10. Juli 2024
Wer Israels Vorgehen in Gaza als Genozid einstuft, verbreitet kein antisemitisches Narrativ, sondern stellt sich der Realität – das argumentiert der renommierte israelische Holocaust-Forscher Amos Goldberg. Wie er zu dieser Folgerung kommt und warum Deutschland die falschen Lehren aus seiner Geschichte zieht, erklärt er im Gespräch mit JACOBIN.
Khan Younis Town im südlichen Gazastreifen, 17. Juni 2024.
Seit dem Angriff der Hamas auf den Süden Israels am 7. Oktober 2023, bei dem über 1.000 Israelis ermordet und Hunderte Geiseln gefangen genommen wurden, tobt im Gazastreifen ein Krieg, der eine bisher ungekannte Eskalation des Nahost-Konflikts darstellt. Mit dem Auftrag, die Hamas physisch zu zerstören, haben die israelischen Streitkräfte große Teile des Landstrichs in Schutt und Asche gelegt. Zehntausende Menschen, darunter viele Kinder und Zivilisten, wurden getötet. Bisher ist kein Ende des Krieges in Sicht, doch auch wenn er morgen vorüber wäre, befürchten Expertinnen und Experten, dass Gaza jahrzehntelang unbewohnbar sein könnte.
Diese neue Stufe der Eskalation und das Ausmaß der Zerstörung in Gaza haben weltweit eine Debatte darüber entfacht, ob Israels Vorgehen als Völkermord einzustufen ist. Die Anklage Südafrikas vor dem Internationalen Gerichtshof, der sich mittlerweile weitere Länder wie Spanien, Belgien und Mexiko angeschlossen haben, erhebt diesen Vorwurf. Unter Fachexperten bleibt die Frage umstritten, doch immer mehr von ihnen schließen sich dem Urteil an, dass eine solche Einschätzung zumindest plausibel sei. In Israel selbst steht die Mehrheit der Bevölkerung wiederum geschlossen hinter ihrer Armee, auch nach neun Monaten Krieg.
Der Historiker und Holocaust-Forscher Amos Goldberg, der am Institut für jüdische Geschichte und zeitgenössisches Judentum an der Hebräischen Universität Jerusalem lehrt, ist einer der wenigen, die innerhalb der israelischen Debatte eine Gegenposition beziehen. Im April erschien in der hebräischsprachigen Zeitschrift Sikha Mekomit (»Ortsgespräch«) ein Artikel von ihm, in dem er resümiert, dass Israels Vorgehen in Gaza genozidal sei. Der Beitrag wurde ins Englische übertragen und kontrovers diskutiert. Im Gespräch mit JACOBIN spricht Professor Goldberg über seine Position zum anhaltenden Krieg, zur Lage im Westjordanland und der Zukunft Israel-Palästinas.
Vor einigen Wochen bezeichneten Sie Israels Vorgehen in Gaza als Genozid an der dort lebenden palästinensischen Bevölkerung. Können Sie erläutern, wie Sie Genozid definieren und warum es Ihrer Meinung nach wichtig ist, diesen Begriff zu verwenden, um zu beschreiben, was in Gaza geschieht?
Ich habe in meinen Artikel geschrieben: »Ja, es ist ein Völkermord«. Ich bin mir bewusst, dass es sich hierbei um einen schwerwiegenden Vorwurf handelt, und ich nehme ihn nicht auf die leichte Schulter. Es fiel mir sehr schwer, diesen Beitrag zu verfassen, da es auch um mein Volk und meine Gesellschaft geht. Als Teil dieser Gesellschaft trage auch ich eine Verantwortung für das, was geschieht. Das Ausmaß der Gräueltaten und Zerstörungen in Israel am 7. Oktober war beispiellos. Es dauerte einige Zeit, bis ich das Geschehen verdaut hatte und artikulieren konnte, was sich vor meinen Augen abspielte. Aber sobald man sieht, was passiert, kann man nicht mehr schweigen. Auch wenn es für mich, meine Leser oder die israelische Gesellschaft qualvoll und schmerzhaft ist, muss die Debatte irgendwo beginnen.
