17. Mai 2021
Ein weiterer Gaza-Krieg droht. Die Aufrufe gegen die Besatzung und für einen gerechten Frieden sind nun dringender denn je.
Rauchschwaden nach israelischen Luftangriffen auf Gaza am 16. Mai 2021.
Seit einigen Wochen eskaliert die Lage in Israel und Palästina. Weltweite Beachtung findet die Situation allerdings erst seitdem die Hamas Israel mit Raketen angreift und die israelische Armee wieder Gaza bombardiert. Ursache der aktuellen Eskalation war die Zwangsräumung mehrerer palästinensischer Häuser im Ostjerusalemer Viertel Sheikh Jarrah.
Die Räumung von Häusern, in denen Palästinenserinnen und Palästinenser wohnen, ist nichts Ungewöhnliches, insbesondere in Ostjerusalem und dem Westjordanland. Die Räumung in Sheikh Jarrah folgte jedoch einem Gerichtsurteil, welches sich auf die Eigentumsverhältnisse der Grundstücke vor dem Jahr 1948 beruft. Die Grundstücke waren vor der Staatsgründung Israels im Besitz von jüdischen Familien, die gemeinsam mit ihren palästinensischen Nachbarn unter der Kontrolle der britischen Kolonialmacht lebten.
Mit der Staatsgründung Israels 1948, die mit der »Nakba« – der Vertreibung von mehr als 700.000 Palästinenserinnen und Palästinensern –, der Zerstörung von 531 palästinensischen Dörfern und der Entvölkerung von elf palästinensischen Stadtteilen in verschiedenen größeren Städte einherging, besetzte das Königreich Jordanien Ostjerusalem und das Westjordanland. Die dort lebenden Jüdinnen und Juden wurde vertrieben oder ihr Besitz in Beschlag genommen. Diesen Besitz forderten Nachfahren zurück und bekamen recht. Dieses Recht steht jedoch den 700.000 vertriebenen Palästinenserinnen und Palästinensern, die Wohnungen und Häuser in Israel besaßen, nicht zu.
Die anhaltenden Proteste entzündeten sich an dieser Ungerechtigkeit, die von palästinensischen Journalistinnen und politischen Analysten deutlich benannt wurde. Auch in Aufrufen zu Protesten in den sozialen Medien fanden sich Formulierungen wie: »Behaltet die Häuser in Sheikh Jarrah und gebt uns unsere zurück.«
Die angekündigte Räumung in Sheikh Jarrah und die Proteste dagegen, gingen mit der Blockade des Damaskustors in Jerusalem durch israelische Polizisten einher. An diesem Ort treffen sich gläubige Muslime während des Ramadans zum gemeinsamen Fastenbrechen. Infolge der daraufhin aufflammenden Proteste, kam es in den palästinensischen Stadtvierteln Jerusalems vermehrt zu Aufmärschen von rechten Siedlerorganisationen und -strukturen aus dem Umfeld der israelischen rechtsaußen Partei »Religiöse Zionisten«. Diese Demonstrationen wurden von israelischen Politikern unterstützt, die selbst mit Morddrohungen gegen palästinensische Aktivisten auffielen.
Am letzten Freitag des Ramadans, dem 7. Mai, eskalierte die Stimmung in Jerusalem vollends. Während sich Gläubige zum Beten in der drittwichtigsten Moschee des Islams, der Al-Aqsa-Moschee einfanden, protestierten jugendliche Palästinenser und rechte Israelis in Jerusalem. Auf die aufgeheizten Proteste der palästinensischen Jugend reagierten israelische Sicherheitskräfte mit Blendgranaten und Schlagstöcken, etliche Protestierende zogen sich daraufhin in die Al-Aqsa-Moschee zurück.
Die Moschee – bis dahin ein Ort, den die israelische Armee und Polizei nur sehr zögerlich betrat – wurde unter dem Einsatz von Tränengas- und Blendgranaten gestürmt. Die Bilder von schwer bewaffneten Einheiten der israelischen Polizei, die unter Gewalt in die Al-Aqsa-Moschee eindrangen und Betende vor sich hertrieben, gingen um die Welt, während die Zahl der Verletzten in Jerusalem weiter anstieg.
