25. Januar 2023
Empathie und Mitgefühl waren die Werte, die Neuseelands Ex-Premierministerin Jacinda Ardern als Grundpfeiler ihrer Karriere bezeichnete. In der Politik ihrer Regierung hat sich das nicht niedergeschlagen.
Allen Lobeshymnen zum Trotz hinterlässt Ardern ein durchwachsenes politisches Vermächtnis.
IMAGO / AAPJacinda Ardern hätte 2017 eigentlich noch nicht Premierministerin werden sollen. Sie galt als Nachwuchsstar der neuseeländischen Labour Party, war bekannt für ihre DJ-Auftritte und ihre ebenso geschickte wie unverfängliche Medienarbeit. Man rechnete damit, dass sie das Amt irgendwann in der Zukunft anstreben könnte. Stattdessen wurde sie mitten im Wahlkampf des damaligen Labour-Vorsitzenden Andrew Little, der angesichts schlechter Umfragewerte überraschend zurücktrat, in die Rolle als Kandidatin für den Posten der Premierministerin gedrängt. Vielen erschien das als Himmelfahrtskommando, doch Ardern schaffte etwas, was den drei vorherigen Parteivorsitzenden nicht gelungen war: Sie verhalf Labour zu einem überraschenden Comeback.
Jetzt ist sie ähnlich überraschend zurückgetreten. Ihr Ausstieg erfolgte nur neun Monate vor einer Wahl, in der sie es ihren Vorgängern hätte gleichtun und sich eine dritte Amtszeit sichern können. Dass sich Jacinda Arderns Labour Party innerhalb von nur drei Jahren von einem historischen Wahlsieg zu derart schlechten Umfragewerten entwickelte, dass nun sogar ihre ehrgeizige Nummer Zwei Arderns Nachfolge ablehnte, enthüllt die Tücken liberaler Zögerlichkeit.
Ardern begeisterte die Wählerinnen und Wähler mit dem Versprechen, insbesondere die Probleme anzugehen, die Neuseeländerinnen und Neuseeländer laut Umfragen am meisten belasten. Dazu gehörten die erschreckend weit verbreitete Armut, die zunehmende Obdachlosigkeit, die außer Kontrolle geratene Wohnungskrise und der Klimawandel. Schlussendlich hat Arderns Regierung nur wenig getan, um diese Krisen ernsthaft zu bekämpfen. Im Laufe ihrer Amtszeit haben sich einige der Probleme sogar noch verschärft.
Statt der »transformatorischen« Regierung, die Ardern versprochen hatte, gab es sechs Jahre konventionellen Zentrismus, mit dem sie die Politik der Vorgänger-Regierung unter der rechten National Party wohl noch konsequenter fortführte, als sich beide Seiten eingestehen würden. In diesen sechs Jahren hatte Ardern, die sich selbst als »demokratische Sozialistin« beschreibt, einen gewaltigen Vermögenstransfer von unten nach oben sowie eine explosionsartige Zunahme der ökonomischen Probleme, die inzwischen sogar die Mittelschicht betreffen, zu verantworten.
Wenn Ardern nun ihren Posten verlässt, kann sie zu Recht stolz auf gewisse große Errungenschaften sein. Der Mindestlohn wurde um fast 6 Dollar auf 21 Dollar pro Stunde erhöht. Das im vergangenen Jahr verabschiedete Gesetz über faire Lohnvereinbarungen hat branchenübergreifende Verhandlungen über Mindestanforderungen für Arbeitsbedingungen gebracht. Dies sind wichtige und hilfreiche Maßnahmen in einem der Länder mit den höchsten Lebenshaltungskosten der Welt.