Es gibt verschiedene Definitionen von Völkermord, aber nur eine wird weltweit akzeptiert, und zwar die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes, auch Völkermordkonvention genannt, die im Dezember 1948 von den Vereinten Nationen angenommen wurde. Es handelt sich dabei um eine rechtliche Definition, die jedoch vage ist und offen für Interpretationen, weshalb sie auch kritisiert wurde und wird. Diese Konvention beschreibt Völkermord als ein Verbrechen, das mit der Absicht begangen wird, »eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören«. Die Absicht zur Vernichtung ist entscheidend – allerdings muss dabei nicht zwingend eine vollständige Vernichtung intendiert sein, auch eine »teilweise« Vernichtung fällt in den Rahmen dieser Definition.
»Unzählige Male wurde dazu aufgefordert, Gaza in Schutt und Asche zu legen. Es wurde behauptet, dass es dort keine unschuldigen Menschen gäbe.«
Die Kritik an dieser Definition zielt unter anderem darauf ab, dass sie einige Kategorien unerwähnt lässt, wie etwa politische Gruppen, die in der Sowjetunion verfolgt wurden. Auch der »kulturelle Völkermord« findet in der Konvention keine Erwähnung, weil die USA befürchteten, man könne sie beschuldigen, Völkermord an ihrer eigenen indigenen Bevölkerung begangen zu haben. Die Einbeziehung kultureller Aspekte in die Konventionen war dem polnisch-jüdischen Anwalt Raphael Lemkin, der den Begriff »Genozid« prägte und sich bei den Vereinten Nationen dafür einsetzte, sehr wichtig. Er musste jedoch Kompromisse eingehen, um die Konvention genehmigen zu lassen.
Letztendlich war die von der Konvention vorgeschlagene Definition das Ergebnis eines bestimmten politischen und historischen Moments in den Vereinten Nationen, als der globale Süden nur sehr wenige Vertreter hatte, und die USA und die UdSSR dominierten. Die meisten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beziehen sich heute dennoch auf diese Definition, wenn sie über Völkermord sprechen. Viele von ihnen entwickelten weitere Begriffe wie etwa Demozid, Ethnozid oder Politizid, die jedoch keine juristischen Begriffe sind. Andere wiederum lehnten jegliche Definitionen ab. Die grundlegende, weithin akzeptierte Definition ist jedoch die rechtliche Definition der Völkermordkonvention.
Ihr Artikel erwähnt auch andere Beispiele von Völkermord, etwa den in Bosnien und Armenien oder den Völkermord an den Herero und den Nama im heutigen Namibia. Etwa 8.000 Bosnierinnen und Bosnier wurden in Srebrenica getötet. Schätzungen zufolge fielen zwischen mehreren hunderttausend und 1,5 Millionen Menschen dem Genozid an der armenischen Bevölkerung zum Opfer. Sie betonen auch, dass nicht jeder Völkermord auf die Schrecken des Holocausts hinauslaufen muss. Zu welchem Zeitpunkt im aktuellen Krieg waren Sie sich sicher, dass Israels Vorgehen in Gaza als genozidal zu bewerten ist?
Wenn man als Historiker das Gesamtbild betrachtet, erkennt man alle Elemente eines Genozids. Es gibt eine klare Absicht: Der Präsident, der Premierminister, der Verteidigungsminister und viele hochrangige Militäroffiziere haben dies sehr offen zum Ausdruck gebracht. Unzählige Male wurde dazu aufgefordert, Gaza in Schutt und Asche zu legen. Es wurde behauptet, dass es dort keine unschuldigen Menschen gäbe. Offene Appelle zur Zerstörung Gazas sind aus sämtlichen Schichten der Bevölkerung und der politischen Führung zu vernehmen. Innerhalb der israelischen Gesellschaft herrscht eine radikale Atmosphäre der Entmenschlichung der Palästinenserinnen und Palästinenser. In diesem Ausmaß habe ich das in den 58 Jahren, die ich hier lebe, so nicht erlebt.