Diese Situation nutzte die innenpolitisch immer stärker unter Druck stehende reaktionäre Hamas, um Israel ein Ultimatum zu stellen: Wenn Israel die Räumungen und die Gewalt bis zum darauffolgenden Montag nicht beenden würde, dann würden von Gaza Raketenangriffe folgen. Wie zu erwarten war, ließ die israelische Regierung von Nethanjahu – die ebenfalls unter Druck steht, da ihr infolge der israelischen Neuwahlen die Parlamentsmehrheit fehlt – das Ultimatum verstreichen. An eben jenem Montag wurde auch der Jerusalem-Tag gefeiert – ein Feiertag, der von der israelischen Rechten immer wieder genutzt wird, um ihre Fantasien eines großisraelischen Staats zu verkünden.
Während der israelische Inlandsgeheimdienst aufgrund der Lage von Protesten abriet, versammelten sich kahanistische Organisationen in Jerusalem. Diese sind Anhänger der Ideen Meir Kahanes, der sowohl ein Verbot von Ehen zwischen Juden und Menschen anderer Religionszugehörigkeit fordert, wie auch die Vertreibung aller Nicht-Juden aus Israel und Palästina. Die rechten Organisationen zogen unter Slogans wie »Ostjerusalem ist erst der Anfang« oder »Tod den Arabern« durch die Straßen der Stadt. Ihr Aufmarsch endete unterhalb der Al-Aqsa-Moschee, wo sie zu Rechtsrock feierten, während über ihnen ein Baum der Moschee brannte.
In Israel platzten daraufhin Regierungsgespräche, die zu einer breiten Anti-Nethanjahu-Koalition hätten führen sollen, da die islamisch-konservative Raam (islamische Partei) ein Ende der Räumungen und der Gewalt forderte, während die Partei Jamina (die Rechte) das Agieren der rechten Jugendlichen unterstützte.
Während sich in Israel die innenpolitische Situation zuspitzte, setzte die Hamas, getrieben durch den vom Iran hochgerüsteten Islamischen Dschihad, ihr »Ultimatum« um und griff Israel am Montagabend, den 10. Mai, mit Hunderten Raketen an. Die Raketenangriffe, von deren Ausmaß auch das israelische Militär überrascht war, wurden größtenteils vom israelischen Schutzschild »Iron Dome« abgefangen. Die israelische Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Schon in der Nacht folgten ebenfalls massive Angriffe auf Gaza, die allein am ersten Tag mehr als 20 Tote forderten.
In den folgenden Tagen setzte sich die beidseitige Gewalt fort. Der Tod von Zivilisten und die Zerstörung von Wohnraum wurde dabei sowohl von der Hamas und dem Dschihad, wie auch von der israelischen Regierung billigend in Kauf genommen. Die Hamas, die ihre Angriffe mit dem vermeintlichen Schutz Jerusalems begründete, griff sogar Jerusalem selbst an. Dabei wurden auch Tote in Gaza hingenommen, die ums Leben kamen, wenn die eigenen Raketen vor Ort explodierten.
Die israelische Staatsführung, die ihre Bomben auf Gaza mit dem Kampf gegen die Hamas begründete, nahm ihrerseits in Kauf, dass Kinder und Frauen durch ihre Bomben starben und zerstörte sogar ein Gebäude, in dem mehrere ausländische Presseorganisationen untergebracht sind. Die Haltung der Regierung wurde durch den Verteidigungsminister Gantz auf den Punkt gebracht, der erklärte »Gaza wird brennen«. Während beide Seiten behaupten, hehre Ziele zu verfolgen, lebt die Zivilbevölkerung in Gaza, in Tel Aviv, in Khan Yunis wie auch in Sderot in Angst.
Die Folge des Krieges sind nicht »nur« Verletzte und Tote auf beiden Seiten. Der Konflikt könnte auch Nethanjahu eine neue Mehrheit sichern, da Bennetts Partei Jamina die Koalitionsverhandlungen im Streit um die Gewalt in Israel endgültig abbrach. Letztere ist dabei die deutlichste Veränderung zu den sich wiederholenden, blutigen Gaza-Kriegen.
Die israelische und palästinensische Friedensbewegung demonstrierte wie gewohnt für Frieden und die Palästinenserinnen und Palästinenser in Israel gingen für ein Ende des Krieges und in Solidarität mit Gaza auf die Straße. Doch während bei früheren Protesten die israelische Rechte Demonstrationen zur »Unterstützung der israelischen Armee« oder Besuche zu Aussichtspunkten organisierte, um sich die Bombardierungen anzuschauen, fokussiert sie sich nun auf gewalttätige Aufmärsche in Israels Städten – eine Strategie, die aufzugehen scheint und zu Gewalt von beiden Seiten führt.
