15. Dezember 2022
Bei den letzten Parlamentswahlen wurden Italiens ehemalige Regierungsparteien hart abgestraft – schon wieder. Auslöser dieser Krise ist eine jahrzehntelange Verengung des politischen Raums, die die Interessen der Arbeiterklasse unsichtbar macht.
Silvio Berlusconi von der Forza Italia, Italiens neue Ministerpräsidentin Giorgia Meloni von der Fratelli d'Italia und Matteo Salvini von der Lega bei einer Pressekonferenz nach der Wahl, Rom, 21. Oktober 2022.
IMAGO / ZUMA WireIn den letzten drei Jahrzehnten hat die italienische Bevölkerung neunmal über ein neues Parlament abgestimmt. Und neunmal haben die Parteien, die die alte Regierung unterstützten, eine Niederlage eingefahren. Der jüngste Sieg der Fratelli d’Italia – der einzigen größeren Partei, die in eindeutiger Opposition zur technokratischen Regierung Mario Draghis steht – kam daher kaum überraschend. Ebenso erwartbar war, dass die Wahlbeteiligung dieses Jahres auf einen historischen Tiefstand der Nachkriegszeit gefallen war: Nur noch etwas mehr als drei von fünf Italienern gehen wählen (1992 waren es noch beinahe neun von zehn).
»Es formieren sich allmählich drei verschiedene gesellschaftliche Bündnisse, die mit der vorherrschenden neoliberalen Ideologie allesamt kompatibel sind.«
Diese einfachen Zahlen belegen, dass die Krise, die mit der Auflösung der Parteien der »Ersten Republik« begann – also der politischen Ordnung, die Italien zwischen 1946 bis 1992 regierte –, noch nicht überwunden ist. Das Wahlergebnis vom September kann vielleicht als erster entscheidender Schritt hin zu einer Umstrukturierung der politischen Landschaft Italiens gedeutet werden, die gegenwärtig von der neoliberalen Ideologie dominiert wird. Diese hatte sich in den 1980er und 90er Jahren im Land durchgesetzt und die nun seit Jahrzehnten andauernde politische Krise Italiens weitgehend verursacht.
Es ist unabdingbar, zwischen den sozialen Allianzen, die sich durch politische Initiativen ergeben, und den Machtverhältnissen, die in der ideologischen und kulturellen Sphäre vorherrschen, zu unterscheiden. Letztere müssen wir zunächst ins Auge fassen, um die Besonderheiten der italienischen Umstände zu begreifen, in denen der Neoliberalismus nicht nur für politische Führungsfiguren, sondern auch für die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger heute weitestgehend die einzige Referenz ist.
Wie war es dazu gekommen, dass ein Land, dessen Linke – ob kommunistisch oder nicht – eine derartige intellektuelle Schlagkraft besaß, in dem kurzen Jahrzehnt von Mitte der 1980er bis Anfang der 90er Jahren vollkommen der neoliberalen Hegemonie unterlag? Die Beantwortung dieser Frage erfordert eine eingehende Betrachtung. Die von Finanz- und Industriemagnaten kontrollierte Medienlandschaft spielt dabei sicherlich eine entscheidende Rolle. Aber die Entwicklung der ehemaligen Kommunistischen Partei Italiens (PCI) und der Linksdemokraten, die deren Führungskader und Wählerschaft übernahmen und in die neu gegründete demokratische Linkspartei hinüber schleppten, war sehr wahrscheinlich ausschlaggebend.
Im Laufe ihrer Geschichte hatte die Partei von Antonio Gramsci geduldig ihre »Festungen« in Schulen, Universitäten, Verlagen und Medien aufgebaut. Als die Postkommunisten in den 1990er Jahren den Marxismus aufgaben und sich den Glaubenssätzen des neoliberalen »Dritten Weges« anglichen, zogen sie auch einen wesentlichen Teil »linker« Kulturproduktion auf diese Linie. In denselben Jahren bemerkte die Rechte, dass die alten Vermittlungstaktiken der Christdemokraten in einer unlösbaren Krise steckten. Angetrieben von Silvio Berlusconis Forza Italia und der Lega popularisierten diese Rechten die Grundprinzipien des Wirtschaftsliberalismus innerhalb ihrer Wählerschaft.