Maßnahmen wie die Verdoppelung des Krankengeldes, kostenlose Arztbesuche für Kinder unter vierzehn Jahren und die Aufstockung von Sozialleistungen sowie anderen Einkommensunterstützungen – darunter Steuergutschriften für Familien und sogenannte Superannuants (Menschen, die eine betriebliche Alterszulage erhalten) – haben das Leben der Menschen ebenfalls positiv beeinflusst. Die Kinderarmut ist seit 2018 um 3 Prozent gesunken. Ardern hat darüber hinaus ihr Versprechen gehalten, das erste Studienjahr an den Universitäten kostenlos zu machen. Angesichts der hohen Studiengebühren in Neuseeland hat das bedeutsame Auswirkungen.
Ardern griff auch auf dem vollkommen aus dem Ruder gelaufenen Wohnungsmarkt ein und setzte hier wichtige Maßnahmen um. Dazu gehörte die Einführung eines längst überfälligen Verbots für Immobilienkäufe aus dem Ausland, die Abschaffung bestimmter investorenfreundlicher Steueranreize und die Bereitstellung von Milliardenbeträgen für Programme für bezahlbaren Wohnraum. 10.000 staatliche Wohnungen wurden geschaffen (nachdem die National Party zuvor den Bestand an Sozialwohnungen extrem reduziert hatte) und die Zahl der Wohnbaugenehmigungen stieg an. Die Explosion der Immobilienpreise wurde nicht nur ausgebremst, sondern Neuseeland verzeichnete sogar den größten Rückgang der Immobilienpreise in der Geschichte des Landes.
Um gegen den erbärmlichen Zustand vieler neuseeländischer Mietwohnungen vorzugehen, wurden dringend notwendige Standards für Wohnungen erlassen. Diese schreiben Anforderungen für Heizung, Isolierung und Feuchtigkeit vor. Gleichzeitig wurde das 35 Jahre alte neuseeländische Mietrecht, das zu Beginn der neoliberalen Exzesse verabschiedet worden war, stark reformiert. Neben Bestimmungen, die den Mieterinnen und Mietern mehr Mitspracherecht bei der Gestaltung ihres Wohnraums einräumen und zusätzliche Vermietungsgebühren verbieten, beendete die Regierung die Praxis der »grundlosen« Kündigungen, mit denen Eigentümer Mieterinnen kurzfristig und ohne Angabe von Gründen aus ihren Wohnung drängen konnten. Diese Reformen brachten Arderns Labour Party das Image der »vermieterfeindlichsten Regierung in der Geschichte Neuseelands« ein, wie es ein sichtlich verärgerter Immobilieninvestor ausdrückte.
»Was die finanzielle Unterstützung angeht, war Arderns Corona-Strategie deutlich knauseriger als Maßnahmen, die unter Reaktionären wie beispielsweise Donald Trump ergriffen wurden.«
Unter erheblichem politischem Risiko hat Ardern außerdem wichtige Reformen des Strafrechtssystems durchgeführt. Dazu gehörte die Abschaffung des abstrusen, aus den USA importierten »Three Strikes«-Gesetzes. Durch ihre Maßnahmen sank die Zahl der Gefangenen in Neuseeland bis Ende 2021 um 29 Prozent und erreichte damit bereits das Ziel, das sich die Labour Party eigentlich für einen Zeitraum von fünfzehn Jahren gesetzt hatte. Im Ausland dürfte vor allem Arderns umgehende Verschärfung der Waffengesetze nach dem Attentat in der Moschee von Christchurch im Jahr 2019 bekannt sein. Das war zwar keine Herkulesaufgabe, aber dennoch eine entschlossene und angemessene Reaktion. Arderns Führungsstärke während dieser nationalen Tragödie wird ein wichtiger Teil ihres politischen Erbes bleiben. In Christchurch konnte sie ihr kommunikatives Geschick und ihre Fähigkeit, sich in die Stimmungslage der breiten Bevölkerung einzufühlen, unter Beweis stellen.
