13. Februar 2024
Das Flüchtlingslager Dschenin im Westjordanland hat sich zu einem Brennpunkt israelischer Attacken entwickelt. Aus Sicht der zivilen Opfer sind die israelischen Streitkräfte dabei nicht gekommen, um palästinensische Kämpfer zu jagen, sondern um Rache zu üben.
Ein Kind räumt nach israelischen Angriffen in Dschenin die Trümmer von der Straße.
Am 29. November hörte die Witwe und Mutter Rula, die im Lager Dschenin lebt, Geräusche und Schüsse vor ihrem Haus. Als der Lärm immer lauter wurde, realisierte sie, dass die israelische Armee in ihren Teil des Lagers eingedrungen war – und bekam es mit der Angst zu tun. »Wir konnten nirgendwo hin; die Schüsse konnte man von überall her hören«, erzählt sie.
Dann habe das Telefon geklingelt. Am Apparat war ein israelischer Armeeoffizier, der Rula fragte, ob sich Männer im Haus befänden. Auf ihr Beharren, dass keine Männer im Haus seien, sagte ihr der Offizier lediglich, sie habe 30 Sekunden Zeit, die Wohnung zu verlassen. Rula und die beiden kleinen Töchter flüchteten sofort und mussten von draußen mit ansehen, wie eine Rakete in ihrem Haus einschlug.
Sie fanden Unterschlupf in der Wohnung von Rulas Schwiegermutter, die sich im Erdgeschoss desselben Gebäudes befindet. Wenige Minuten nach ihrer Ankunft dort schlug erneut eine Rakete im Gebäude nebenan ein, in dem Rulas Schwester wohnt (zu diesem Zeitpunkt war diese ebenfalls in der Wohnung der Schwiegermutter und wurde somit nicht verletzt). »Wir hatten alle solche Angst [...] Die Kinder flogen förmlich durch die Luft; sie sind an die Decke und auf den Boden geschleudert worden«, erinnert sich Rula.
Die Bomben zerstörten Rulas Haus. Auch die Wohnungen der Schwiegermutter und der Schwester wurden beschädigt. »Wir saßen fünf oder sechs Stunden lang in diesem Zimmer [bei der Schwiegermutter] fest. Wir waren zu verängstigt, um das Haus zu verlassen, denn überall waren Scharfschützen«, berichtet sie. »Wir haben ständig Schüsse gehört, manchmal in Richtung des Zimmers, und Bomben. Die Kinder haben geweint. Ich hatte das Gefühl, meine Tochter hätte einen Nervenzusammenbruch.«
Aus Angst, dass sie in dem Gebäude sterben könnten, entschied Rula schließlich, »allen Mut zusammenzunehmen«, das Gebäude mit einer weißen Fahne zu verlassen und die Soldaten anzuschreien, das Schießen einzustellen. Die israelischen Soldaten hätten Rula und ihre Familie dann zum Verhör mitgenommen, zunächst in den Ruinen des Gebäudes, später an einen anderen Ort in der Nähe. Die Familienmitglieder seien dabei immer wieder gefragt worden, ob sich Männer beziehungsweise »Kämpfer« in ihrem Haus befänden – was sie bereits per Telefon mehrfach verneint hatten.
Als sie schließlich Stunden später freigelassen wurden, kehrte Rula zu ihrer Wohnung zurück. Sie sei »schockiert« gewesen, als sie den Zustand des Hauses sah. »Es war so traurig zu sehen, dass unser Haus einfach weg ist. Und das alles für nichts.« Rulas Bruder sammelt derzeit Spenden für den Wiederaufbau der Häuser seiner Schwestern.
Tatsächlich haben die israelischen Streitkräfte in den vergangenen vier Monaten eine neue Welle der Gewalt im Westjordanland losgetreten. Zwischen dem 7. Oktober und dem 31. Dezember wurden demnach 299 Palästinenser getötet – 50 Prozent mehr als in den vorherigen neun Monaten des Jahres zusammen. Nach Angaben des UN-Amts für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) wurden im Jahr 2024 (Stand 29. Januar) mindestens 61 weitere palästinensische Menschen, darunter 13 Kinder, getötet.
