03. November 2023
In Israel erreicht die Repression gegen Solidaritätsbekundungen mit der palästinensischen Bevölkerung einen neuen Höchststand. Zahlreiche Menschen werden belästigt, angegriffen, entlassen oder inhaftiert, weil sie es wagen, den Kurs der Regierung zu kritisieren.
Ein israelischer Grenzpolizist schubst einen Palästinenser in der Nähe eines Terroranschlags in Ostjerusalem, 30. Oktober 2023.
Seit Beginn des Krieges in Gaza hat die israelische Regierung ihr Vorgehen gegen abweichende Meinungen im Land erheblich verschärft. Aktivistinnen, Akademiker, gewöhnliche Bürgerinnen und Bürger sind Opfer von Doxxing, Kündigungen, Bedrohungen und Verhaftungen geworden. Besonders betroffen sind Angehörige der palästinensischen Minderheit in Israel.
Repressionen sind in Kriegszeiten nicht ungewöhnlich, aber die Situation in Israel mit ihrer ohnehin schon autoritären Regierung und ihrem rechtsradikalen Personal wie Polizeiminister Itamar Ben-Gvir sowie die riesige Trauer nach den Anschlägen vom 7. Oktober in der gesamten Bevölkerung haben den Boden für ein besonders hartes Vorgehen gegen Andersdenkende bereitet.
Ähnlich wie einige westliche Staaten gegen palästinensische Proteste vorgehen, verbietet die israelische Polizei praktisch jeden Ausdruck von Solidarität. Nach der gewaltsamen Auflösung von propalästinensischen Demonstrationen in Haifa und Umm al-Fahm erklärte der zuständige Polizeipräsident, dass »diejenigen, die sich mit Gaza identifizieren, gerne in Bussen dorthin gebracht werden können«. Mehrere Personen, die lediglich passiv an den Veranstaltungen teilnahmen, darunter Minderjährige und ein Journalist, wurden tagelang in Gewahrsam genommen.
Doch das Solidaritätsverbot geht weiter als Angriffe gegen die Versammlungsfreiheit bei Demonstrationen. Eine Konferenz jüdischer und arabischer Aktivisten, die vom High Follow-Up Committee for Arab Affairs organisiert worden war, wurde von der Polizei verhindert. Berichten zufolge hatten die Behörden dem Eigentümer des Veranstaltungsortes im Vorfeld gedroht, ihm werde Betriebsverbot erteilt, wenn er den Veranstaltern nicht absagt. »Seit dem 7. Oktober befinden wir uns in einem eindeutigen und unmittelbaren Demokratienotstand«, kritisierte der ehemalige Knessetsprecher Avraham Burg in einer Rede nach der Absage der Konferenz (deren Co-Vorsitzender er hatte sein sollen).
»Wenn sogar Mitglieder der Knesset wegen ›Schädigung des öffentlichen Interesses‹ zensiert werden, ist es für Aktivistinnen und Aktivisten schlicht unmöglich, ohne die Gefahr harscher Konsequenzen zu handeln.«
Die Polizei ist mit ihren Bemühungen, israelische Solidarität mit den Palästinenserinnen und Palästinensern zu unterdrücken, allerdings nicht allein. Hunderte rechte Demonstranten tauchten Mitte Oktober vor dem Haus des ultraorthodoxen Journalisten Israel Frey in Bnei Brak auf, nachdem dieser am Vortag ein Gebet für getötete israelische und palästinensische Kinder gehalten hatte. Randalierer wurden dabei gefilmt, wie sie Feuerwerkskörper auf seine Wohnung abfeuerten. Nachdem die Polizei Frey und seine Familie aus der Wohnung gebracht hatte, ließ sie ihn sich selbst überlassen, während der Mob immer noch tobte. Er floh in ein Krankenhaus, wo die Rechtsextremen ebenfalls nach ihm suchten. Erst am frühen Morgen gelang es ihm schließlich, eine sichere Zuflucht zu finden. Seitdem hält er sich versteckt.