Das bringt uns zu einem anderen großen politischen Erfolg, für den Arderns Neuseeland auf der Weltbühne bekannt wurde: die ebenso entschlossene Reaktion der Regierung auf den Ausbruch der Coronavirus-Pandemie. Trotz Kritik und Panikmache von rechts, die sich fast immer als irrwitzig falsch erwies, hat Ardern beispiellose Maßnahmen ergriffen, um Neuseeland vor dem Virus zu schützen. Ihre Regierung hat damit unzählige Leben gerettet. Dank Arderns schneller Reaktion und Führung konnten die Neuseeländerinnen und Neuseeländer im Vergleich zum Rest der Welt zu Beginn der Pandemie eine nahezu unbeschwerte Normalität und Freiheit genießen.
Doch selbst bei der neuseeländischen Reaktion auf die Pandemie finden sich beträchtliche Aspekte von Arderns Politik, die weder ihren guten internationalen Ruf noch die Flut von Lobeshymnen nach ihrem Rücktritt rechtfertigen.
Was die finanzielle Unterstützung angeht, war Arderns Corona-Strategie nämlich deutlich knauseriger als Maßnahmen, die unter Reaktionären wie beispielsweise Donald Trump ergriffen wurden. Das führte dazu, dass verzweifelte Menschen angesichts des wirtschaftlichen Stillstands die Tafeln belagerten. Bei den Unternehmen wurde natürlich eine Ausnahme gemacht: Sie erhielten Millionen an staatlicher Unterstützung und machten gleichzeitig riesige Gewinne, teilweise wurden Belegschaften entlassen oder Löhne gekürzt. Arderns Regierung wies zwar höflich darauf hin, dass diese Staatshilfen bitte zurückgezahlt werden mögen, die meisten Unternehmen haben sich aber geweigert.
Während die Menschen unzureichende finanzielle Unterstützung erhielten, sorgte die quantitative Lockerung der neuseeländischen Zentralbank für eine Flut billigen Geldes, was wiederum einen Spekulationsrausch auf dem ohnehin schon überhitzten Immobilienmarkt auslöste. Dies führte – zusammen mit anderen Faktoren wie den globalen Lieferkettenproblemen und dem Krieg in der Ukraine – zu einer Explosion der Lebenshaltungskosten in Neuseeland. Die Hauspreise sind für eine normal verdienende Familie absolut unerschwinglich geworden und noch weiter in die Höhe geschossen; und die Mietpreise ziehen nach. Auch die Obdachlosigkeit, die schon vor der Pandemie gravierend war, hat sich verschlimmert. Immer mehr Familien müssen in ihren Autos und staatlich subventionierten Motels leben.
»Nachdem sie im Wahlkampf bereits damit geworben hatte, die Einwanderungszahlen zu senken, witterte Ardern in der Pandemie eine Chance, diese Politik in die Tat umzusetzen.«
Anfang 2020 wurden bereits ausdrückliche Warnungen laut, doch Arderns Regierung handelte nicht. Als die Lebenshaltungskosten in die Höhe schossen (und das trotz der Rekordgewinne von Banken und anderen Unternehmen), schloss Ardern – wie sehr oft in ihrer Amtszeit – eine auf das Gemeinwohl orientierte Reaktion aus, um nicht den Zorn der Unternehmen auf sich zu ziehen. Im Gegensatz zur (konservativen) britischen Regierung, der EU und anderen weigerte sie sich, eine Spekulations- oder Übergewinnsteuer einzuführen, um diese Gewinne zurückzufordern und zur Linderung der Not der Bevölkerung zu verwenden.
Dieses Ungleichgewicht war charakteristisch für Arderns Pandemiestrategie. Es gibt wohl kein besseres Beispiel dafür als die Grenzpolitik ihrer Regierung. Nachdem sie im Wahlkampf bereits damit geworben hatte, die Einwanderungszahlen zu senken, witterte Ardern in der Pandemie und den dadurch notwendig gewordenen Einreise-Beschränkungen eine Chance, diese Politik in die Tat umzusetzen. Ihr berühmtes Mantra »Seid freundlich, seid nett« galt nie den hunderten Familien mit Visum, die über Jahre hinweg unnötig voneinander getrennt wurden. Dies hinterließ bei vielen schwere psychische Folgen und führte sogar zu zerbrochenen Ehen.
