14. Dezember 2023
Hayim Katsman wurde bei dem Überfall der Hamas am 7. Oktober 2023 ermordet. Mit Genehmigung seiner Familie veröffentlichen wir einen von ihm geschriebenen Essay, in dem er eine Friedensordnung für sein Land skizziert.
»Die religiös-zionistische Bewegung wusste genau, was sie wollte: die Ansiedlung von Jüdinnen und Juden im gesamten ›Land Israel‹. Was will die israelische Linke?«
Am 7. Oktober 2023 wurde Hayim Katsman in seinem Haus im Kibbuz Holit, nahe der Grenze Israels zum Gazastreifen, von der Hamas ermordet. Berichten zufolge starb Hayim, als er sich vor seine Nachbarin Avital Alajem warf und von mehreren Kugeln getroffen wurde.
Aber Hayim war mehr als nur die Umstände seines Todes: Er war Wissenschaftler – und unser Student. Hayim promovierte 2021 in International Studies an der University of Washington zu religiösem Nationalismus in Israel/Palästina. Im Frühjahr 2019 führte Hayim dafür eine unabhängige Studie gemeinsam mit Daniel Bessner durch, der auch Contributing Editor bei Jacobin ist. Liora R. Halperin war Mitglied in Hayims Dissertationsausschuss. Hayims letzter Aufsatz für Daniels Studie, der im Folgenden abgedruckt ist, befasst sich mit einem Thema, das ihm persönlich sehr am Herzen lag: Strategien für die israelische Linke. Wir haben Hayims Aufsatz zwecks Klarheit, Lesbarkeit und Konsistenz überarbeitet, wobei wir uns bemüht haben, dem Originaltext treu zu bleiben und ihn gleichzeitig für ein möglichst breites Publikum zugänglich zu machen.
Hayim schrieb diesen Text nach den israelischen Wahlen im April 2019 – der ersten von insgesamt fünf Wahlen in der Zeit bis zum November 2022, als Premierminister Benjamin Netanjahu endlich die notwendigen Stimmen erreichte, um eine stabile Koalition zu bilden. Diese Koalition ist die rechteste Regierung in der Geschichte Israels. Sie besteht ausschließlich aus konservativen, rechtsradikalen und ultraorthodoxen Parteien. In seiner ursprünglichen Einleitung (die wir hier gekürzt haben) stellt Hayim fest, dass der Wahlausgang zugleich für viele »ein weiterer Nagel im Sarg der israelischen Linken« war, denn die Arbeitspartei hatte weniger als 5 Prozent der Stimmen erhalten.
Dieser Essay macht deutlich, dass Hayim kein entpolitisierter »Friedensaktivist« war, wie ihn die Medien nach seinem Tod oft bezeichneten, sondern ein linker politischer Denker. Hayim, so glauben wir, wäre entsetzt darüber gewesen, wie die israelische Regierung auf die Ermordung von ihm und anderen Zivilistinnen und Zivilisten reagiert hat. In ihrer Trauerrede forderte Hayims Schwester Noi die israelische Regierung auf, »unseren Tod und unseren Schmerz nicht dazu zu benutzen, den Tod und den Schmerz anderer Menschen oder anderer Familien zu verursachen. Ich fordere, dass wir den Kreislauf des Schmerzes durchbrechen und verstehen, dass Freiheit und gleiche Rechte der einzige Weg sind.«
Der folgende Essay, der mit der Erlaubnis von Hayims Familie abgedruckt wird, soll an Hayims Glauben erinnern, dass man durch gemeinsamen politischen Kampf Frieden, Demokratie und Gleichheit für alle erreichen kann.
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Daniel Bessner & Liora R.
Halperin
»Es gibt in Israel eine inhärente Spannung zwischen dem erklärten Bestreben der Nation, dem ganzen Demos gleiche Rechte zu gewähren, und der tatsächlichen Politik, die dem jüdischen Ethnos Privilegien vorbehält.«
Will die israelische Linke nach ihrem Kollaps bei den Wahlen ihre politische Macht wiedererlangen, muss sie zwei große Herausforderungen bewältigen. Erstens muss sie das Projekt der jüdischen kulturellen Wiedererweckung und der nationalen Identität, also den Zionismus, in einer Weise neu definieren, die Ethnonationalismus zurückweist und die traditionell liberal-demokratischen Werte von Gleichheit, Freiheit und Unabhängigkeit aufnimmt. Zweitens muss die Linke praktische Maßnahmen ergreifen, um die Unterstützung der israelischen Bevölkerung zu gewinnen. Seit vielen Jahren sind die politischen Bemühungen der Linken immer wieder gescheitert. Demonstrationen, Petitionen und Dialogforen haben nicht den gewünschten Wahlerfolg gebracht. Es ist daher an der Zeit, dass die Linke ernsthaft darüber nachdenkt, was in der Praxis nötig ist, um eine politische Transformation in Israel herbeizuführen.