In Lod schossen israelische Rechte in eine palästinensische Demo und töteten eine Person, mehrere wurden verletzt. Die Täter wurden zwar verhaftet, dies erzürnte jedoch die Regierung und insbesondere den Minister für Innere Sicherheit, der ihre umgehende Freilassung forderte. Auf die Gedenkdemonstration für den ermordeten israelischen Palästinenser folgte eine erneute Eskalation und die Demonstrierenden zündeten voller Hass eine Synagoge an. Israelische Rechte forderten einen Tag lang Revanche, griffen eine Moschee an und zerstörten mehrere Fensterscheiben.
Die israelische Rechte und auch palästinensische Organisationen rufen in Israel zu Protesten auf. Insbesondere die israelische Rechte stellt dabei bewusst auch die Zerstörung palästinensischer Geschäften und Angriffe auf Palästinenser als akzeptabel dar. Dieser Auffassung sind in Teilen auch palästinensische Jugendliche, die jüdisch-israelische Geschäfte und Personen angreifen. Im Vergleich zu ihnen wird die israelische Rechte von der Polizei für ihr Vorgehen meist jedoch nicht festgenommen. Die Angriffe gingen in Bat-Yam so weit, dass ein arabisch-jüdischer Israeli, der von rechten Israelis für einen Palästinenser gehalten wurde, aus seinem Auto gezogen und mit Israelfahnen krankenhausreif geschlagen wurde.
Die direkten Folgen dieser Entwicklung sind bürgerkriegsähnliche Zustände in Israel und die Verhängung des Ausnahmezustands über palästinensische Städte in Israel. Die langfristigen Folgen sind noch nicht abzusehen. Doch schon jetzt wird deutlich, dass die israelische Rechte immer mehr versucht, in Israel lebende Palästinenserinnen und Palästinenser als Feinde zu brandmarken und dabei Gewalt als Mittel einsetzt – eine Taktik, die auch von einigen palästinensischen Strukturen angewendet wird. Das ohnehin schon gestörte Zusammenleben in Israel wird damit umso mehr auf den Prüfstand gestellt.
Die Proteste von jüdischen und palästinensischen Israelis gegen den Krieg und die Gewalt in Israel, die Aufrufe von linken und linkssozialdemokratischen Politikerinnen und Politikern, sich diesen Protesten anzuschließen sowie ihre Forderungen, den Krieg zu beenden, einen gerechten Frieden zu erzielen und ein gleichberechtigtes Zusammenleben in Israel zu ermöglichen, sind die einzigen Hoffnungsschimmer in der aktuellen Situation. Dafür bedarf es allerdings einer Vitalisierung der israelischen Friedensbewegung, die in den letzten Jahren immer stärker unter Druck geraten ist. Die israelische Linke steht im Angesicht dieser Situation vor der Aufgabe, eine klare Linie zu finden, sowohl gegen den aktuellen Krieg, wie auch gegen den Siedlungsbau und die immer stärkere Diskriminierung von Palästinenserinnen und Palästinensern in Israel.
Die palästinensische Linke muss dagegen endlich erkennen, dass es einen dritten Block braucht, der sich sowohl gegen die Korruption der Fatah stellt, wie auch gegen die reaktionäre Politik der Hamas. Gleichzeitig sollte sie am Aufbau von friedlichen Proteststrukturen gegen Siedlungsbau und Zwangsräumungen weiter festhalten. Ob dies in der aktuellen Situation Erfolg hat, ist zweifelhaft. Dringend notwendig wäre es umso mehr.
Die deutsche Linke dagegen muss ihre Zuschauerrolle und ihre internen Streitigkeiten ad acta legen und die Verbindungen zu der israelischen und palästinensischen Linken und Friedensbewegung stärken. Es ist an der Zeit, deren Debatten nach Deutschland zu bringen und dafür zu sorgen, dass auch hier gemeinsam mit israelischen und palästinensischen Linken Proteste organisiert werden, die sich gegen Krieg, Besatzung, Antisemitismus und Rassismus stellen.
Jules El-Khatib ist stellvertretender Landessprecher der LINKEN in Nordrhein-Westfalen und Autor bei »Die Freiheitsliebe«.
Jules El-Khatib ist Hochschuldozent und freier Autor zum Nahostkonflikt mit palästinensischen und deutschen Wurzeln.