Ardern wurde höchstpersönlich auf die großen Schwierigkeiten der Migrantinnen und Migranten aufmerksam gemacht. Dennoch änderte sich an ihrer harten Haltung gegenüber Migrantinnen und Migranten nichts – nicht einmal, als berühmte und ultrareiche Reisende die neuseeländischen Grenzen wieder mit Leichtigkeit passieren konnten. Mit ihrem »Reset« in der Migrationspolitik vergraulte Ardern einige der systemrelevanten Arbeitskräfte, auf die ihre Regierung in wichtigen Bereichen wie der Gesundheits- und Altenpflege angewiesen war. Sie glaubte fälschlicherweise, dass diese Stellen durch neuseeländische Bürgerinnen und Bürger besetzt werden würden. Dieser Fehler trug zu einem Arbeitskräftemangel nach der Pandemie bei, der dann auch die Wirtschaftswelt traf, die Ardern sonst unermüdlich hofierte.
Wenn Ardern nun ihr Amt verlässt, hat sie viele ihrer ursprünglichen Ziele nicht erreicht; und selbst ihre politischen Erfolge haben ihre Grenzen. Die Kinderarmut ist zwar leicht zurückgegangen, liegt aber immer noch über dem OECD-Durchschnitt. Neuseelands Kinderarmutsrate ist deutlich höher als in traditionell sozialdemokratischen Ländern wie Dänemark und Schweden, die Neuseeland als Vorbild gelten, und näher an den Werten von Ländern wie den USA und Mexiko. Nicht einmal die eigenen Ziele der Regierung wurden erreicht: Das ambitionierte Vorhaben, die Kinderarmut bis zum Jahr 2027 auf maximal 5 Prozent abzusenken, ist angesichts der aktuellen Entwicklung nicht einmal annähernd erreichbar.
Das ist ganz grundsätzlich beschämend. Besonders enttäuschend ist es jedoch bei einer Politikerin, die selbst betont hat, Kinderarmut sei der Grund dafür, dass sie in die Politik gegangen sei, die dieses Thema zu ihrer obersten Priorität gemacht hat, und die ihren neu geschaffenen Ministerinnenposten zur Bekämpfung der Kinderarmut gleich mit sich selbst besetzt hat. Als Premierministerin sprach Ardern gerne davon, die Kinderarmut ganz beenden zu wollen. Sie hätte zweifellos mehr tun können, um dies zu erreichen. Vier Jahre nach der Einsetzung einer Sachverständigengruppe, die das kaputte Sozialsystem des Landes in Ordnung bringen sollte, hatte sie noch immer keine einzige Empfehlung vollständig umgesetzt. Ein Mitglied des Gremiums beklagte, die Regierung Ardern habe sich »jeder einzelnen unserer Empfehlungen widersetzt«.
Trotz des lautstarken Gejammers der Immobilieninvestoren (die sich unter Ardern ordentlich bereichern konnten) setzte Ardern Mietrechtsreformen um, die faktisch aber an der eindeutigen Bevorteilung der Vermieter nicht viel verändert haben. Die Premierministerin weigerte sich außerdem, eine Mietpreisbremse einzuführen und lehnte ebenso trotzig die Etablierung einer Kapitalertragssteuer ab – auch wenn diese Forderung äußert populär war. Neuseeland ist damit eines der wenigen Industrieländer, in dem es keine Kapitalertragssteuer gibt.