Paradoxerweise könnten diesbezügliche Antworten in der Geschichte der traditionellen politischen Gegner der Linken, dem rechts-religiösen Zionismus, zu finden sein. Denn die religiös-zionistische Bewegung hatte zwar noch in den 1960er Jahren nur geringen politischen Einfluss, konnte ihr umstrittenes Projekt der Besiedlung der besetzten palästinensischen Gebiete jedoch langfristig erfolgreich umsetzen. Heute ist die religiös-zionistische Rechte der vielleicht einflussreichste Block in der israelischen Politik. Die heutige israelische Linke hat also viel von ihr zu lernen.
Im folgenden Abschnitt erörtere ich die Spannungen zwischen Zionismus und Liberalismus. Anschließend skizziere ich, wie ein nicht-ethnonationalistischer Zionismus aussehen könnte. Und abschließend möchte ich die Hauptgründe für den historischen Erfolg des religiösen Zionismus analysieren, um daraus einige praktische Lehren für die Linke zu ziehen. Die israelische Linke befindet sich heute an einem Tiefpunkt. Das muss und darf nicht so bleiben.
Sind Zionismus und Liberalismus miteinander vereinbar? Die kurze Antwort auf diese Frage – zumindest mit Blick auf den heutigen Zionismus – lautet: »Nein«. Der Zionismus, wie ihn der Staat Israel derzeit vertritt und wie ihn auch die große Mehrheit der Israelis versteht, basiert auf ethnonationalen Prinzipien. Nach dieser Auffassung stehen den Jüdinnen und Juden in Israel mehr Rechte und Privilegien zu als den im Staat lebenden nicht-jüdischen Menschen.
Diese Ansicht spiegelt sich auch in der israelischen Gesetzgebung wider. Im Juli 2018 erließ Israel das sogenannte Nationalstaatsgesetz. Mit diesem Gesetz sollte offiziell festgelegt werden, dass Israel die »nationale Heimstätte des jüdischen Volkes« ist. Das Gesetz erwähnt keine palästinensische nationale Identität und kommt komplett ohne die Wörter »Demokratie« oder »Gleichheit« aus. Da Israel keine Verfassung hat, haben Grundgesetze wie dieses einen quasi-verfassungsrechtlichen Status. Freilich wurde mit diesem Gesetz lediglich formalisiert, was zuvor bereits bekannt war und praktiziert wurde: Formal ist Israel eine Verfahrensdemokratie, die regelmäßig freie Wahlen abhält, an denen alle Bürgerinnen und Bürger teilnehmen können. Gleichzeitig aber werden den palästinensischen Israelis kollektiv nationale Rechte sowie bestimmte individuelle Rechte verweigert, eben weil sie keine Jüdinnen und Juden sind.
»Im besetzten Westjordanland gibt es zwei getrennte Rechtssysteme: eines für die palästinensische Bevölkerung und eines für Israelis.«
Unter Forschenden gibt es eine Debatte darüber, ob Israel als »ethnische Demokratie« oder als »Ethnokratie« charakterisiert werden sollte. Konsens besteht jedenfalls darüber, dass man den Staat nicht als liberale Demokratie einstufen kann. Das lässt sich an diversen Beispielen erläutern: So gewährt beispielsweise das berühmte Rückkehrgesetz aus dem Jahr 1950 allen Jüdinnen und Juden auf der ganzen Welt das Recht, nach Israel einzuwandern, auch wenn ihre unmittelbaren Vorfahren nie in Palästina gelebt haben. Im Gegensatz dazu wird Palästinenserinnen und Palästinensern, die tatsächlich auf diesem Land gelebt haben und während des Krieges 1948 vertrieben wurden, nicht nur ein entsprechendes »Rückkehrrecht« verweigert, sondern oft sogar verboten, Israel auch nur touristisch zu besuchen. Darüber hinaus verfolgt die israelische Regierung ein Projekt zur »Judaisierung« des Territoriums, indem sie die ausschließlich jüdische Besiedlung rechtlich, finanziell und infrastrukturell unterstützt. Offensichtlich gibt es in Israel eine inhärente Spannung zwischen dem erklärten Bestreben der Nation, dem ganzen Demos gleiche Rechte zu gewähren, und der tatsächlichen Politik, die dem jüdischen Ethnos Privilegien vorbehält.