Dschenin ist zu einem Brennpunkt der israelischen Angriffe geworden, wobei es dort fast täglich zu Razzien kommt. Zusätzlich gab es einzelne Luftangriffe auf weitere UN-Geflüchtetenlager. Israel hat gerade Dschenin immer wieder ins Visier genommen, um die dort ansässigen palästinensischen Widerstandsgruppen zu zerschlagen. Faktisch werden aber nicht nur diese Kämpfer angegriffen, sondern vor allem die Zivilbevölkerung. So stürmten als Zivilisten und medizinisches Personal getarnte israelische Sondereinheiten Ende Januar das Ibn-Sina-Krankenhaus in Dschenin. Bei der Aktion wurden drei Palästinenser getötet sowie Ärzte und Pflegepersonal geschlagen.
»Die Zerstörung der Infrastruktur im Lager ist eine Kollektivbestrafung und ein klarer Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht.«
Rula ist nicht die Einzige, die infolge der verstärkten Angriffe Israels obdachlos geworden ist. In einem Bericht des OCHA wird der Abriss von mehr als 115 Häusern im Westjordanland seit dem 7. Oktober dokumentiert. Dies habe zur Vertreibung von mehr als 700 Menschen, darunter 300 Kinder, geführt. Israelische Bulldozer würden fast jede Nacht in das Lager Dschenin einfahren, dort asphaltierte Straßen zerstören, Stromleitungen kappen und Abwasserrohre durchtrennen.
Faten Al-Rach lebt in Dschenin in Al-Saha, dem Gebiet, das am stärksten von der Zerstörung betroffen ist. »In dem Ort, in dem ich wohne, lief das Abwasser bis vor die Tür meines Hauses, so dass es für mich und meine Kinder immer schwieriger wurde, überhaupt noch das Haus zu verlassen«, berichtet Al-Rach. »Wenn wir unser Haus verlassen, stinkt es nach Abwasser. Wir haben stets nasse Kleidung, weil das Wasser die Straßen überflutet.«
Farha, die ebenfalls im Lager Dschenin lebt, erzählt, für ihre Kinder sei es wegen der zahlreichen Krater und Schlaglöcher auf der Straße schwierig geworden, noch zur Schule und in den Kindergarten zu kommen. »Die Kindergartenbusse können die Kinder nicht mehr zu ihren Häusern bringen«, sagt sie. »Und die Kinder können in Löcher fallen oder sich anders verletzen.«
Die Bedingungen in dem dicht besiedelten Camp sind seit jeher schlecht. Die rund 14.000 Bewohnerinnen und Bewohner des Lagers Dschenin sind Nachkommen von Palästinensern, die bei der Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 von ihrem Land und aus ihren Häusern vertrieben wurden. Nach Angaben des UN-Hilfswerks für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) weist Dschenin eine der höchsten Arbeitslosen- und Armutsraten unter den 19 Geflüchtetenlagern im besetzten Westjordanland auf.
Da Australien, Deutschland, das Vereinigte Königreich, die USA und weitere Staaten die UNRWA-Finanzierung ausgesetzt haben, dürfte sich die Verarmung in dem Gebiet nun noch verschärfen. Hinzu kommt, dass die Zerstörung von Straßen und Infrastruktur es für viele Menschen unmöglich macht, überhaupt zur Arbeit zu gehen/fahren.
»Wenn die Soldaten zum siebten oder achten Mal anrücken, kann man langsam verstehen, dass sie nicht kommen, um ›Kämpfer‹ oder ›Terroristen‹ zu finden – sie kommen aus Rache.«
»Die Zerstörung der Infrastruktur im Lager ist eine Kollektivbestrafung und ein klarer Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht«, kritisiert Riham Jafari von ActionAid Palestine. Die Zerstörung ziele darauf ab, »die Menschen ihrer Grundrechte zu berauben und ihnen ein menschenwürdiges Leben unmöglich zu machen«.
Die Zerstörung der zivilen Infrastruktur und der Häuser im Lager Dschenin ist dabei nichts Neues. Sie sind eine der Hauptursachen für die weiterhin anhaltende Vertreibung und Enteignung von palästinensischen Menschen im Westjordanland. Auch die Razzien der israelischen Streitkräfte werden seit Längerem als Mittel zur Terrorisierung der lokalen Bevölkerung eingesetzt. Bis zum 7. Oktober hatten israelische Streitkräfte im Jahr 2023 insgesamt 205 Palästinenser im Westjordanland getötet; israelische Siedler waren für neun weitere Todesfälle verantwortlich. Von diesen Morden ereigneten sich 52 allein in Dschenin.