Heute, nach dreißig Jahren intensiver politischer und kultureller Bemühungen vonseiten der Medien und der herrschenden Klassen, ist die Sichtweise vieler Italienerinnen und Italiener auf die Wirtschafts- und Produktionsbeziehungen von diesen Grundsätzen beherrscht. Gemäß dieser Perspektive ist Staatsverschuldung eine Last, die die heutigen Generationen ihren Nachkommen aufbürden; der Wohlstand eines Landes wird von der Wettbewerbsfähigkeit seiner Unternehmen bestimmt; diese Wettbewerbsfähigkeit ist an die Senkung der Produktionskosten und die »Flexibilität« der Arbeitskräfte gekoppelt; die Unternehmenssteuern müssen daher gesenkt werden; der einzige rationale Weg, um die Kaufkraft der Beschäftigten zu erhöhen, besteht in Steuersenkungen. Die Liste ließe sich fortführen.
»Wie mächtig eine Ideologie ist, zeigt sich dann, wenn sie imstande ist, jeglichen politischen Vorschlag, der von ihrer Vorstellung der Realität abweicht, als illusorisch darzustellen.«
Eine Reihe von institutionellen Reformen des Arbeitsmarktes, des Rentensystems sowie des Gesundheits- und Bildungswesens, die die sozialen Interessen gemäß dem neoliberalen Modell des Kapitalismus in eine Richtung umgestalteten, haben diese Wende noch zusätzlich verschärft. Sobald die Lohnhöhe nur noch von individuellen oder nur betrieblichen Vereinbarungen abhängig ist, wird die Klassensolidarität geschwächt. Wenn Renten nicht mehr mit einer Umverteilung, sondern mit Kapitalisierung verbunden werden, geht eine grundlegende Basis für Solidarität zwischen den Generationen verloren. Und wenn Bildung zu einer Investition in Humankapital wird, die zu Geld gemacht werden muss, wird jedes Lernen ohne direkten Marktwert entwertet.
Wie mächtig eine Ideologie ist, zeigt sich dann, wenn sie imstande ist, jeglichen politischen Vorschlag, der von ihrer Vorstellung der Realität abweicht, als illusorisch darzustellen. Das Ergebnis, das die Unione Populare, in der drei verschiedene Parteien der radikalen Linken vertreten sind, bei der Parlamentswahl erzielte, offenbart, dass all diejenigen, die innerhalb des hegemonialen Rahmens Italiens vom Neoliberalismus abweichen, in die Bedeutungslosigkeit stürzen. Der jüngste Wahlausgang – der eine Fortsetzung der systematischen Serie von Niederlagen für jede scheidende Regierung darstellt – zeigt allerdings auch, wie schwierig es ist, innerhalb der neoliberalen Welt einen gesellschaftlichen Block aufzustellen, dessen Politik den eigenen Interessen auch tatsächlich entspricht. Die lange und schwierige Krise Italiens gründet auf diesem Widerspruch. Wer die laufende Umstrukturierung der politischen Landschaft dieses Landes verstehen will, muss genau hier ansetzen. Hier formieren sich allmählich drei verschiedene gesellschaftliche Bündnisse, die mit der vorherrschenden Ideologie allesamt kompatibel sind, aber aufgrund unterschiedlicher Vermittlungsstrategien immer auch Elemente der Fragilität beinhalten.
Das erste Bündnis entspricht dem, was ich und Bruno Amable »den bürgerlichen Block« genannt haben. Die Klassen, die den Übergang zum neoliberalen Kapitalismus und der europäischen Integration geradewegs befürworten, werden in diesem Block vereint. Bei den letzten Wahlen haben die Parteien Azione und Italia Viva – beides wirtschaftsliberale Hardliner – dieses politische Projekt am energischsten vertreten. In Wirklichkeit ging die strategische Initiative des bürgerlichen Blocks allerdings von der Demokratischen Partei aus. In den letzten Jahren war sie die zentrale Protagonistin der Regierungen von Mario Monti, Enrico Letta, Matteo Renzi, Paolo Gentiloni und Mario Draghi, die alle die angeblich »notwendige« – sprich neoliberale – Modernisierung des italienischen Kapitalismus vorangetrieben haben. Gemäß dieser politischen Linie ist die Links-Rechts-Achse überholt. Die neue politische Oppositionslinie liegt ihnen zufolge zwischen Pro-Europäern und Nationalistinnen oder Kosmopoliten und Identitären.