Im Gegensatz zur Straffreiheit, die die Polizei dem rechtsextremen Mob gewährt, müssen linke Aktivistinnen und Aktivisten mit Ingewahrsamnahmen und Verhaftungen wegen weitaus harmloseren Aktionen rechnen: In Jerusalem wurden zwei Aktivisten der Bewegung Omdim Beyachad festgenommen, als sie Plakate aufhängten, auf denen auf Arabisch und auf Hebräisch zu lesen war: »Wir werden das gemeinsam durchstehen«. Die Polizei beschlagnahmte nicht nur die Plakate, sondern auch die bedruckten T-Shirts der beiden. Ähnlich erging es einem jungen Mann, dessen Wohnung ohne Durchsuchungsbefehl gestürmt wurde und den die Polizei danach stundenlang verhörte. Sein »Verbrechen«: Er hatte ein Transparent über seinem Balkon aufgehängt, auf dem stand: »Es gibt keine Heiligen in einer besetzten Stadt«. Tatsächlich hing das Transparent schon lange vor Beginn des Krieges.
Zwei Wochen nach seiner Teilnahme an dem Solidaritätsprotest in Haifa verhaftete die Polizei den Aktivisten und Blogger Yoav Haifawi. Sie durchsuchten sein Haus und konfiszierten alles vermeintlich politische Material, das sie finden konnten – von Flaggen, Postern und Fotos bis hin zu den Gemälden, die seine Frau gemalt hatte. Seit seiner Freilassung wurden all diese Gegenstände bisher nicht zurückgegeben.
Haifawi beschreibt seine Verhaftung als rein politisch motiviert. »[Die Polizei] will sich nun einmal an den Kriegsanstrengungen beteiligen«, erklärte er in einem Interview. »In Haifa gibt es dafür nicht viele lohnenswerte Möglichkeiten und Ziele, also haben sie das ihrer Meinung nach geeignetste Ziel für einen Angriff gesucht.«
Polizeiminister Ben-Gvir brüstete sich auf Social Media mit Haifawis Verhaftung und beschuldigte nach dessen Freilassung den vorsitzenden Richter, der zufällig Araber ist, ein »Feind im Inneren« zu sein.
Haifawi, der im Laufe seines Lebens viele Male verhaftet wurde, betonte ebenfalls, Israels aktuelle autoritäre Tendenzen seien tief verwurzelt, doch mit Ausbruch des Krieges sei das Ausmaß der Repression deutlich größer geworden: »Die Proteste waren schon zuvor angespannt, aber die Behörden haben uns [vor dem 7. Oktober] nicht daran gehindert, zu demonstrieren.« Nun habe die Polizei hingegen deutlich gemacht, »dass sie keine derartigen Demonstrationen mehr zulassen wird«.
Am Tag der Hamas-Angriffe wurde der palästinensische Menschenrechtsaktivist Issa Amro von Siedlern und Soldaten aus seinem Haus in Hebron geholt und über zehn Stunden lang festgehalten. Er wurde in Handschellen gelegt, erniedrigt und attackiert. Zwei Wochen später warfen ihn Soldaten aus seiner Wohnung, weil er Gäste – den Gründer von Breaking the Silence, Yehuda Shaul, und einen ausländischen Journalisten – empfangen hatte, was ihm in der Woche zuvor untersagt worden war.
Im C-Gebiet des Westjordanlands werden immer wieder israelische Aktivistinnen und Aktivisten, die sich gegen die Besetzung einsetzen und betroffenen Palästinensern helfen wollen, angegriffen. Gleichzeitig sind viele palästinensische Menschen weiterhin Opfer von Vertreibungen durch gewalttätige Siedler, die von den israelischen Verteidigungskräften unterstützt werden. In der inzwischen verlassenen Gemeinde Wadi al-Sik hielten Siedler palästinensische Bewohnerinnen und Bewohner mit vorgehaltener Waffe fest und folterten sie stundenlang – während Soldaten gemeinsam mit den Siedlern jüdische Aktivisten vor Ort verprügelten, beraubten und verhafteten. Nach Ende des Gewaltexzesses konfiszierten die Beamten Handys und löschten alle Medieninhalte, um jede Spur des Vorfalls zu beseitigen. Im Dorf At-Tuwani in Masafer Yatta wurden Aktivistinnen und Aktivisten beschossen und mit vorgehaltener Waffe vertrieben, als sie Siedler dabei filmten, wie diese einen von Palästinensern angelegten Garten zerstörten.