»Ich habe nach Hinweisen gesucht, um mich davon zu überzeugen, dass es sich hier nicht um Genozid handelt. Niemand möchte Teil einer genozidalen Gesellschaft sein.«
Wie zu erwarten war, hat das dazu geführt, dass Zehntausende unschuldige Kinder, Frauen und Männer getötet oder verletzt wurden, die Infrastruktur beinahe vollständig zerstört wurde, die Bevölkerung vorsätzlich ausgehungert wird und die humanitäre Hilfe blockiert wird. Es gibt Massenvertreibungen und Massengräber, von denen wir immer noch nicht wissen, wie viele Menschen dort begraben liegen. Es gibt auch verlässliche Zeugenaussagen über Massenhinrichtungen, ganz zu schweigen von den zahlreichen Bombenanschlägen auf Zivilisten in sogenannten Sicherheitszonen. Gaza, wie wir es kannten, existiert nicht mehr. Es ist also genau das eingetroffen, was so auch beabsichtigt wurde. Um das volle Ausmaß dieser Zerstörung und Grausamkeit zu verstehen, empfehle ich den Bericht von Lee Mordechai, der das, was seit dem 7. Oktober in Gaza passiert ist, am umfassendsten und aktuellsten dokumentiert.
Und wir müssen uns noch einmal vergegenwärtigen, dass Massentötungen nicht unbedingt in einer völligen Vernichtung münden müssen, damit sie als Völkermord gelten. Wie bereits erwähnt, heißt es in der Definition ausdrücklich, dass die vollständige oder teilweise Zerstörung einer Gruppe als Völkermord angesehen werden kann. Genau das geschah in Srebrenica oder auch im Fall der Rohingya in Myanmar.
Ich gebe zu, dass ich gezögert habe, Israels Vorgehen in Gaza als Völkermord zu bezeichnen. Ich habe nach Hinweisen gesucht, um mich davon zu überzeugen, dass es sich hier nicht um Genozid handelt. Niemand möchte Teil einer genozidalen Gesellschaft sein. Aber es gab eine explizite Absicht, ein systematisches Muster und ein genozidales Ergebnis – also kam ich zu dem Schluss, dass genau so ein Genozid aussieht. Und wenn man das begriffen hat, darf man nicht mehr schweigen.
Wie reagieren Ihre Studierenden, Kolleginnen oder Freunde, wenn Sie Ihre Schlussfolgerungen näher erläutern?
Ich habe meinen Beitrag bewusst auf Hebräisch geschrieben und nicht auf Englisch. Denn ich wollte in erster Linie, dass Israelis sich damit auseinandersetzen. Ich wollte meiner Gesellschaft helfen, den Tatsachen ins Auge zu blicken, anstatt zu verleugnen, was in Gaza passiert. Ich würde sagen, dass Leugnung Teil aller genozidalen Prozesse und Massengewalttaten ist.
Einige Studierende waren wegen meines Artikels sehr wütend auf mich, andere dankten mir wiederum. Einige Kolleginnen und Kollegen haben mit mir gestritten und einer hat sogar auf Facebook geschrieben, dass er hofft, dass meine Studierenden meine Kurse nicht mehr besuchen würden. Andere wiederum teilen meine Position, während wieder andere mir sagten, mein Artikel hätte ihnen Denkanstöße gegeben. Und es gibt auch Leute, die anderer Meinung sind als ich, die ich aber immerhin davon überzeugen konnte, dass es sich bei dem Vorwurf des Völkermords nicht um eine absurde Anschuldigung handelt, die antisemitisch motiviert ist.