»Insgesamt bleibt das Land hinter den globalen Zielen zur CO2-Reduzierung zurück. Infolgedessen wurde Neuseeland von Partnerregierungen nicht selten als unseriöser Poser in Klimafragen wahrgenommen.«
Der weiterhin schlechte Zustand neuseeländischer Wohnungen zeigt, dass die Maßnahmen der Regierung Ardern im Bereich Wohnen zwar dringend notwendig sind, aber offensichtlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein waren. Die Warteliste für Sozialwohnungen ist während ihrer Regierungszeit sprunghaft angestiegen. Im September 2022 lagen fast 25.000 Anträge vor. Außerdem ist die horrende Preissteigerung bei Wohnimmobilien aus dem Jahr 2020 immer noch nicht komplett überwunden. Sowohl die UN als auch die neuseeländische Menschenrechtskommission haben die Unfähigkeit der Labour Party, dieses Problem zu lösen, sogar als Teil einer größeren »Menschenrechtskrise« und eines »massiven Versagens bei den Menschenrechten« bezeichnet.
Um ihre Politik durchzusetzen, verließ sich Ardern auf die Privatwirtschaft. Im Ergebnis bleibt der Plan der Labour Party, bis 2024 18.000 neue Sozialwohnungen zu bauen, weit hinter der Zahl der Anträge auf Sozialwohnungen zurück. Schlimmer noch: Die Regierung hat klammheimlich staatseigenes Land und Sozialwohnungen an Bauunternehmen und Privatleute verkauft – und damit eines ihrer Wahlversprechen gebrochen. Mehr als 1 Milliarde neuseeländische Dollar, die in ein groß angelegtes Programm zum Bau von Sozialwohnungen hätte fließen können, wurde stattdessen für die Unterbringung von hilfsbedürftigen Menschen in angemieteten Motels aufgewendet.
Die schockierenden Probleme Neuseelands im Bereich der psychischen Gesundheit hatte Ardern einst als Priorität deklariert. Sie betonte, dies sei ein Thema, »das uns alle angeht«. In ihrer Amtszeit spielte sie jedoch mit Fachgruppen und weiteren Untersuchungsverfahren zu diesem Thema auf Zeit. Und obwohl sie zu Beginn ihrer Amtszeit fast 2 Milliarden Dollar in den Bereich psychische Gesundheit investiert hatte, sorgten große Schwachstellen und Verzögerungen dafür, dass das Gesundheitssystem des Landes im Bereich der psychischen Gesundheit im Wesentlichen genauso schlecht aufgestellt ist wie zuvor. Regierungsbeamte sind seitdem vor allem darauf bedacht, »unbequeme Daten und negative Statistiken« vor den Augen der Öffentlichkeit abzuschirmen.
Ein besonders drängendes Thema ist der Klimawandel. Ardern erinnert gerne an die »Anti-Atom-Bewegung meiner Generation« (tatsächlich ist die Anti-AKW-Haltung in Neuseeland sehr stark). Allerdings scheint das Thema Klima für Arderns Regierung nicht vergleichbar wichtig gewesen zu sein: Es wäre eine Untertreibung zu behaupten, dass die Regierung die Klimakrise nicht mit der gleichen Dringlichkeit behandelt hat, die sie in ihrer »Notstand-Erklärung« 2020 noch gefordert hatte. Auf dem Papier sieht vieles zwar gut aus, aber in Wirklichkeit haben Arderns wichtige Klimaprogramme vor allem die Agrarindustrie, den größten Umweltverschmutzer des Landes, auf absurde Weise verschont. Auch insgesamt bleibt das Land hinter den globalen Zielen zur CO2-Reduzierung zurück. Infolgedessen wurde Neuseeland von Partnerregierungen nicht selten als unseriöser »Poser« in Klimafragen wahrgenommen. So wurde sogar in Erwägung gezogen, das Land von einem großen Klimagipfel einfach auszuschließen.