Diese Spannung wird umso deutlicher, wenn man das gesamte Gebiet betrachtet, das sich derzeit unter der Kontrolle der israelischen Regierung befindet. In Ostjerusalem und im Westjordanland (sowie im Gazastreifen) werden die palästinensischen Menschen formal nicht als Teil des Demos betrachtet: Sie haben nicht die israelische Staatsbürgerschaft und können daher auch nicht an den israelischen Wahlen teilnehmen. Die jüdischen Siedlerinnen und Siedler, die in den besetzten Gebieten leben, genießen dagegen das Privileg, dass sie ihre Staatsbürgerschaftsrechte »mit rüber nehmen«, obwohl weder Ostjerusalem noch das Westjordanland innerhalb der international anerkannten Grenzen Israels liegen. Im besetzten Westjordanland gibt es daher zwei getrennte Rechtssysteme: eines für die palästinensische Bevölkerung und eines für Israelis. In der Stadt Hebron bestehen diese unterschiedlichen Rechtssysteme sogar in ein und derselben Stadt.
Dieser Zustand ist offensichtlich nicht mit liberal-demokratischen Werten vereinbar. Die meisten Israelis sind sich dieser Tatsache bewusst und rechtfertigen die Unterdrückung und Entrechtung der palästinensischen Bevölkerung als ein notwendiges Übel. Sie räumen ein, dass die Situation nicht ideal ist, behaupten aber, dass es sich um eine Notwendigkeit handle, die sich aus der Tatsache ergäbe, dass sich die jüdische und die palästinensische Bevölkerung in einem nationalistischen und letztlich existenziellen Kampf gegeneinander befänden. Den Palästinenserinnen und Palästinensern kollektive Rechte zuzugestehen, so behaupten sie, hätte die demografische – und vielleicht auch physische – Zerstörung des jüdischen Staates und des Zionismus selbst zur Folge.
Mehrere neuere Veröffentlichungen zur Geschichte der zionistischen Ideologie weisen jedoch darauf hin, dass die Sehnsucht nach jüdischer Nationalität und Staatlichkeit, die im Zionismus zum Ausdruck kommt, nicht notwendig auf einen exklusiv-jüdischen Nationalstaat zielt. Dem Historiker Dmitry Shumsky zufolge betrachteten die meisten bedeutenden zionistischen Denker des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, darunter Theodor Herzl, Wladimir Zeev Jabotinsky und David Ben-Gurion, die Errichtung eines solchen ausschließlich jüdischen Nationalstaates nicht als einzige denkbare Lösung. Immerhin bildeten die Jüdinnen und Juden zur Jahrhundertwende in dem von den Osmanen beherrschten Palästina eine kleine Minderheit. Die Realisierung eines unabhängigen jüdischen Staates war kaum vorstellbar – bis zur Balfour-Erklärung von 1917, in der Großbritannien seine grundsätzliche Unterstützung für die Schaffung einer »jüdischen nationalen Heimstätte« in Palästina zum Ausdruck brachte, oder auch bis zum (nicht umgesetzten) Bericht der Peel-Kommission von 1937, der empfahl, einen souveränen jüdischen Staat in Palästina zu schaffen, indem das Territorium geteilt werde.
Shumskys Forschungsergebnisse legen nahe, dass – im Gegensatz dazu, was Befürworter des Nationalstaatsgesetzes von 2018 behaupten – das wesentliche Ziel des historischen Zionismus nicht notwendigerweise oder nicht immer ein exklusiv-jüdischer Staat war. Vielmehr forderten die zionistischen Denker ganz grundlegend die Schaffung und Bewahrung einer jüdischen nationalen Identität, die sich durch Sprache, Kultur und vor allem durch das Gefühl einer gemeinsamen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft definiert. Im Gegensatz zu dem Zionismus, wie er heute praktiziert wird, widerspricht diese historische Vision des Zionismus liberalen Grundwerten nicht.
Die überwiegende Mehrheit der israelischen Linken und der linken Mitte hat bisher die Zwei-Staaten-Lösung unterstützt und gefordert, dass ein unabhängiger palästinensischer Nationalstaat im Westjordanland und im Gazastreifen (oder gegebenenfalls in Teilen davon) geschaffen werden sollte. Diese Linken und Linksliberalen glauben, die Teilung Israels/Palästinas in zwei territoriale Nationalstaaten sei notwendig, um die jüdische Mehrheit in Israel zu bewahren.