In Deutschland gelten Israels Universitäten oft als Bastion des Widerstands gegen die Netanjahu-Regierung. Wie ist die Stimmung derzeit an israelischen Universitäten?
Diese Darstellung ist zutreffend. Das begann mit der Justizreform vor dem Krieg. Viele Stimmen innerhalb der Universitäten sprechen sich gegen den Krieg aus, aber viele unterstützen ihn auch aktiv oder ermutigen die Regierung sogar dazu, noch weiter zu gehen.
Unter denjenigen, die den Krieg ablehnen, sind viele, denen es dabei in erster Linie um die Geiseln geht – es besteht kein Zweifel, dass das ein sehr wichtiges Anliegen ist. Momentan gibt es nur eine Minderheit in Israel, die anerkennt, wie unmenschlich und kriminell dieser Krieg ist. Hervorzuheben sind in diesem Zusammenhang auch die vielen Solidaritätsbekundungen zwischen jüdischen und palästinensischen Menschen, die es an den Universitäten auch gab.
»Einige Professorinnen und Professoren – darunter auch jüdische – haben ihren Job verloren, weil sie berechtigte Kritik geäußert hatten. Andere, die nicht entlassen wurden, hat man schikaniert.«
Dennoch würde ich sagen, dass die Universitäten als Institutionen moralisch versagt haben. Denn sie sind der freien Meinungsäußerung, dem Humanismus und der kritischen Analyse der Realität in Krisenzeiten verpflichtet. Natürlich gibt es Ausnahmen, wie etwa die Universität Tel Aviv und ihr Präsident Ariel Porat, der sich größtenteils für freie Meinungsäußerung eingesetzt hat. Insgesamt herrscht aber eine Atmosphäre der Angst und Unterdrückung. Dies gilt insbesondere für palästinensische Lehrende und Studierende, die das Gefühl haben, dass sie für ihre Brüder und Schwestern in Gaza öffentlich kein Mitgefühl artikulieren können. Auf dem Campus, im öffentlichen Raum oder in den sozialen Medien gibt es keinen Platz für ihre Gefühle oder ihre Perspektive. Einige Professorinnen und Professoren – darunter auch jüdische – haben ihren Job verloren, weil sie berechtigte Kritik geäußert hatten. Andere, die nicht entlassen wurden, hat man schikaniert.
Der bekannteste Vorfall betraf die weit bekannte palästinensische Professorin Nadera Shalhoub-Kevorkian, die an der Hebräischen Universität Jerusalem lehrt, und die für ihre eindeutige Positionierung zum Zionismus und zum Vorwurf des Genozids bekannt ist. Sie wurde von der Lehrtätigkeit suspendiert und von einigen ihrer Kolleginnen und Kollegen belästigt und bedroht. Die Polizei hat sie sogar verhaftet, mehrmals verhört und zwei Tage lang eingesperrt. Ihre Kritik mag für die meisten israelischen Ohren ungewohnt hart geklungen haben. Dennoch ist sie legitim und meiner Meinung nach größtenteils richtig. Sie wartet nun darauf, ob gegen sie Anklage wegen »Verhetzung« erhoben wird, und zwar auch aufgrund ihrer wissenschaftlichen Artikel, die beispielsweise in akademischen Fachzeitschriften begutachtet wurden.
Besorgniserregend ist außerdem ein umstrittener Gesetzentwurf, der nun durch die National Union of Israeli Students vorangetrieben wird. Dieses Gesetz würde Universitäten dazu verpflichten, jede und jeden, einschließlich fest angestellter Professorinnen und Professoren, kurzerhand zu entlassen, sobald sie eine Kritik am Staat oder der Armee formulieren, die vom Bildungsminister als »Verhetzung« interpretiert wird. Nicht alle Studierendenvereinigungen, einschließlich der Ortsgruppe der Hebräischen Universität, unterstützen den Gesetzentwurf. Auch die Universitäten selbst lehnen ihn vehement ab. Ich hoffe, dass dieses Gesetz nicht verabschiedet wird, aber die Regierungskoalition und Teile der Opposition treiben ihn zusammen mit Nachdruck voran. Es ist wirklich beschämend, dass israelische Studierende an den Hochschulen auf solche drakonischen, totalitären Maßnahmen drängen. Und es ist beängstigend, welche Folgen dieses Gesetz nach sich ziehen könnte, wenn es tatsächlich verabschiedet werden sollte.