Während ihrer gesamten Amtszeit musste Ardern viel frauenfeindliche Hetze ertragen, in Kombination mit dem üblichen konzertierten Widerstand der Wirtschaft, mit dem sich führende Labour-Politikerinnen und -Politiker immer konfrontiert sehen, wenn sie auch nur ein bisschen am System zu rütteln scheinen. Letztendlich waren Arderns größte Schwierigkeiten aber selbstverschuldet und das Ergebnis konservativer politischer Entscheidungen, die ihre Handlungsmöglichkeiten enorm einschränkten.
Anstatt die ehrgeizigen Wahlversprechen, für die sie überhaupt erst gewählt wurden, umzusetzen, konzentrierten sich Ardern und ihr Finanzminister Grant Robertson schnell auf die vermeintliche »finanzpolitische Vernunft«. Nachdem sie ihre erste Wahl gewonnen hatten, verabschiedeten sie Ausgabenregeln und eine Schuldenbremse, die einer finanzpolitischen »Zwangsjacke« gleichkamen. Die nächsten sechs Jahre verbrachten sie damit, vor versammelten Wirtschaftsführern immer wieder damit zu prahlen, wie wenig Gelder ausgegeben und wie viele Staatsschulden abgebaut wurden.
Dies hätte zumindest mit einer Strategie zur Erhöhung der Einnahmen verbunden werden können, womit auch die zunehmende Ungleichheit im Land bekämpft worden wäre. Ardern und ihre Regierung haben in dieser Hinsicht jedoch jede vernünftige und am Gemeinwohl orientierte Maßnahme von vornherein ausgeschlossen: keine allgemeine Vermögen- oder Reichensteuer, keine Erbschaftssteuer, kein höherer Steuersatz für steuerumgehende Trusts und natürlich auch keine Steuern auf Kapitalerträge oder Übergewinne. Die Ex-Premierministerin hat sich selbst ein Bein gestellt, indem sie sich einerseits weigerte, Ausgaben auf Pump zu finanzieren, andererseits aber auch nicht bereit war, die Reichen zu besteuern.
Dieses Dilemma versuchte Ardern hin und wieder durch Austeritätsmaßnahmen zu lösen. Unter anderem wurden die Gehälter für Beschäftigte des öffentlichen Dienstes eingefroren – eine höchst unpopuläre Maßnahme – und regressive Steuererhöhungen für die arbeitende Bevölkerung erlassen. Diese Maßnahmen und die verzweifelte Suche nach möglichen Einnahmen, brachten Arderns Regierung ironischerweise politisch in Bedrängnis. Im scharfen Kontrast zu ihrem optimistischen Wahlkampfslogan aus dem Jahr 2017 (»Let’s do this! «) wurde es schwierig, aufzulisten, was Arderns Regierung eigentlich tat. Von kostenloser zahnärztlicher Versorgung bis hin zur Mehrwertsteuerbefreiung für Obst und Gemüse wurde alles aus den Plänen gestrichen. Mit dieser Politik hatte Labour bereits 2011 Wahlkampf gemacht. Obwohl Ardern sich anders gerierte als ihre Vorgänger und erklärte, der Neoliberalismus sei »gescheitert«, tat sie letztlich wenig, um die lähmenden Krisen zu lösen, die aus der neoliberalen Politik resultierten und weiterhin bestehen.
Die Gründe für dieses Scheitern wurden in Arderns erster Amtszeit vor allem (und nicht ganz zu Unrecht) darauf zurückgeführt, dass Labour mit der konservativen Partei New Zealand First koalieren musste. In diesem Narrativ waren die Konservativen die »Bremser« von Arderns transformatorischen und progressiven Ansätzen. Dieses Argument zog jedoch nicht mehr nach dem historischen Wahlsieg von 2020, in dem Labour zum ersten Mal überhaupt unter dem Mixed Member Proportional System von 1996 die absolute Mehrheit im Parlament erringen konnte.
