10. Februar 2022
Die Regierung von Mario Draghi verspricht große Investitionen. Doch ihr Plan bedeutet vor allem eine Umverteilung öffentlicher Mittel in private Kassen.
Italiens Premierminister und ehemaliger Chef der Europäischen Zentralbank, Mario Draghi, bei der Vorstellung des National Recovery and Resilience Plan, 2021.
Im Dezember wählte der Economist Italien zum »Land des Jahres« – eine Auszeichnung, die »nicht an das größte, reichste oder glücklichste Land vergeben wird«, sondern an das Land, das sich »2021 am meisten verbessert hat«. Das Lob galt nicht dem Sieg Italiens bei der Fußball-Europameisterschaft oder seiner Rekordbilanz bei olympischen Medaillen, sondern der sogenannten »Regierung der Besten« von Ministerpräsident Mario Draghi.
Die Regierung des ehemaligen Chefs der Europäischen Zentralbank vereinigt die wichtigsten Parteien von mitte-links bis rechtsaußen. Doch allem Gerede über die nationale Einheit hinter »Super Mario« zum Trotz endete das Jahr 2021 in Italien mit einem Generalstreik, zu dem die Gewerkschaftsverbände CGIL und UIL aufgerufen hatten. Am 16. Dezember legten Beschäftigte in ganz Italien die Arbeit nieder, um gegen das Haushaltspaket der Regierung Draghi zu protestieren. Eine Mobilisierung dieses Ausmaßes hatte es seit sieben Jahren nicht mehr gegeben, als die Arbeiterinnen und Arbeiter gegen das Beschäftigungsgesetz von Matteo Renzi demonstrierten.
Alle Kräfte, die Draghis Regierung unterstützen – einschließlich der Parteien, die sich als mitte-links bezeichnen –, kritisierten den Streik und behaupteten, die Gewerkschaften würden unehrenhafter Weise ihr Land bedrohen, das sich gerade von einer Krise erholt.
Dabei war in den Forderungen der Gewerkschaften zum Streik am 16. Dezember ebenfalls von der nationalen Erholung die Rede. Es wurden neue industriepolitische Maßnahmen für den ökologischen und digitalen Wandel, Lösungen für die industrielle Krise und zur Bekämpfung von Betriebsverlagerungen gefordert – ein Kampf, bei dem der italienische Staat eine führende Rolle spielen solle. Nach der Ankündigung des Streiks entgegneten viele Gewerkschaftskritiker, dass der Nationale Aufbau- und Resilienzplan (Piano Nazionale di Ripresa e Resilienza, PNRR), mit dem Draghi auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie reagiert, doch sehr umfangreich sei – und damit ihrer Ansicht nach »links«.
Doch bei näherer Betrachtung zeigen die Pläne der Draghi-Regierung, die sich auf den im Zuge der Pandemie eingerichteten »Next Generation EU«-Fonds (NGEU) stützen, dass höhere öffentliche Ausgaben nicht automatisch links sind. Was stattdessen unter dem Deckmantel von großen Investitionen und »Wiederaufbau« vorgeht, ist ein massiver Transfer von Ressourcen aus dem öffentlichen Sektor in die Privatwirtschaft.
Mit 390 Milliarden Euro an Zuschüssen und 360 Milliarden Euro an Darlehen ist der NGEU-Fonds zweifellos sehr umfangreich. Dies wirft jedoch nur weitere Fragen über die Verwendung der Mittel auf: Wie werden diese Investitionen die europäische Industriestruktur verändern? Welche Auswirkungen werden sie auf Lieferketten, globale Wertschöpfungsketten und die internationale Arbeitsteilung haben? Wird dies die Asymmetrien zwischen den verschiedenen europäischen Ländern vergrößern oder verringern? Die Beantwortung all dieser Fragen würde eine detaillierte Untersuchung von Informationen erfordern, die uns derzeit noch nicht zur Verfügung stehen. Doch die Schritte, die die italienische Regierung bisher unternommen hat, sind bereits vielsagend.
Die Finanzierung, welche die Europäische Union über NGEU anbietet, ist an Bedingungen geknüpft. So mussten die Mitgliedstaaten nationale Aufbau- und Resilienzpläne erstellen, die eine Agenda für »intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum« enthalten. Dies entspricht auch der Forderung der EU, dass die Regierungen in ihren Ausgabenplänen mindestens 37 Prozent dieser Mittel für die ökologische Transformation und 20 Prozent für die Digitalisierung bereitstellen müssen.
Wenn es jedoch darum geht, zu kompensieren, dass der Markt unfähig ist, mit der aktuellen Situation fertig zu werden – wie der aktuelle Streit um Impfstoffe beweist –, stellt sich die Frage, was eine »effizientere« Lösung eigentlich zu bedeuten hat und wem sie nützt. Im Falle des PNRR scheint das Ziel darin bestanden zu haben, die günstigsten Bedingungen für private Unternehmen herzustellen, anstatt Arbeitsplätze zu schaffen oder den Bedürfnissen der Gemeinschaft gerecht zu werden.
