Südafrika nicht toleriert, also muss sie auch gegen den zweiten Apartheidstaat, gegen Israel, vorgehen. Diese Struktur muss durchbrochen werden. Sie verstößt gegen Völkerrecht und grundlegende Werte. Aber der Wandel muss auch von innen kommen, von beiden Völkern, dem palästinensischen und dem israelischen. Sie müssen erkennen, dass der einzige Weg zum Zusammenleben in Gleichheit besteht. Im Moment scheint das noch weit hergeholt. Aber es geht darum, entweder für immer in einem Apartheidstaat oder in einer Demokratie zu leben. Es gibt keine dritte Möglichkeit.
»Wer sagt, dass die Unterstützung eines faschistischen Israels irgendetwas mit Wiedergutmachung zu tun hat?«
Internationale Unternehmen wie Axel Springer und Booking.com profitieren von Vermietungen und Verkäufen von Häusern im Westjordanland. Verfolgst Du die Diskussionen über die internationale Mitschuld an der Besatzung?
In diesen Tagen findet international ein Diskurswechsel statt. Ich habe das Gefühl, nach dem 07. Oktober und mit dem Beginn des Krieges in Gaza haben die meisten jungen Menschen auf der ganzen Welt einfach die Nase voll von Israels Vorgehen. Das sieht man vor allem in den USA, auch in vielen jüdischen Gemeinden, und auch in Europa wird das immer deutlicher. Was sie in Gaza sehen, ist nach fast allen Maßstäben inakzeptabel. Und die Propagandatricks Israels, Kritik an Israel als Antisemitismus zu labeln, müssen adressiert werden. Ich weiß, dass Deutschland das letzte Land sein wird, wo das passiert. Aber auch dort ist es wirklich eine Frage der Meinungsfreiheit.
Kannst Du das näher erläutern?
Für Deutschland steht Israel über dem Völkerrecht, über der Moral. Ich kann dieses dumme – und ich sage dieses Wort ganz absichtlich – Verhalten nicht akzeptieren. Es ist dumm, weil es genau das Gegenteil bewirkt. Es wird Antisemitismus verstärken. Die Leute werden sagen: Seht nur, wie die Juden wieder die Welt beherrschen. Wir können Israel nicht mal in unserem eigenen Land kritisieren ...
… was natürlich ein antisemitisches Klischee ist.
Genau.
Nun hat Deutschland seine Unterstützung für Israel zur Staatsraison erklärt – wegen seiner antisemitischen Geschichte, wegen des Holocausts. Wenn nicht so, wie sollte deutsche historische Verantwortung Deiner Meinung nach denn aussehen?
Erstens: Deutsche historische Verantwortung bedeutet nicht, alles zu akzeptieren, was Israel tut. Und wer sagt überhaupt, dass das Verantwortung ist? Wer sagt, dass es Freundschaft ist? Wer sagt, dass die Unterstützung eines faschistischen Israels irgendetwas mit Wiedergutmachung zu tun hat? Nein! Das ist keine Wiedergutmachung. Zweitens, und ja, es steht an zweiter Stelle, aber Deutschland trägt auch eine indirekte Mitverantwortung für das palästinensische Volk. Ohne den Holocaust hätte es die Nakba nie gegeben.
In den vergangenen Monaten ist Deutschland hart gegen kritische Stimmen innerhalb Deutschlands vorgegangen, wenn es um Israels Krieg gegen Gaza ging und die deutsche Beteiligung. Verfolgen Menschen in Israel, was in Deutschland vor sich geht?
In Israel herrscht die Meinung vor, die ganze Welt sei antisemitisch. Man hört es immer öfter: Die Welt ist gegen uns, egal was wir tun. Das hat natürlich nichts mit der Realität zu tun. Aber das ist die Art, wie es wahrgenommen wird. Die New York Times ist antisemitisch, CNN ist antisemitisch, Großbritannien ist antisemitisch, Deutschland ist antisemitisch. Dazu kommen immer mehr Anzeichen für tatsächlich wachsenden Antisemitismus in Europa. Viel davon ist auf die Politik Israels zurückzuführen.
Seit Oktober habe ich Israel und Palästina zweimal besucht. In Israel sah ich an vielen Orten Schilder mit Aufschriften wie »Anachnu Nenazeach« – »Gemeinsam werden wir siegen«. Das deutet ja auf eine Einheitsfront zur Unterstützung des Krieges hin. Wie verstehst Du das?
Diese Einigkeit gibt es nur unter einer Bedingung, nämlich entlang des rechten Bündnisses der Regierung. Man ist sich einig, den Krieg fortzusetzen, um das Massentöten in Gaza fortzusetzen. Wenn man es wagt, das zu kritisieren, bricht man die Einigkeit. In dem Sinn ist es eine sehr faschistische Forderung. Im Wesentlichen bedeutet es, dass man Netanjahus Lager folgen muss und sich einzureihen hat. Das ist inakzeptabel. Israel ist heute genauso gespalten wie vor dem Krieg. Auch unter Israelis gibt es viel Hass. Und das kann leicht in Gewalt umschlagen.
Bist Du selbst in den letzten Monaten zur Zielscheibe von Hass geworden?
Erst heute hat jemand ein großes Schild gegen mich aufgestellt. Es hängt jetzt am Ayalon-Highway, der größten Autobahn in Tel Aviv. Die Person hat, wie man mir sagte, 32.000 Schekel dafür bezahlt, also fast 10.000 Euro.