Ihre eigene Universität weist den Vorwurf, Israel begehe einen Genozid zurück und bezeichnet stattdessen den Hamas-Angriff vom 7. Oktober als solchen. Was ist Ihre Meinung? Erfüllt der 7. Oktober die Kriterien für die Einstufung als Völkermord?
Ich stimme mit den meisten Einschätzungen der Vereinten Nationen und anderen Institutionen überein. Darunter fallen auch die aktuellen Haftbefehle des Chefanklägers des Internationalen Strafgerichtshofs, Karim Khan, die besagen, dass der Angriff der Hamas abscheulich und kriminell war und dass dort Kriegsverbrechen sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen wurden. Auch wenn manche es für einen genozidalen Akt halten, glaube ich das nicht. Ich halte es für ein schreckliches Verbrechen, insbesondere die Angriffe auf Zivilisten, die Zerstörung der Kibbuzim und die Entführung der Geiseln, unter denen auch Kinder sind. Wenn man den Hamas-Angriff jedoch als Völkermord bezeichnet, wird der Begriff bis zur Bedeutungslosigkeit gedehnt.
Bei der Verurteilung von Nadera Shalhoub-Kevorkian lehnte die Universität den Begriff des Genozids im Hinblick auf das Vorgehen Israels ausdrücklich ab. Sie erklärten, es sei empörend, dies als Völkermord zu bezeichnen, dabei benutzen inzwischen viele Rechtsexperten, Historikerinnen und Expertinnen und Experten für Völkermord wie Raz Segal, Marion Kaplan, Victoria Sanford, Ronald Suny und Francesca Albanese den Begriff. Andere prominente Experten wie der Holocaust-Forscher Omer Bartov glauben, dass die Situation möglicherweise zu einem Völkermord führen könnte. Wir wissen auch, dass das höchste Gericht der Welt, der Internationale Gerichtshof, im Januar mehrere vorläufige Maßnahmen angeordnet hat und dabei erklärte, dass es durchaus plausibel ist, dass die Rechte der Palästinenserinnen und Palästinenser gemäß der Völkermordkonvention verletzt werden. In anderen Worten: Es ist plausibel, dass es sich bei dem, was in Gaza geschieht, um einen Völkermord handelt.
»Deutschland, das Land, das unter der Naziherrschaft den Holocaust begangen hat, sollte für universelle Werte stehen. ›Nie wieder‹ muss für alle gelten.«
Ich halte es für fatal, zu behaupten, es sei »unbegründet« den Begriff »Völkermord« zu verwenden, um Israels Vorgehen zu beschreiben. Als Akademikerin und Akademiker ist es unsere Aufgabe, Fakten zu untersuchen und Schlussfolgerungen zu ziehen. Es ist aber nicht unsere Aufgabe, Begriffe ideologisch abzulehnen. Auch wenn man zu dem Schluss kommen könnte, dass es sich nicht um Völkermord handelt, ist es angesichts der Beweislage und der Einschätzung vieler Expertinnen und Experten nicht unbegründet, Israels Vorgehen als genozidal zu bezeichnen. Dies als ungeheuerlich abzutun, ohne die Fakten und Argumente zu berücksichtigen, die einen zu dieser Schlussfolgerung geführt haben, widerspricht unserem akademischen Bekenntnis zur Wahrheit.