Innerhalb dieses Blocks gibt es einen internen linken Flügel, der etwas Abstand zu dieser Perspektive nimmt und eine stärkere Anbindung an die Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) favorisiert hätte. Der ist allerdings in der Minderheit. Das zeigt sich nicht nur darin, dass die Demokraten ihre »Mitte-Links«-Vereinbarung mit Giuseppe Contes Fünf-Sterne-Bewegung aufgekündigt haben, sondern wird auch dadurch deutlich, dass sie die Agenda des ehemaligen Zentralbankers Mario Draghi zu ihrem Wahlprogramm erhoben haben. Diese Agenda lässt sich als Auflistung neoliberaler Strukturreformen zusammenfassen. Diese wiederum sollen umgesetzt werden, um nach und nach Gelder aus dem nationalen Wiederaufbauprogramm für die Zeit nach der Corona-Pandemie (National Recovery and Resilience Plan, NRRP) zu erhalten. Die unkritische Übernahme von Draghis Agenda deckt sich auch mit der Zusicherung, das Regierungshandeln des letzten Jahrzehnts fortzuführen, obwohl gerade das den Demokraten bei den Wahlen 2018 bereits eine schwere Niederlage beschert hatte.
Aus dem Blickwinkel der Forderungen, die von den jeweiligen Klassen formuliert werden – und die sich allesamt darauf konzentrieren, die institutionellen Reformen und die europäische Integration weiter voranzutreiben –, wirkt der bürgerliche Block kohärent. Seine Schwäche liegt jedoch darin, dass er es nicht vermag, die Bevölkerungsanteile, die unter den Auswirkungen der neoliberalen Reformen zu leiden haben, einzubinden. Innerhalb der italienischen Gesellschaft bildet dieser Block also eine Minderheit.
Beinahe 30 Prozent aller Unternehmer und leitenden Führungspersonen wählten bei der letzten Parlamentswahl die Demokraten, die Partei Azione und Italia Viva. Unter Kleingewerbetreibenden, Handwerkerinnen und Selbstständigen unterstützen nur 18 Prozent den bürgerlichen Block und unter Arbeiterinnen und Arbeitern waren es gerade einmal 15 Prozent. In den wirtschaftlich privilegierten Schichten erzielten diese drei Parteien hingegen starke Ergebnisse: 34 Prozent der höchsten Einkommensgruppe und 36 Prozent der oberen Mittelschicht wählten sie. Bei den unteren und mittleren Einkommensschichten waren es im Vergleich 20 Prozent und unter den ärmsten nur 13 Prozent.
Der rechtsgerichtete gesellschaftliche Block erwies sich im Gegensatz dazu bei den Parlamentswahlen als weitgehend mehrheitsfähig. Die klassenübergreifende Basis der Fratelli d’Italia, der Lega und der Forza Italia ermöglichte es diesen drei Parteien, 41 Prozent der Unternehmerinnen und Führungskräfte, 43 Prozent der Kleinunternehmer und Selbstständigen sowie 56 Prozent der Arbeiterinnen und Arbeiter (zumindest derjenigen, die zur Wahl gingen, denn viele von ihnen haben gar nicht gewählt) hinter sich zu vereinen.
Die Schwächen des rechten Blocks sind denen des bürgerlichen Blocks diametral entgegengesetzt. Die breite gesellschaftliche Basis der Rechten ist ein Ausdruck unterschiedlicher und widersprüchlicher Erwartungen. Diese reichen von der Unterstützung neoliberaler Reformen bis hin zu Forderungen nach einem starken Schutz vor den Auswirkungen eben dieser Reformen – eine Haltung, die insbesondere innerhalb der Arbeiterklasse vorzufinden ist. Angesichts der neoliberalen Hegemonie, in die sich die italienische Rechte nahtlos einfügt, reicht das allein jedoch schon für einen Bruch mit der Wirtschaftspolitik der Regierungen des bürgerlichen Blocks.