Wie gehst Du mit so etwas um?
Ehrlich gesagt musste ich lachen. Aber es gibt einem schon einen kleinen Einblick in die Mentalität.
Medien spielen in diesem Krieg eine essenzielle Rolle. In Israel scheint das besonders schwierig zu sein, da es eine militärische Zensur zu bestimmten Themen gibt.
Die Zensur ist sehr begrenzt. Ich würde da nicht zu viel hineininterpretieren. Die wichtigste Form der Zensur, die heute in Israel vorherrscht, ist Selbstzensur.
Wie erklärst Du Dir das?
Neun Monate lang wurden uns keine Bilder aus Gaza gezeigt, nichts. Niemand hat den Medien gesagt, dass sie Gaza nicht zeigen sollen. Aber sie wissen genau, dass Israelis diese Bilder nicht sehen wollen. Also haben sie ihnen diesen Dienst eben angeboten. Niemand außer Haaretz und kleinere Online-Medien hat den Mut, zu verstehen, dass Journalismus nicht bedeutet, nur zu zeigen, was die Leute von einem erwarten, sondern auch eine Art soziale und politische Mission zu erfüllen. Die israelischen Medien versagen in dieser Hinsicht komplett. Was man heute zu sehen bekommt, ähnelt der russischen Berichterstattung über den Krieg in der Ukraine.
»Hoffnung muss von außen kommen.«
Würdest Du sagen, dass israelische Medien damit zu einer Art Straflosigkeit des Staates beitragen?
Absolut, die Medien sind ein sehr wichtiger Akteur. Bereits in all den Jahren, in denen die Besatzung geleugnet oder schlicht ignoriert wurde. Aber in diesem Krieg hat es einen Höhepunkt erreicht, den ich selbst noch nicht kannte. Wenn Du jetzt herkommst und den Fernseher einschaltest, würdest Du nicht glauben, was Du siehst.
Ist diese Entwicklung durch die Regierung verschärft worden?
Ich denke, die Medien würden unter einer liberaleren Regierung kaum anders reagieren. Abgesehen davon erwägt die jetzige Regierung aber wirklich antidemokratische Maßnahmen gegenüber Medien, die keine liberale Regierung wagen würde. Wenn es nach dieser Regierung ginge, hätte ich selbst keine Stimme mehr. Und wenn das noch ein paar Jahre so weitergeht, kann es gut sein, dass sie mich stumm schalten.
Im Westjordanland sehen wir ein neues Ausmaß an Gewalt durch Siedler und die Armee. Welche Eindrücke nimmst Du dieser Tage von Leuten vor Ort mit?
In den letzten 35 Jahren bin ich fast jede Woche in das Westjordanland gereist. Die meisten Menschen, die ich dort treffe, kennen mich nicht. Ich treffe keine Politiker oder Intellektuelle. Ich treffe Opfer von Verbrechen, Menschen, die Kinder verloren haben, die ihr Land verloren haben, die Verwandten verloren haben. Menschen, die ohne Verfahren inhaftiert wurden. Bis zum heutigen Tag waren sie immer bereit, mit mir zu sprechen. In 35 Jahren kann ich mich nur an einen einzigen Fall erinnern, in dem mich jemand nicht zu sich nach Hause eingeladen hat. Ich bin immer noch schockiert, wie offen Palästinenser vor Ort sind, einen israelischen Journalisten zu empfangen und mit mir zu sprechen. Aber die Atmosphäre auf den Straßen ist gerade ziemlich gefährlich. Die Armee und Siedler tun schreckliche Dinge. Ich weiß nicht, wie lange ich noch hinreisen kann.
Gibt es etwas, das Dir gerade Hoffnung gibt?
Im Moment ist das sehr schwer. Manchmal schöpfe ich Hoffnung aus der Tatsache, dass die Menschen, die jetzt in Harvard, Yale und Columbia protestieren, die nächste Generation von amerikanischen Politikerinnen und Politikern sein werden. Hoffnung muss von außen kommen. Wenn sie Außen- und Verteidigungsminister werden, hoffe ich, dass sie noch etwas von dem in sich tragen, was sie in ihrer Studienzeit gedacht und gelebt haben. Dass sie dann zumindest eine ausgewogene Sichtweise auf das haben, was hier vor sich geht.
Gideon Levy wurde 1953 in Tel Aviv als Sohn europäischer Geflüchteter vor dem NS-Regime geboren. Sein Vater stammte aus dem Sudetenland. Von 1978 bis 1982 war Levy Sprecher des ehemaligen Premierministers Shimon Peres. Seit 1986 berichtet er wöchentlich in seiner Haaretz-Kolumne »Twilight Zone« über den Alltag von Palästinenserinnen und Palästinensern unter israelischer Besatzung im Westjordanland. Levy gilt als eine der wenigen kritischen, journalistischen Stimmen innerhalb Israels, die seit vielen Jahren konsequent gegen die andauernde Besatzungs- und Kriegspolitik des Landes Stellung beziehen. Für seine Berichterstattung erhielt Levy mehrere journalistische Auszeichnungen. Im Zuge des Gaza-Kriegs trat er in mehreren internationalen Fernsehformaten auf, darunter CNN, Democracy Now und Piers Morgan Uncensored.