Auch die Bundesregierung weist den Vorwurf des Völkermordes zurück und unterstützt Israel vor dem Internationalen Gerichtshof. Seit dem 7. Oktober wurden zahlreiche palästinensische und israelische Stimmen, die Israels Kriegsführung kritisiert haben, gecancelt oder sogar mit einem Einreiseverbot belegt. Glauben Sie, dass die Bundesregierung die falschen Lehren aus der Geschichte zieht?
Ja, Deutschland zieht die falschen Lehren aus der Geschichte. Die deutsche Regierung und die Mehrheit der deutschen Medien sind voreingenommen, falsch und heuchlerisch, wenn es um Israels Verbrechen an den Palästinenserinnen und Palästinensern geht. Das ist nichts Neues. Deutschland unterstützt Israel und sein Narrativ auf Basis der deutschen Staatsräson, die die Legitimität des deutschen Staates an seine Unterstützung für Israel knüpft. Es ist nicht nur, dass sie einfach nicht sehen wollen, was passiert. Sie wehren sich aktiv dagegen, hinzusehen. Diese unerschütterliche Unterstützung, die als Freibrief für Israels Aktionen betrachtet wird und auch das umfasst, was ich als Völkermord einstufe, ist nicht gut für Israel.
Deutschland, das Land, das unter der Naziherrschaft den Holocaust begangen hat, sollte für universelle Werte stehen. »Nie wieder« muss für alle gelten. Fast 30 Prozent der Munitions- und Waffenimporte Israels kommen aus Deutschland. Das hilft weder den Palästinenserinnen und Palästinensern noch den Israelis.
Das Problem der Einschränkung der freien Meinungsäußerung in Deutschland existierte schon vor dem aktuellen Krieg, da der deutsche Staat fast jede Kritik an dem israelischen Staat, auch die von Jüdinnen und Juden geäußerte Kritik, als antisemitisch betrachtet. Die deutschen Medien und die deutsche Regierung ignorieren die Realität in Israel und Palästina ganz bewusst. Und damit ermöglichen sie, dass Israel Verbrechen begeht und seine Apartheid-, Annexions-, Besatzungs- und Siedlungspolitik fortsetzen kann. Ich glaube nicht, dass das Vorgehen Deutschlands im Interesse Israels ist. Im Gegenteil, es treibt die israelische Gesellschaft weiter in eine Misere, von der sie sich möglicherweise nicht mehr erholen kann.
Israels Finanzminister Bezalel Smotrich kündigte kürzlich an, er wolle die Städte und Dörfer im Westjordanland genauso in Schutt und Asche legen wie den Gazastreifen. Während die globale Aufmerksamkeit auf Gaza gerichtet ist, gerät auch die Lage im Westjordanland immer weiter außer Kontrolle, da die Angriffe auf die palästinensische Bevölkerung zunehmen und die israelische Regierung versucht, dort Siedlungen auszuweiten. Ist dies Teil einer einheitlichen Strategie?
Die Regierung und viele Siedler und ihre Unterstützerinnen sehen den Krieg als Chance, Siedlungen auszuweiten, Land zu übernehmen und Palästinenserinnen und Palästinenser zu vertreiben. Seit Kriegsbeginn wurden mehr als 500 Palästinenserinnen und Palästinenser in den besetzten Gebieten von der israelischen Armee und Siedlern getötet.
Ich bin Teil einer israelischen Gruppe namens »Jordan Valley Activists«, die versucht, palästinensische Hirten zu schützen und ihnen dabei zu helfen, ihr Land und ihre Lebensgrundlagen zu erhalten. Ich habe die Gewalt der Siedler aus erster Hand miterlebt. Erst kürzlich ereignete sich ein schrecklicher Vorfall, bei dem Siedler, die scheinbar aus Shadmot Mechola stammten, palästinensische Hirten und Bauern angriffen, ein Auto stahlen, alle Fensterscheiben zerschlugen, Menschen verletzten und sie terrorisierten und schikanierten. Es ist klar, dass die Siedler den Krieg ausnutzen, um ihr Territorium zu erweitern, um Palästinenserinnen und Palästinenser zu vertreiben, insbesondere in der Zone C des Westjordanlandes. Ihr Ziel ist es, das Territorium zu »judaisieren«.