»Die Rechten behaupten, die Lebensumstände der Arbeiterklasse würden sich nicht durch neoliberale Politik und Reformen verschlechtern, sondern durch die Bedrohung der nationalen Identität.«
Giorgia Meloni wurde vor allen Dingen aufgrund ihrer Opposition gegen die Regierung von Mario Draghi zur Ministerpräsidentin gewählt – dennoch erklärte sie in ihrer ersten Parlamentsrede nach der Wahl, sie halte den NRRP für eine außergewöhnliche Chance zur Modernisierung Italiens. Ihre Regierung, so versicherte Meloni, würde die »derzeit geltenden EU-Regeln« respektieren. Um »die Investoren zu beruhigen« wies die neue Ministerpräsidentin darauf hin, dass »einige Grundlagen unserer Wirtschaft trotz allem Bestand haben werden: Wir gehören zu den wenigen europäischen Nationen, die einen konstanten Primärüberschuss zu verzeichnen haben«. Das bedeutet nichts anderes, als dass die Regierung – vor Zinszahlungen – weniger ausgibt, als sie an Steuern einnimmt. Um restlos alle Zweifel auszuräumen, beharrte sie darauf, dass »der Wohlstand von den Unternehmen und ihren Beschäftigten geschaffen wird, nicht vom Staat per Erlass oder Verordnung. Unsere Devise wird lautet: Diejenigen, die etwas tun wollen, sollte man dabei nicht stören«.
Damit verkündet die Rechte ihre Kontinuität zur Politik des bürgerlichen Blocks. Angesichts dessen stellt sich die Frage, wie sie den Wunsch nach sozialer Absicherung, der von einem bedeutenden Teil ihrer Basis eingefordert wird und der vor allem der Fratelli d’Italia entscheidende Stimmen eingebracht hat, erfüllen will. Ihre Antwort dieselbe wie die der extremen Rechten in ganz Europa: Sie behaupten, die Lebensumstände der Arbeiterklasse würden sich nicht durch neoliberale Politik und Reformen verschlechtern, sondern durch die Bedrohung der nationalen Identität, durch Migration, durch einen explosiven Anstieg der Kriminalität oder die Infragestellung des traditionellen Familienmodells und Ähnlichem.
Das Schutzversprechen vor künstlich geschaffenen und größtenteils imaginären Feinden wird die sozial schwächere Fraktion des rechten Blocks selbstredend schwer enttäuschen; dennoch hat es ihnen dieses falsche Versprechen den Aufstieg zur Macht ermöglicht.
Infolge der Wende der Fünf-Sterne-Bewegung scheint sich ein drittes gesellschaftliches Bündnis herauszubilden, das zum bürgerlichen Block und dem identitären Neoliberalismus der Rechten in Konkurrenz tritt. Diese Allianz hat allmählich ihre ursprüngliche »systemkritische« Konnotation abgelegt. Heute besetzt sie die Nische, die die neoliberale Hegemonie für eine Position offen lässt, die man – zumindest ansatzweise – als »links« einstufen könnte. Die Fünf-Sterne-Bewegung hat im Gegensatz zur Demokratischen Partei und dem rechten Block jene Probleme in den Fokus gerückt, die sich aus der steigenden Prekarität und Armut ergeben, die einen Großteil des Landes – insbesondere den Süden – beherrschen. Als mögliche Gegenmaßnahmen schlug sie eine Konsolidierung des »Bürgergeldes« vor (das mitunter als eine Art Grundeinkommen dargestellt wird, tatsächlich aber nichts anderes als eine Form des Arbeitslosengeldes ist, das von der Partei 2019 eingeführt wurde). Um das zu erreichen, wolle man die Arbeitsämter stärken, einen Mindestlohn einführen und die Kaufkraft von Beschäftigten durch eine Senkung der Lohnsteuer erhöhen.
Die Wählerschaft der Fünf-Sterne-Bewegung ist im Vergleich zu 2018 um mehr als die Hälfte geschrumpft. Dadurch ist sie hinsichtlich ihrer demographischen Zusammensetzung und ihrer politischen Erwartungen um einiges kompakter geworden. Signifikante Unterstützung erfährt die Partei durch Arbeitslose (24 Prozent), Studierende (25 Prozent) und Menschen mit niedrigem (25 Prozent) oder mittlerem (18 Prozent) Einkommen. Unter Unternehmern und Führungskräften (12 Prozent) sowie bei Personen mit hohem (10 Prozent) oder mittlerem (11 Prozent) Einkommen ist sie deutlich weniger beliebt.