Diese vermeintliche Lösung basiert in den meisten Fällen allerdings weiterhin auf der Idee, dass die jüdischen Bürgerinnen und Bürger in ihrem Staat politische Privilegien genießen sollten, die der palästinensischen Bevölkerung nicht zukämen. Anders ausgedrückt: Wenn die Mehrheit der Israelis über eine Zwei-Staaten-Lösung diskutiert, bleiben sie einer ethnonationalen Logik verhaftet. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass dies nicht der Fall sein muss: Die Vorstellung von zwei Staaten für zwei Völker bedeutet nicht unbedingt, dass ein mehrheitlich jüdischer Staat Israel weiterhin ethnonationalistisch sein muss. Man könnte sich problemlos eine liberal-demokratische Version Israels vorstellen, in der alle Bürgerinnen und Bürger, unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit oder Religion, die gleichen Rechte und Privilegien genießen.
»Nach einem Vorschlag soll der neu geschaffene Staat auch den palästinensischen Geflüchteten und ihren Nachkommen die Rückkehr nach Israel/Palästina ermöglichen.«
Da die Idee, den Konflikt durch eine territoriale Teilung zu lösen, inzwischen von vielen progressiv Denkenden desillusioniert verworfen wurde, sind mehrere neue, kreative Ideen entstanden. Eine dieser Initiativen, die von der jüdisch-palästinensischen Bürgerorganisation A Land For All vorgeschlagen wurde, befürwortet die Schaffung einer israelisch-palästinensischen Konföderation. Nach dem Vorschlag der Gruppe würde eine Grenze den israelischen und den palästinensischen Staat trennen, diese Grenze jedoch offen bleiben, sodass sowohl die jüdische als auch die nicht-jüdische Bevölkerung sie problemlos in beide Richtungen überqueren könnte. A Land for All argumentiert, dass Israel und Palästina darüber hinaus mehrere Institutionen gemeinsam unterhalten sollten, darunter auch die Sicherheitskräfte.
Ein radikalerer Vorschlag wird von der One Democratic State Campaign unterbreitet. Diese Bewegung möchte auf dem gesamten Gebiet zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan eine konstitutionelle Demokratie für beide Gruppen errichten. Alle Bürgerinnen und Bürger in diesem Staat hätten die gleichen individuellen Rechte und die Verfassung würde die kollektiven Rechte beider Nationalitäten schützen. Nach diesem Vorschlag sollte der neu geschaffene Staat auch den palästinensischen Geflüchteten und ihren Nachkommen die Rückkehr nach Israel/Palästina ermöglichen. Das israelische Rückkehrgesetz würde aufgehoben und alle Menschen, die einwandern wollen, ob jüdisch oder nicht, müssten die gleichen Verfahren zur Einbürgerung durchlaufen.
Die Gründung eines solchen Staates würde nicht das Ende des Zionismus bedeuten – jedenfalls nicht das Ende eines nicht-ethnonationalen, nicht-exklusivistischen Zionismus, wie ihn einige seiner einflussreichsten Theoretiker einst vorschlugen. Die 7,1 Millionen in Israel/Palästina lebenden Jüdinnen und Juden müssten im neuen Staat zwar ihren privilegierten Status aufgeben, besäßen aber weiterhin die gleichen individuellen und kollektiven Rechte innerhalb eines demokratischen Staates.
Natürlich ist es einfach und nur ein erster Schritt, sich eine andere Welt auszumalen. Damit diese oder andere Pläne verwirklicht werden können, müssen sie in der Bevölkerung Unterstützung finden, zunächst in der Linken und schließlich auch in anderen Teilen der israelischen Gesellschaft. In Anbetracht der aktuellen Lage scheint es sehr unwahrscheinlich, dass die Mehrheit der israelischen Jüdinnen und Juden eines dieser Programme akzeptieren könnte. Doch man muss gar nicht allzu weit in die Vergangenheit blicken, um zu erkennen, dass die aktuelle, von der religiös-zionistischen Hegemonie geprägte Lage für die meisten Israelis einst ebenso unvorstellbar war. Anders ausgedrückt: Die Dominanz des religiösen Zionismus war nicht unvermeidlich, sondern ist das Ergebnis einer erfolgreichen Kampagne der Bewegung für bestimmte Teile ihrer politischen Agenda gegenüber einer weitgehend säkularen jüdischen Bevölkerung.
Tatsächlich kann die israelische Linke eine Menge von diesem Erfolg lernen. Wenn sie versteht, wie der religiöse Zionismus den säkular-liberalen Zionismus verdrängen und zur hegemonialen israelischen Ideologie werden konnte, dann kann die israelische Linke vielleicht einige dieser Strategien übernehmen und mit ihrer Hilfe ihre eigene, demokratische und nicht-exklusivistische Vision in die Tat umsetzen.