Die im März und April 2020 in Italien ergriffenen Maßnahmen zur Bewältigung der Corona-Krise haben zu einem Nettosaldo von fast 255 Milliarden Euro geführt, das finanziert werden muss. Der Großteil der Mittel floss in nicht rückzahlbare Darlehen zur Unterstützung von Unternehmen. Die Regierung hat jedoch ausdrücklich ausgeschlossen, direkt in Unternehmensentscheidungen einzugreifen und somit ein Mitspracherecht bei der Verwendung dieser enormen Ressourcen geltend zu machen.
Außerdem wurden keine Bedingungen für die Inanspruchnahme dieser Mittel festgelegt, wie zum Beispiel ein Verbot von Entlassungen oder Standortverlagerungen. Das Geld wurde mit dem erklärten Ziel eingesetzt, Konkurse und damit Massenarbeitslosigkeit zu vermeiden. Die Regierung zeigte jedoch kein Interesse daran, die Beschäftigten die Verwendung dieser öffentlichen Mittel durch die Unternehmen überprüfen zu lassen.
Die italienische Regierung hat beschlossen, den gesamten Betrag zu verwenden, der Italien im Rahmen von NGEU zur Verfügung steht, das heißt 68,9 Milliarden Euro an Zuschüssen und 122,6 Milliarden Euro an Darlehen. Ohne hier auf die möglichen Bedingungen eingehen zu wollen, sind diese sicherlich vorhanden und hängen im Wesentlichen mit der Umsetzung der politischen Empfehlungen der Europäischen Kommission gegenüber Italien zusammen.
In diesem Kontext ist das Konzept von Industriepolitik hervorzuheben, das im PNRR zum Ausdruck kommt und das die von der EU vertretene Definition perfekt widerspiegelt: Der Staat soll sich darauf beschränken, jene Investitionen zu tätigen, die für die Privatwirtschaft nicht ausreichend rentabel sind – im Falle des PNRR vor allem in die Netzinfrastruktur. Mit anderen Worten: Die Kosten für diese Investitionen sollen kollektiviert werden, während die Gewinne privatisiert werden.
Gleichzeitig soll der Staat alles Erforderliche tun, um Hindernisse für das Funktionieren des freien Wettbewerbs zu beseitigen, zum Beispiel durch Vereinfachung der Vergabevorschriften, Inspektionen und Umweltprüfungen. In Bezug auf das interne Beschaffungswesen – die Eigenproduktion von öffentlichen Gütern oder Dienstleistungen – erklärt der Plan, dass »bestimmte Regeln eingeführt werden sollten, um die Verwaltung zu verpflichten, stichhaltige Gründe dafür anzugeben, warum sie nicht auf den Markt zurückgreift«.
Da die italienische Regierung nicht in der Lage ist, die Liberalisierung und Privatisierung lokaler öffentlicher Dienstleistungen zu erzwingen, versucht sie stattdessen, es dem Staat zu erschweren, auf öffentliche statt auf private Dienstleister zurückzugreifen. Aber warum sollte die Inanspruchnahme interner Dienstleistungen einer ausführlichen Erklärung bedürfen – nur um zu rechtfertigen, dass man es wagt, sich nicht auf den Markt zu verlassen –, während die Auslagerung an die Privatwirtschaft überhaupt keiner Erklärung bedarf?
Die Organisationen der Arbeiterinnen und Arbeiter sollten diese Definition von Industriepolitik rundheraus ablehnen und eine andere vorschlagen, die direkte staatliche Eingriffe in die Wirtschaft (also Planung) verlangt. Bei der Gestaltung der Industriepolitik geht es nicht darum, das bestmögliche Umfeld für Privatunternehmen zu schaffen, sondern darum, öffentliche Maßnahmen zu konzipieren und umzusetzen, die darauf abzielen, Arbeitsplätze zu schaffen und den Bedürfnissen der Gemeinschaft gerecht zu werden.
Diese Dynamik zeigt sich auch in den einzelnen Bereichen, auf die sich die im NGEU-Programm und im PNRR geplanten Investitionen konzentrieren, angefangen bei der Digitalisierung.
Eines der Hauptziele ist die Verbreitung digitaler Tools insbesondere in kleinen und mittleren Unternehmen (KMU). Dies ist besonders wichtig für Italien, das seit langem dabei ist, ein integraler Bestandteil der europäischen Wertschöpfungsketten zu werden, die anderswo, vor allem in Deutschland, zusammenlaufen.