Die größte Zielgruppe der aktuellen Repressionswelle sind allerdings palästinensische Bürgerinnen und Bürger Israels. Bereits am 16. Oktober wurden mehr als 100 Personen verhaftet oder zu Ermittlungen wegen Social-Media-Posts vorgeladen, darunter Schauspieler, Sängerinnen und Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Während der Vorwurf lautete, mit den Posts seien die Angriffe der Hamas befürwortet worden, zeigte sich, dass die Menschen in Wirklichkeit lediglich Solidarität mit der palästinensischen Zivilbevölkerung äußerten, sich gegen den Krieg aussprachen, religiöse Texte rezitierten oder schlicht den aktuellen Stand des Krieges analysierten.
»In dieser düsteren Zeit sollten Unterstützer in anderen Teilen der Welt diese Entwicklungen genau beobachten und sich mit denjenigen vor Ort solidarisieren, die sich trotz der Razzien engagieren und auflehnen.«
Die Repression zeigt sich außerdem im Bildungsbereich. Sharaf Hassan, Vorsitzender des Follow-Up Committee for Arab Education, beschreibt eine systematische Kampagne rechter Organisationen – die von Studentenverbänden unterstützt und von Bildungseinrichtungen gebilligt wird – zur Durchsuchung von Posts arabischstämmiger Studierender, Lehrer und Professorinnen auf den Plattformen. Diese Online-Durchsuchungen reichen bis zu einem Jahrzehnt zurück; man wolle offensichtlich jedes noch so kleine Detail finden, in dem die israelische Besatzung kritisiert, der Krieg abgelehnt oder eine palästinensische Flagge geschwenkt wird, so Hassan.
»Die große Mehrheit dieser Beiträge verstößt gegen keinerlei Gesetz. Hier wird vielmehr versucht, die aktuelle Kriegsstimmung, den zunehmenden Nationalismus und Rassismus auszunutzen, um gegen eine nationale Minderheit zu hetzen«, sagt er. Seine Organisation habe hunderte Anfragen von Studierenden erhalten, gegen die Disziplinarmaßnahmen verhängt wurden, sowie von Lehrerinnen und Professoren, die entlassen wurden, denen die Lehrbefugnis entzogen wurde oder denen sogar eine Verhaftung droht. Linke jüdische Lehrkräfte berichten von ähnlichen Erfahrungen. »Um es amerikanisch auszudrücken: das ist purer McCarthyismus«, so Hassan.
Derweil denkt die israelische Regierung offen über neue Gesetze und Verordnungen nach, die noch weitergehen würden. Zu den möglichen Änderungen gehören Gefängnisstrafen für den »exzessiven Konsum terroristischer Medien«; ein Verbot ausländischer Medien und das Ignorieren von Anträgen auf Informationsfreiheit während der Dauer des Krieges; der Versuch, denjenigen die Staatsbürgerschaft zu entziehen, die der Unterstützung von Terrorismus beschuldigt werden; und ein vorerst auf Eis gelegter Vorschlag, der den Einsatz von scharfen Waffengegen Demonstrierende, die während der Kriegszeit Straßen blockieren, legalisieren würde. Die Polizeibehörden haben darüber hinaus versucht, jedwede politische Demonstration zu verbieten, mussten aber letztendlich einen Rückzieher machen.
Wenn sogar Mitglieder der Knesset (die Immunität genießen) wegen »Schädigung des öffentlichen Interesses« zensiert werden, ist es für Aktivistinnen und Aktivisten schlicht unmöglich, ohne die Gefahr harscher Konsequenzen zu handeln. In dieser düsteren Zeit sollten Unterstützer in anderen Teilen der Welt diese Entwicklungen genau beobachten und sich mit denjenigen vor Ort solidarisieren, die sich trotz der Razzien engagieren und auflehnen. Eine solche Solidarität würde uns zeigen, dass wir nicht allein sind.