Die religiös-zionistische Bewegung entstand im Europa des späten 19. Jahrhunderts als Reaktion auf den Widerstand der orthodoxen jüdischen Führer gegen den säkularen Zionismus. Zu dieser Zeit lehnte die Mehrheit der orthodoxen Rabbiner die zionistische Bewegung ab. Sie sahen Pläne für eine jüdische »Wiedererweckung« durch säkulare nationalistische Politik als eine verbotene Einmischung in den göttlichen Plan an. Um diese theologische Herausforderung zu überwinden, argumentierten die religiösen Zionisten unter der Führung des litauischen Rabbiners Isaak Jakob Reines, die zionistische Bewegung müsse angesichts des Antisemitismus, der im christlichen Europa zur Jahrhundertwende immer mehr um sich griff, als praktisch-pragmatische Lösung akzeptiert werden.
Reines’ pragmatischer Ansatz führte zu einer Zusammenarbeit zwischen religiösen Zionisten und Zionisten aus der Arbeiterbewegung. Letztere vertraten einen vom Sozialismus inspirierten linken Nationalismus und dominierten zu dieser Zeit die zionistische Bewegung. In den ersten Jahren des israelischen Staates nach 1948 versprachen die »Arbeiterzionisten« im Gegenzug für politische Unterstützung der religiös-zionistischen Bewegung, bestimmte religiöse Vorschriften im öffentlichen Raum durchzusetzen (beispielsweise die Einhaltung des Sabbats) sowie ein unabhängiges religiöses, aber öffentlich finanziertes Bildungssystem zu erlauben.
»Die religiös-zionistischen Siedlerinnen und Siedler konnten ihr politisch umstrittenes Programm erfolgreich propagieren, weil sie sich als die ›idealtypischen Zionisten‹ präsentierten.«
In den frühen 1960er Jahren begann eine Gruppe junger religiöser Zionistinnen und Zionisten, diese Vereinbarung infrage zu stellen. Einerseits ärgerten sie sich darüber, dass sie gegenüber säkularen Jüdinnen und Juden weiterhin eine marginale politische Position einnahmen und keinen bedeutenden Einfluss auf wichtige politische Entscheidungen ausüben konnten. Andererseits hatten sie das Gefühl, nicht-zionistische Ultraorthodoxe blickten auf sie herab, weil sie mit dem säkularen Staat zusammenarbeiteten.
Um ihr Dilemma zu lösen, wandten sich einige von ihnen der Theologie von Rabbi Abraham Isaak Kook und seinem Sohn Rabbi Zwi Jehuda Kook zu. Nach der Geschichtsauffassung der Kooks bildete die Gründung eines israelischen Staates einen wichtigen Schritt auf dem Weg zur göttlichen Erlösung. In den nationalen Angelegenheiten Israels mitzureden, sei demnach nicht nur ein pragmatischer, sondern auch ein prinzipientreuer Akt. Im Staat mitzuarbeiten, sei schließlich die einzige Möglichkeit, um sicherzustellen, dass die nationale Politik jenen religiösen Überlegungen unterworfen werde, die letztlich zur göttlichen Erlösung beitragen würden.
Diese abstrakten theologischen Debatten wurden nach dem Sechstagekrieg von 1967 politisch einflussreich. Während des Krieges eroberte Israel beträchtliche Gebiete von arabischen Staaten, darunter Ost-Jerusalem, das Westjordanland, den Gazastreifen, die Sinai-Halbinsel (die Israel im Rahmen des Friedensvertrags von 1979 an Ägypten zurückgab) und die Golanhöhen (die es 1981 einseitig annektierte). Während Israel fast unmittelbar nach 1967 ein erweitertes Ost-Jerusalem annektierte (ohne den dort lebenden Palästinenserinnen und Palästinensern volle politische Rechte zu gewähren), gab es in der israelischen Regierung und Öffentlichkeit keinen klaren Konsens darüber, wie man die Zukunft der anderen besetzten Gebiete angehen sollte.
In diesem Moment der Unklarheit und Verwirrung sprang die religiös-zionistische Bewegung in die Bresche. Nur drei Monate nach dem Ende des Krieges im Juni gründete eine Gruppe religiöser Zionistinnen und Zionisten Kfar Etzion, die erste jüdische Siedlung im Westjordanland nach 1967. Andere mieteten sich 1968 in Zimmer im Hebroner Park Hotel ein und weigerten sich, diese wieder zu verlassen. Im Laufe der Zeit gründeten sie eine formelle Siedlungsbewegung namens Gusch Emunim und verstärkten ihre Siedlungsbemühungen.