Große Unternehmen haben Lean-Management-Modelle eingeführt, die darauf abzielen, alle Aktivitäten zu eliminieren, die nicht unmittelbar zur Wertschöpfung beitragen, und die Flexibilität der Lieferkette zu maximieren. Lagerkosten sollen auf ein Minimum reduziert werden; Komponenten und Halbfertigprodukte, die von externen Lieferanten bezogen werden, müssen genau in dem Moment am Band ankommen, in dem sie benötigt werden – keine Minute später, keine Minute früher. Die kleinen Unternehmen, die an diesen Prozessen beteiligt sind, werden de facto zu Filialen des Unternehmens an der Spitze der Kette, das oft die Zeiten, Methoden, Kosten und Arbeitsorganisationssysteme diktiert.
Damit diese Geschäftsmodelle funktionieren, muss jedes einzelne Glied der Kette digitale Technologien einsetzen. Das macht die Digitalisierung zu einem entscheidenden Anliegen der italienischen KMU. In diesem Sinne werden die massiven Investitionen, die durch das NGEU-Programm in Gang gesetzt werden, dazu beitragen, den Umstrukturierungsprozess im europäischen Kapitalismus zu vollenden, der bereits seit mehreren Jahrzehnten im Gange ist, und den der Ökonom Riccardo Bellofiore als Zentralisation ohne Konzentration bezeichnet hat.
Ein weiterer Mythos, mit dem es aufzuräumen gilt, ist der, dass Innovation immer etwas Gutes ist, ganz gleich, in wessen Interesse sie erfolgt. Produktivitätssteigerungen bedeuten eine Verringerung der Zahl der Arbeitsstunden, die zur Herstellung bestimmter Waren und Dienstleistungen erforderlich sind. Das ist eine gute Sache, wenn dadurch die Zeit, die die Arbeitnehmer für den gleichen Lohn arbeiten müssen, verringert wird – nicht aber, wenn es nur eine Rationalisierung des Arbeitsprozesses im Interesse der Steigerung der Gewinne bedeutet. Organisationen, welche die Arbeiterklasse vertreten wollen, sollten diese Tatsache anerkennen und aufhören, ihre Forderungen so zu formulieren, als seien sie Partner, die zur Steigerung der Unternehmensrentabilität beitragen wollen.
Was die Auswirkung auf die Beschäftigungszahlen anbelangt, so ist es unwahrscheinlich, dass die oben genannten Investitionen zusätzliche Arbeitsplätze in Italien schaffen, dessen Marktanteil bei der Herstellung von Vernetzungshardware und -software praktisch gleich null ist. Dasselbe gilt für den anderen großen Bereich, auf den sich die öffentlichen Maßnahmen konzentrieren werden: die Energiewende.
In diesem Fall wird man angesichts der Notwendigkeit, auf erneuerbare Energien umzustellen, Sonnenkollektoren, Windturbinen und Anlagen zur Erzeugung von Wasserstoff installieren müssen. Zum Beispiel Solarmodule werden aber von chinesischen und deutschen Unternehmen gefertigt. Auch Turbinen und andere Komponenten für Windparks werden hauptsächlich von deutschen Unternehmen hergestellt. Die Abhängigkeit von Importen dürfte also zunehmen und die italienische Handelsbilanz weiter verschlechtern.
Im Wesentlichen hat die Draghi-Regierung einen massiven Investitionsplan ausgearbeitet, der darauf abzielt, ein möglichst günstiges Umfeld für Privatunternehmen zu schaffen, insbesondere für große deutsche Unternehmen, die auf italienische KMU in ihren Lieferketten angewiesen sind.
Hier geht es nicht darum, Italien und Deutschland aus nationalistischen Gründen gegeneinander auszuspielen, sondern vielmehr um Big Business auf der einen Seite und die italienischen und deutschen Beschäftigten auf der anderen. Die Frage ist, wessen Prioritäten Europas Weg aus der Krise bestimmen.
Dem Markt die volle Freiheit zu lassen, bedeutet natürlich, die wirtschaftlichen Entscheidungen in die Hände des Kapitals zu legen, das naturgemäß nach Profit strebt und nicht nach dem Wohl der Gemeinschaft. Die Organisationen der Arbeiterklasse sollten daher das Thema Planung in den Mittelpunkt des politischen Diskurses stellen.
Ziele, die im Gegensatz zur Profitmaximierung und damit zur kapitalistischen Ausbeutung der Arbeitenden und der Umwelt stehen, können nur mittelst direkter Steuerung der Wirtschaftstätigkeit durch den Staat effektiv verfolgt werden. Und zumal es dabei auch um Innovationen und neue Technologien geht, müssen wir diese ebenfalls nach anderen Maßstäben als der »Effizienz« im Sinne des privaten Profits beurteilen.
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Wir veröffentlichen diesen Artikel in Kooperation mit dem Rosa-Luxemburg-Stiftung Büro Brüssel.
Nadia Garbellini ist Ökonomin und forscht an der Università di Modena e Reggio Emilia.
Nadia Garbellini ist Ökonomin und forscht an der Università di Modena e Reggio Emilia.