»Arderns Finanzminister prahlte damit, wie wenig die Regierung im Vergleich ihren konservativen Vorgängern ausgegeben habe.«
Es muss immer wieder betont werden, welche politischen Möglichkeiten Ardern ab 2020 daher hatte. In einem parlamentarischen System wie dem neuseeländischen gibt es keine Filibuster, keinen rechten Ältestenrat und nicht einmal eine geschriebene Verfassung, die die Bestrebungen von Arderns Labour Party hätten aufhalten können. Die Partei hatte ausreichend Stimmen, um schlichtweg alles zu verabschieden, was sie wollte. Hinzu kamen die starken Umfragewerte und das riesige öffentliche Vertrauen und Wohlwollen, das Ardern entgegengebracht wurde, weil sie das Land erfolgreich durch die große Pandemie-Krise gesteuert hatte. Die frühere Labour Party, die 1984 den neoliberalen Kurs in Neuseeland forcierte, hatte deutlich schlechtere Voraussetzungen, als sie die Wirtschaft des Landes rücksichtslos ausschlachtete und verschlechterte.
Was also tat Arderns neue Labour-Regierung mit diesen großartigen Voraussetzungen, um das Land umzukrempeln?
Nicht sehr viel, wie wir nun wissen. Sie bewegte sich weiterhin am linken Rand des in den 1980er Jahren etablierten Neoliberalismus. Nachdem sie ihr Mandat zunächst dazu genutzt hatte, die Löhne und Gehälter der Staatsbediensteten zu kürzen, legte sie einen Haushalt vor, der zwar von der Presse als »tiefrot« bezeichnet und von ihrer Partei als Umkehr des besonders katastrophalen Haushalts von 1991 dargestellt wurde. Sein Kernstück war die angeblich »größte Sozialhilfeerhöhung seit einer Generation« – die aber selbst einer der führenden Wirtschaftsverbände des Landes für zu knapp bemessen hielt.
Danach gab Arderns Regierung ihre Zero-Covid-Strategie auf, behielt finanzpolitisch jedoch ihren Austeritätskurs bei. Sie wehrte sich erfolgreich gegen größer angelegte Maßnahmen und verbrachte infolgedessen das vergangene Jahr damit, von der sich verschärfenden Lebenshaltungskosten-Krise getrieben und überrollt zu werden.
Arderns Aufstockungen der Staatsbeihilfen für Menschen in Not waren zwar wichtig und dringend notwendig, wurden aber schon kurz nach ihrer tatsächlichen Umsetzung durch die explodierenden Kosten aufgefressen. Die einmalige Lebenshaltungszulage, die im vergangenen Jahr eingeführt wurde, um den Neuseeländerinnen und Neuseeländern bei der Bewältigung der Krise zu helfen, war mit nur 350 Dollar lächerlich gering und überging dabei auch noch die Superannuants sowie diejenigen, die andere staatliche Unterstützung erhalten. In weiten Teilen des Landes reichte die Einmalzahlung nicht einmal für eine Woche Miete. Mit dem Haushalt 2022 setzte Arderns Regierung strengere Grenzen für staatliche Ausgaben und Kreditaufnahmen, um »sicherzustellen, dass Neuseeland eine der niedrigsten Staatsverschuldungen der Welt beibehält«. Ihr Finanzminister prahlte zum Ende des Jahres erneut damit, wie wenig die Regierung im Vergleich zu den konservativen Vorgängern ausgegeben habe.
Auch die erfolgreiche Maßnahme, die Fahrpreise im öffentlichen Nahverkehr zu halbieren, strich Ardern kurz vor den Wahlen – trotz überwältigender Unterstützung der Bevölkerung. Den Vorschlag des Handelsausschusses, Neuseelands Supermarkt-Duopol durch die Schaffung einer staatlichen Alternative zu durchbrechen, ignorierte sie. Der öffentlichkeitswirksamste Vorschlag zur Bewältigung der Krise wurde daher der Plan des Gouverneurs der Zentralbank, Adrian Orr, höhere Zinssätze durchzudrücken und somit tausende Menschen in die Arbeitslosigkeit zu stürzen. Ardern hat ihn trotzdem einen Monat später erneut ins Amt berufen.