Dabei hatte die Siedlungsbewegung zunächst keinen guten Start: Sie erhielt wenig Unterstützung von der Regierung. Ihre Mitglieder lebten unter harten und oft gefährlichen Bedingungen. Trotz dieser Schwierigkeiten waren sie aber entschlossen, ihre Vision einer jüdischen Besiedlung der besetzten Gebiete zu verwirklichen. Sie hielten eisern an ihrem Projekt fest.
Das Blatt wendete sich, als Menachem Begin, ein Unterstützer der Siedlungsbewegung und Vorsitzender der säkularen, rechtsgerichteten Likud-Partei, 1977 Israels sechster Premierminister wurde. Begin bildete eine Koalition mit der religiös-zionistischen Partei Mafdal. Somit endete Mafdals traditionelle Zusammenarbeit mit der israelischen Arbeitspartei. Mit dem neuen Bündnis wurde die Siedlerbewegung Teil der Regierungskoalition und erhielt so mehr politischen Einfluss.
Es gibt verschiedene Gründe, warum Mafdal eingeladen wurde, Teil der Regierung zu werden. Der wohl wichtigste war die Tatsache, dass der Jom-Kippur-Krieg im Oktober 1973 Israel vollkommen überraschte und die israelische Gesellschaft traumatisierte. Während des Krieges musste Israel mehr als 2.600 Todesopfer verzeichnen und war auf umfangreiche US-Unterstützung angewiesen, um die Hauptkriegsgegner Ägypten und Syrien zu besiegen. Nach dem Krieg formierte sich in Israel eine Protestbewegung, die forderte, die Arbeitspartei müsse die Verantwortung für ihr Versagen im Krieg übernehmen. In dieser von Trauma und Verwirrung geprägten Atmosphäre tauchte die Siedlungsbewegung Gush Emunim mit einer klaren Botschaft und einem politischen Programm auf und konnte erstmals große Aufmerksamkeit erregen.
Eine klare Botschaft zu haben, reichte allerdings nicht aus. Die religiös-zionistischen Siedlerinnen und Siedler konnten ihr politisch umstrittenes Programm erfolgreich propagieren, weil sie sich als die »idealtypischen Zionisten« präsentierten. Ihre utopische Rhetorik, ihre junge, abenteuerlustig-kämpferische Ästhetik und vor allem ihr Engagement für die Besiedlung von Land erinnerten die Israelis an den Geist der viel gepriesenen zionistischen Pioniere des 20. Jahrhunderts. Diese waren schließlich das Sinnbild idealistischer Draufgänger, die sich in einer feindlich gesinnten, aber irgendwie doch rechtmäßig jüdischen Umgebung niederließen.
Viele rechtsgerichtete Israelis, die nach dem Trauma von 1973 nicht mehr weiter wussten, schlossen sich Gush Emunim an und verschlossen bereitwillig die Augen vor der Tatsache, dass das Siedlungsprojekt in Wirklichkeit eine neuartige religiös-messianische Interpretation des Zionismus vertrat, die in krassem Gegensatz zum säkularen Zionismus stand, der die israelische Politik seit der Staatsgründung 1948 dominiert hatte. Im Laufe der Zeit habt die religiös-zionistische Siedlerbewegung somit sowohl die physischen Realitäten Israels/Palästinas als auch die öffentliche Meinung zum Thema Siedlungsbau erfolgreich verändert. Heute unterstützt die Mehrheit der israelischen Jüdinnen und Juden vielleicht nicht alle Ausprägungen der religiösen Siedlerideologie, aber doch das Siedlungsprojekt im Westjordanland an sich.
»Die israelische Regierung begünstigt gegenwärtig die Siedlungstätigkeit, auch um interne wirtschaftliche Probleme zu adressieren.«
Nichts zeigt den Erfolg der Siedlerbewegung besser als die Zahlen: Im Jahr 1977, als Begin sie an der Regierung beteiligte, lebten etwa 5.000 Siedlerinnen und Siedler in 38 Siedlungen, die meisten von ihnen relativ nahe an den Grenzen Israels von 1967. Bis 1987 stieg diese Zahl auf über 60.000 Personen, die in 134 Siedlungen im Westjordanland und im Gazastreifen lebten. Heute existieren zwar keine israelischen Siedlungen im Gazastreifen und im nördlichen Sinai mehr; doch es gibt aktuell mehr als 450.000 jüdische Siedlerinnen und Siedler in über 220 Siedlungen und Außenposten im gesamten Westjordanland – nicht eingerechnet die über 200.000, die in den von Israel annektierten Vierteln Ostjerusalems wohnen.