»Die Vision einer binationalen Lösung erscheint mittlerweile ferner von unserer Realität zu sein als jede Science-Fiction.«
In vielen Fällen unterstützen Armee und Polizei die Aktionen der Siedler aktiv oder passiv, indem sie bewusst nicht eingreifen oder die Täter nicht zur Verantwortung ziehen. Die Polizei dient nicht dem Rechtsstaat, sondern den gesetzlosen Siedlern. Daher müssen die Angreifer fast nie vor Gericht erscheinen. Die USA und andere Länder verhängten letztendlich Sanktionen wegen der Siedlungspolitik, weil sie verstanden hatten, dass das israelische Rechtssystem die Siedler nur selten zur Rechenschaft zieht.
Im Jahr 2017 veröffentlichte Bezalel Smotrich den sogenannten »Entscheidungsplan«, der den Palästinenserinnen und Palästinensern zwei Möglichkeiten bietet: entweder sie akzeptieren das Leben unter der Apartheid oder sie müssen gehen. Smotrich hatte tatsächlich angedroht, Palästinenserinnen und Palästinenser zu vernichten, die sich gegen diese beiden Optionen entscheiden. Dieser von hochrangigen Politikern entworfene Plan wird breit unterstützt. Ich vermute, dass diese Haltung die aktuelle Politik bestimmt, auch wenn sich die gegenwärtige Regierung nicht offiziell dazu bekannt hat.
Fast alle verfügbaren Umfragedaten belegen, dass die Zustimmung zum Krieg innerhalb der israelischen Bevölkerung hoch ist. Gleichzeitig nehmen aber auch die Proteste zu, die einen Waffenstillstand und den Rücktritt Netanjahus fordern. Beginnt sich die Stimmung in Israel zu ändern?
Ja, sie verändert sich allmählich, da vielen klar ist, dass es nur eine Möglichkeit gibt, um die Geiseln zurückzubringen, und das ist ein dauerhafter Waffenstillstand. Manche sehen auch den Sinn des Krieges nicht mehr. Aber die Mehrheit steht immer noch hinter dem Krieg und ist zweifellos völlig blind für die Verbrechen, die Israel in Gaza begeht.
Positiv hervorzuheben ist aber, dass auch Organisationen wie die Jordan Valley Activists, die ich bereits erwähnt habe, oder Basisbewegungen wie Standing Together wachsen, obwohl es sich dabei um Gruppen handelt, die im Vergleich zum Rest der Gesellschaft sehr klein sind. In einer bemerkenswerten Aktion von Standing Together haben Aktivistinnen und Aktivisten humanitäre Hilfskonvois nach Gaza eskortiert, die von Siedlern und Rechtsextremen blockiert und attackiert wurden. Itamar Ben-Gvir, Israels Minister für nationale Sicherheit, befahl der Polizei sogar, die Konvois nicht zu schützen, wodurch man den Angriffen freien Lauf ließ. Aktivistinnen und Aktivisten von Standing Together schützten die Lastwagen, bis sie den Grenzübergang zum Gazastreifen erreichten.
Diese Bewegung besteht hauptsächlich aus jüdischen und arabischen Menschen aus den Gebieten der Grenzen von 1948, die gegen den Krieg protestieren und die Freilassung der Geiseln fordern, weil sie verstehen, dass der Krieg nirgendwo hinführen wird und dass beide Seiten einen hohen Preis zahlen. Diese Stimmen werden jedoch von der Regierung, der Polizei und sogar lokalen Beamten unterdrückt. So sagte etwa der Bürgermeister von Haifa, Jona Yahav, dass in seiner Stadt keine Demonstrationen gegen den Krieg stattfinden sollten.