Im Juli startete Israel seine größte Razzia im Gebiet Dschenin seit Jahrzehnten. Dabei wurden zwölf Palästinenser getötet und rund 3.000 Menschen gezwungen, aus dem Camp zu fliehen. Im Zuge der Attacke planierten israelische Bulldozer die Straßen. Neben der Verkehrsinfrastruktur wurden auch Wasser- und Stromversorgung zerstört. Viele der Straßen wurden von den Menschen vor Ort umgehend wieder instandgesetzt – nur um bei den jüngsten israelischen Angriffen erneut zerstört zu werden.
»Im vergangenen Jahr, vor dem 7. Oktober, kamen [die israelischen Streitkräfte] alle zwei, drei Tage, drangen in [das Lager] ein und verhafteten Menschen«, erinnert sich Ahmed Tobasi, der künstlerische Leiter des Freedom Theatre, einer Kultureinrichtung im Camp. Wenn die Soldaten jedoch zum siebten oder achten Mal kämen, »kann man langsam verstehen, dass sie nicht kommen, um ›Kämpfer‹ oder ›Terroristen‹ zu finden – sie kommen aus Rache«.
Das Freedom Theatre ist seit langem ein Symbol des Widerstands und ein sicherer Ort für Kinder, an dem sie sich vom Trauma der israelischen Besatzung erholen können. Am 13. Dezember drangen die israelischen Streitkräfte in das Theater ein, zerstörten die Büroräume, eröffneten im Inneren des Gebäudes das Feuer und rissen eine Wand zum Nachbarhaus ein. Das Wände des Theaters wurden außerdem von israelischen Soldaten mit religiösen und politischen Symbolen bemalt.
Nach der Zerstörung des Theaters verhafteten die israelischen Streitkräfte Tobasi und Mostafa Sheta, den leitenden Direktor des Freedom Theatre, in ihren Wohnungen. Die Vorfälle um das Freedom Theatre waren Teil einer dreitägigen Razzia des israelischen Militärs, bei der sowohl in der Stadt Dschenin als auch im Flüchtlingslager 13 Palästinenser getötet und 33 weitere verletzt wurden. Tobasi wurde nach 14 Stunden Haft freigelassen; Sheta ist weiterhin in Gewahrsam.
»Inzwischen bezeichnen einige israelische Medien Dschenin als ›kleines Gaza‹.«
»Sie schlugen mich, legten mir und meinem Bruder Handschellen an, verbanden uns die Augen und begannen, alles zu zerstören«, berichtet Tobasi. Während seiner Verhaftung wurde er nach eigenen Angaben »psychisch gefoltert« und habe unter schrecklichen Haftbedingungen gelitten. So sei ihm beispielsweise der Zugang zu Trinkwasser verwehrt worden. »Jede Sekunde [in Haft] fühlte sich wie ein Tag an. Die Situation war qualvoll und demütigend.«
Es ist nicht das erste Mal, dass das Freedom Theatre angegriffen wird: Die letzte Razzia vor den Attacken im Dezember hatte erst im September 2023 stattgefunden. Tobasi betrachtet diese Angriffe – und die Zerstörung der zivilen Infrastruktur im Allgemeinen – als einen Versuch, den palästinensischen Widerstand ebenso wie die Hoffnung der Menschen vor Ort zu zerschlagen: »Es geht darum, den Palästinensern die kleine Chance auf eine bessere Zukunft zu nehmen und ihre Träume zu zerstören«, meint er.
Rula sieht die Bombardierung ihres Hauses ähnlich: »Ich hatte nur ein kleines Haus mit zwei Zimmern. Alles, was ich im Laufe der Jahre aufgebaut habe, ist jetzt zerstört.« Sie erzählt weiter: »Es war eine schreckliche Erfahrung. Meine Töchter wachen jetzt nachts weinend und zitternd auf. Sie haben Albträume.«
Inzwischen bezeichnen einige israelische Medien Dschenin als »kleines Gaza« – in Anspielung darauf, dass das Lager ein Zentrum des palästinensischen Widerstands ist. Tobasi betont, Israel nutze die Tatsache, dass die Augen der Welt aktuell auf Gaza gerichtet sind, um den Widerstand im Westjordanland zu zerschlagen und zu isolieren. Diese Aktionen geschehen weitgehend ungestraft: Zwar hat Joe Biden US-Sanktionen gegen israelische Siedler wegen derer Gewalt im Westjordanland beschlossen, doch das israelische Militär ist davon nicht betroffen.
»[Die israelische Armee] weiß, dass sich alles auf Gaza konzentriert«, schließt Tobasi. »Also rächt sie sich im Camp Dschenin.«
Daisy Schofield ist freiberufliche Journalistin.