Am bedeutsamsten ist dabei, dass die Siedlungen nicht mehr ausschließlich ein religiös-zionistisches Projekt sind: Religiöse Zionistinnen und Zionisten machen heute nur noch etwa ein Drittel der Siedlerbevölkerung aus. Die Mehrheit sind entweder säkulare Jüdinnen und Juden oder nicht-zionistische ultraorthodoxe Israelis, die durch niedrige Wohnkosten (die häufig vom Staat subventioniert werden) und das Versprechen einer besseren »Lebensqualität« angezogen wurden. Anders ausgedrückt: Die israelische Regierung begünstigt gegenwärtig die Siedlungstätigkeit, auch um interne wirtschaftliche Probleme zu adressieren.
Es gibt einige Parallelen zwischen dem politischen Stand des religiösen Zionismus in den 1960er Jahren und dem der heutigen israelischen Linken. Ähnlich wie dieser damals ist jene heute marginalisiert und versucht, politischen Einfluss in einem System zu gewinnen, das wenig Interesse an ihrer Meinung zu haben scheint. Tatsächlich sind wichtige israelische Institutionen, einschließlich des Militärs, der weiteren Sicherheitskräfte, der staatlichen Behörden und sogar der Medien – die früher alle von der Linken oder zumindest der linksliberalen Mitte dominiert waren – zunehmend mit Vertreterinnen und Vertretern des religiösen Zionismus besetzt.
Trotz vieler Versuche ist es der Linken zuletzt nicht gelungen, ihre Position in der israelischen Gesellschaft zu verbessern. Deshalb – und bevor es zu spät ist – muss sie ihre Strategie für einen politischen Wandel überdenken. Ein wichtiger Schritt in diesem Prozess wäre es, Lehren aus dem Erfolg des religiösen Zionismus zu ziehen. Im Folgenden einige Vorschläge, wie dies gelingen kann.
Erstens: gemeinsam hinter einem durchdachten Plan stehen. Die religiös-zionistische Bewegung wusste genau, was sie wollte: die Ansiedlung von Jüdinnen und Juden im gesamten »Land Israel«. Was will die israelische Linke? Wenn die Linke eine Zukunft hierzulande haben soll, muss sie diese Frage klären und die Antwort klar artikulieren. Vage Hinweise auf eine immer schwerer vorstellbare Zweistaatenlösung, die selbst, wie beschrieben, nicht unbedingt mit liberal-demokratischen Werten übereinstimmt, reichen nicht aus.
»Im Gegensatz zu westlichen Staaten wie den USA, wo die Mehrheit der Millennials und der Generation Z progressive Politik unterstützt, ist die Situation in Israel genau umgekehrt.«
Andere Optionen, wie eine jüdisch-palästinensische Konföderation oder der One Democratic State, werden innerhalb der israelischen Linken ständig diskutiert. Doch diese Diskussionen sind oft erbittert und führen nur zu politischen Spaltungen. Die Linke muss nun anerkennen, dass keine Zeit mehr für solche Debatten ist. Jede der genannten Optionen ist dem derzeitigen Stand der Dinge vorzuziehen. Wenn die Linke wieder politischen Einfluss gewinnen will, muss sie sich zunächst hinter einem umfassenden Plan vereinen, wie die Besatzung zu beenden ist.
Zweitens: hartnäckig bleiben. In der mehr als fünfzigjährigen Geschichte der israelischen Siedlungsbewegung in den besetzten Gebieten hat sie mehrere große Rückschläge hinnehmen müssen. Die ersten Versuche, im Westjordanland zu siedeln, wurden von der israelischen Linksregierung gestoppt. 1982 wurden Mitglieder der Bewegung im Rahmen des ägyptisch-israelischen Friedensvertrags gezwungen, achtzehn Siedlungen auf der Sinai-Halbinsel zu räumen. In den 1990er Jahren übertrug Israel im Rahmen des Osloer Abkommens die administrative Kontrolle über Teile des Westjordanlands und des Gazastreifens an die Palästinensische Autonomiebehörde. Im Zuge dessen evakuierte die israelische Regierung im Jahr 2005 über 8.000 Siedlerinnen und Siedler, die 21 Siedlungen im Gazastreifen und vier im nördlichen Westjordanland bewohnten. Die religiös-zionistische Bewegung protestierte lautstark, aber erfolglos gegen diese Räumungen.