Welche Zukunft sehen Sie für Israel-Palästina nach dem Krieg? Was werden die langfristigen Auswirkungen sein?
Aus diesem Krieg wird nichts Gutes entstehen. Ich sehe keinen Ausweg aus dieser Sackgasse. Ich habe mein ganzes Leben in Jerusalem verbracht und als Aktivist und Akademiker in der Hoffnung auf Veränderung gehandelt und geschrieben. Mit meinem Freund und Kollegen Professor Bashir Bashir habe ich einen Sammelband mit dem Titel The Holocaust and the Nakba: A New Grammar of Trauma and History herausgegeben. In diesem Buch und auch in anderen Beiträgen haben wir für eine egalitäre binationale Lösung plädiert. Das erfordert gleiche Rechte für alle, sowohl auf kollektiver wie auch individueller Ebene. Diese Vision erscheint mittlerweile ferner von unserer Realität zu sein als jede Science-Fiction.
»Die Geschichte hat uns gezeigt, dass die Zukunft unvorhersehbar sein kann und sich die Dinge vielleicht zum Besseren wenden werden, aber dazu ist ein enormer internationaler Druck erforderlich.«
Die Zwei-Staaten-Lösung ist wiederum eine Nebelkerze der internationalen Gemeinschaft, da es keinen realistischen Weg zu einer tragfähigen Zwei-Staaten-Lösung gibt, die der palästinensischen Bevölkerung ihre Rechte gewährt. Die Ausweitung der Siedlungen hat dafür keinen Raum gelassen, und die Idee zweier gleichberechtigter Staaten wird nicht einmal in Betracht gezogen. Selbst die fortschrittlichsten Vorschläge der israelischen Linken und der internationalen Gemeinschaft bleiben hinter dem Mindestmaß an Würde, Souveränität und Unabhängigkeit zurück, das für die Palästinenserinnen und Palästinenser hinnehmbar wäre. In der israelischen Gesellschaft sind Rassismus, Gewalt, Militarismus und eine narzisstische Konzentration auf das Leid Israels so weit verbreitet, dass es in der Öffentlichkeit fast keine Unterstützung für eine andere Lösung gibt als mehr Gewalt.
Der Status quo ist unhaltbar und wird weiterhin zu einer Eskalation der Gewalt führen. Israel, das von Anfang an nie eine vollständige Demokratie war, verliert teilweise sogar seine demokratischen Merkmale. Heute befinden sich zwischen dem Jordan und dem Mittelmeer etwa 7,5 Millionen Jüdinnen und Juden sowie 7,5 Millionen Palästinenserinnen und Palästinenser unter israelischer Kontrolle. Ersteren werden volle Rechte eingeräumt, Letzteren nur Teilrechte oder gar keine Rechte. Die israelisch-jüdische Gesellschaft wird militanter, expansiver und autoritärer. Deutschland, die USA und die meisten westlichen Länder haben maßgeblich dazu beigetragen, dass wir uns in einer derart ausweglosen Situation befinden.
Ich blicke sehr pessimistisch in die Zukunft. Ich sage das mit großer Trauer, denn Israel ist meine Gesellschaft und meine Heimat. Dennoch hat uns die Geschichte gezeigt, dass die Zukunft unvorhersehbar sein kann und sich die Dinge vielleicht zum Besseren wenden werden, aber dazu ist ein enormer internationaler Druck erforderlich. Diese abstrakte Vorstellung ist die einzige Hoffnung, die ich habe.
Amos Goldberg ist Associate Professor an der Abteilung für Jüdische Geschichte und Modernes Judentum an der Hebräischen Universität Jerusalem sowie Leitender Forschungsbeauftragter und Mitglied der wissenschaftlichen Redaktion des Van Leer Jerusalem Institute.