Es ist daher wenig überraschend, dass die Zustimmungswerte von Ardern und der Labour Party im vergangenen Jahr deutlich gesunken sind.
In vielerlei Hinsicht lässt sich Arderns Zeit als Premierministerin in ihrer Herangehensweise an die Legalisierung von Marihuana zusammenfassen. Anstatt politisches Kapital in die Legalisierung durch von ihrer Regierung erlassene Gesetze zu stecken, schob Ardern die Angelegenheit von sich und rief zu einem Referendum auf. Trotz der Aufrufe von Legalisierungsbefürwortern weigerte sie sich beharrlich, ihre persönliche Popularität in den Dienst der Sache zu stellen und hielt mit ihrer persönlichen Meinung zu diesem Thema hinterm Berg. Der Aufruf zur Legalisierung scheiterte letztendlich an weniger als 70.000 Stimmen. Erst nach diesem Scheitern eröffnete Ardern gegenüber der Presse, sie selbst habe für die Legalisierung gestimmt.
Wenn es die Aufgabe einer Politikerin ist, beliebt und charismatisch zu sein und das Vertrauen der Öffentlichkeit zu gewinnen, dann war Jacinda Ardern enorm erfolgreich. Noch wichtiger ist, dass sie es geschafft hat, Werte, die in der Politik normalerweise als Schwächen abgetan werden – wie Empathie und Freundlichkeit – in Stärken zu verwandeln.
Politikerinnen und Politiker haben aber noch eine andere Aufgabe, nämlich ihr positives öffentliches Image und die Macht, die damit einhergeht, zu nutzen, um das Leben der Menschen zu verbessern und die Welt in einem besseren Zustand zu hinterlassen. Leider haben sich Freundlichkeit und Empathie, die in den vergangenen sechs Jahren Arderns Mantra waren, viel zu selten in konkreten Maßnahmen niedergeschlagen, die den arbeitenden Menschen zugutekommen. Das lag nicht an Böswilligkeit, sondern tragischerweise an übermäßiger Vorsicht und Zögerlichkeit. Jetzt zahlt Arderns Partei den Preis dafür. Die meisten Menschen in Neuseeland werden ebenfalls den Preis zahlen, wenn der Popularitätsverlust der Labour Party eine weitere rechte Regierung nach sich ziehen sollte, die den Wohlstand der Reichsten als ihre wichtigste Priorität erachtet – und die Armen als Schmarotzer.
Wenn die immer noch stark frequentierten Tafeln und die vielen obdachlosen Familien nicht das deutlichste Zeichen für das Scheitern von Arderns Amtszeit sind, dann ist es die Tatsache, dass nur ein einziger Labour-Abgeordneter sich überhaupt als ihr Nachfolger beworben hat. Chris Hipkins, der nächste Labour-Vorsitzende und nun Premierminister, täte gut daran, aus Arderns Fehlern zu lernen und den finanzpolitischen Konservatismus ihrer Regierung aufzugeben. Stattdessen sollte er sich auf die transformatorische Agenda besinnen, mit der Ardern ursprünglich ins Amt gewählt wurde.
Was Jacinda Ardern selbst betrifft, so ist die Ex-Premierministerin nach eigener Aussage mit sich selbst und ihrer Rücktrittsentscheidung im Reinen. Der Presse sagte sie kürzlich, sie habe »zum ersten Mal seit langer Zeit wieder gut geschlafen«. Das ist schön. Noch schöner wäre es, wenn hunderte neuseeländische Kinder, die aktuell in Autos leben müssen, dasselbe von sich sagen könnten.
Branko Marcetic ist Redakteur bei JACOBIN und Autor des Buchs »Yesterday’s Man: The Case Against Joe Biden«. Er lebt in Chicago, Illinois.