Aus Sicht der Siedlerbewegung war jeder einzelne dieser Rückschläge zwar niederschmetternd, aber sie verzweifelte nicht und verstärkte sogar ihre Bemühungen, wo immer es möglich war. Im Gegensatz dazu scheinen viele israelische Linke heute die Hoffnung zu verlieren, dass sich der Status quo in den besetzten Gebieten und in Israel selbst ändern lässt. Einige haben sich auf andere politische Themen verlagert, andere haben die Politik ganz aufgegeben, und wieder andere haben Israel sogar verlassen. Um ihren Platz im politischen System Israels zurückzuerobern, muss die Linke anerkennen, dass sie sich in einem langen – vielleicht jahrzehntelangen – Kampf befindet, dem sie verpflichtet bleiben und den sie konsequent ausfechten muss.
Drittens: die breitere israelische Gesellschaft einbeziehen. Dies ist vielleicht die wichtigste Lehre, die man aus dem Erfolg des religiösen Zionismus ziehen kann. Obwohl sie religiös motiviert war, gelang es der Bewegung, säkulare Israelis anzusprechen, indem sie sich als die Fortführung der Mission der ursprünglichen zionistischen Pioniere darstellte. Außerdem konnten die Siedlerinnen und Siedler andere Israelis davon überzeugen, dass ihr Verhalten zur Sicherheit Israels beiträgt. Dies wiederum veranlasste viele Staatsbeamte, bei den illegalen Aktivitäten der Bewegung hin und wieder ein Auge zuzudrücken.
Klar ist: Ohne die implizite Unterstützung der säkularen Israelis wäre das Siedlungsprojekt nicht erfolgreich gewesen. In ähnlicher Weise muss die israelische Linke an die gemeinsamen (und etwas in Vergessenheit geratenen) säkularen zionistischen Werte der sozialen Gerechtigkeit und Selbstbestimmung appellieren. Dies ist ein wichtiges Mittel, um eine breitere Unterstützung für die Linke in Israel aufzubauen. Insbesondere muss die Linke betonen, dass ihr Kampf liberalen, demokratischen, säkularen, nicht-ethnonationalistischen und nicht-exklusivistischen Werten entspricht.
Der zionistische Intellektuelle Achad Ha’am sagte einst (zitiert nach Dmitry Shumskys Beyond the Nation-State): »Das historische Recht eines Volkes auf ein von anderen Menschen besiedeltes Land bezieht sich auf einzig und allein eines: das Recht, in das Land seiner Väter zurückzukehren und sich dort niederzulassen, ungestört zu arbeiten und seine Reichtümer zu erschließen. [...] Dieses historische Recht hebt jedoch nicht das Recht der übrigen Bewohner des Landes auf, die ihre Ansprüche aufgrund des konkreten Rechts geltend machen, das sich daraus ergibt, dass sie seit Generationen auf und in diesem Land arbeiten und wohnen. Dieses Land ist gegenwärtig auch ihre nationale Heimat, und sie haben ebenfalls ein Recht darauf, ihre nationalen Reichtümer nach besten Kräften zu fördern und zu entwickeln. Diese Ausgangslage macht Palästina zu einer gemeinsamen Heimat für verschiedene Nationen, von denen jede versucht, ihre eigene nationale Heimat aufzubauen.«
Die israelische Linke hat viele gute Gründe, pessimistisch zu sein. Die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung Israels lehnt einen territorialen Kompromiss mit den Palästinenserinnen und Palästinensern ab. Im Gegensatz zu westlichen Staaten wie den USA, wo die Mehrheit der Millennials und der Generation Z progressive Politik unterstützt, ist die Situation in Israel genau umgekehrt. Darüber hinaus haben rechtsgerichtete religiöse Jüdinnen und Juden in der Regel mehr Kinder als säkulare Israelis, und Studien zeigen, dass viele, die in religiösen Familien geboren wurden, im Laufe der Zeit zwar weniger religiös werden, ihre rechtsgerichteten politischen Ansichten aber dennoch beibehalten. Dies ist in der Tat eine große Herausforderung.
Doch Demografie ist nicht gleich Schicksal: Die religiös-zionistische Bewegung ist nicht aufgrund von Geburtenraten so mächtig geworden, sondern weil sie andere Israelis von der Richtigkeit und Notwendigkeit ihrer Sache überzeugt hat. Es ist an der Zeit, dass die israelische Linke aufhört zu jammern und anfängt zu arbeiten. Einen linken Wandel herbeizuführen, ist ein langer Prozess. Dafür braucht es ein kohärentes politisches Programm, Widerstandsfähigkeit und die Bereitschaft, sich mit der breiten Öffentlichkeit auseinanderzusetzen. Nur durch diesen Kampf können wir die Welt erschaffen, die wir uns wünschen: Eine Welt, in der Israelis und Palästinenser gleichermaßen ein erfülltes Leben führen können – als gleichberechtigte Menschen.
Hayim Katsman war ein israelischer Aktivist und Wissenschaftler.