Der Einfluss dieses gesellschaftlichen Bündnisses ist derzeit noch geringer als der des rechten und bürgerlichen Blocks. Infolge der Enttäuschungen, die Melonis Regierung unweigerlich auslösen wird, könnte sich das jedoch ändern. Auch ein potenzieller Kurswechsel der Demokratischen Partei könnte dieser Allianz in die Hände spielen. Die Schwäche dieses Bündnisses liegt darin, dass es versucht, die sozialen Missstände zu lindern, die der Neoliberalismus hervorgerufen hat, ohne jedoch die Ideologie, die hinter dieser Politik steht und die ihr Legitimität verleiht, wirklich zu hinterfragen.
Das »Bürgergeld« ist sicherlich besser als gar keine soziale Absicherung, so wie es etwa die Rechten vorschlagen. Die Hartz-Gesetze der Schröder-Ära, die auf eine Flexibilisierung der Arbeitsbedingungen abzielten und infolge derer die SPD ihre Unterstützung aus der Arbeiterklasse verlor, gelten gleichzeitig als das explizite Vorbild dieses »Bürgergeldes«.
Die Einführung eines Mindestlohns, der in den meisten europäischen Ländern und auch in den USA bereits existiert, sowie die Förderung der Kaufkraft durch Steuersenkungen sind ebenso kompatibel mit den Institutionen des Neoliberalismus. Giuseppe Conte beanspruchte für sich außerdem die Urheberschaft des Strukturreformplans, der im NRRP enthalten – und der wiederum war, wie bereits erwähnt, für die Politik der Regierung Draghi anleitend, diente der Demokratischen Partei als Wahlprogramm und bietet in den Augen Melonis eine außerordentliche Chance zur Modernisierung Italiens. Man kann daher festhalten, dass die Fünf-Sterne-Bewegung die »linke« Flanke der neoliberalen Arena besetzt; sollte ihr die Rückkehr in die Regierung gelingen, wird sie nicht in der Lage sein, auf die Fragen, die der stark populär konnotierte Block stellen wird, angemessen zu reagieren – es sei denn sie entscheidet sich doch dazu, mit den grundlegenden Prinzipien des Neoliberalismus zu brechen.
»Hegemonie gewinnt man nicht, indem man im Fernsehen einen überzeugenden Auftritt hinlegt, sondern indem man ein gemeinsames Verständnis des Klassenkampfes aufbaut.«
Die Existenz drei verschiedener sozialer Blöcke in einem hegemonialen Raum führt zwangsläufig dazu, dass unterschiedliche Parteien wechselweise an der Macht sind, aber eine ungebrochene Kontinuität der Politik aufrechterhalten. Das kann nur in einer Krise der italienischen Demokratie enden. Um dies zu vermeiden, müssen wir auf das hoffen, was möglich sein könnte. Das bedeutet, dass der populäre Block, der
sich um die Fünf-Sterne-Bewegung herum versammelt, größer werden muss – und dass seine politischen Vertreterinnen und Vertreter begreifen werden müssen, dass jedem überzeugenden und wirksamen politischen Vorschlag enge Grenzen gesetzt sein werden, solange sie an der vorherrschenden Ideologie festhalten.
Um aus dieser Sackgasse herauszufinden, muss die italienische Demokratie den Konflikt auf das Terrain der Hegemonie verlagern – ein durchaus schwieriges Unterfangen angesichts der derzeitigen Machtverhältnisse.
Für viele Linke in Italien ist Frankreich gerade eine Quelle der Inspiration – mit Recht. Wer jedoch glaubt, dass der Erfolg der Linken in Frankreich das Ergebnis der politischen Initiative von Jean-Luc Mélenchon ist, irrt sich. Auch wenn Mélenchon unbestreitbares Talent besitzt, so ist es ihm nur deswegen gelungen, seiner Strategie Substanz zu verleihen, weil es in Frankreich einen politischen Raum gibt, indem eine Linke, die gegen den Neoliberalismus antritt, überlebensfähig ist. Und dieser Raum wurde durch eine lange Reihe von politischen und sozialen Kämpfen eröffnet und strukturiert. Dazu gehörten das Referendum über Maastricht 1992 und die Volksabstimmung gegen den Entwurf der Europäischen Verfassung 2005 sowie die Streiks von 1986–95, die in der Bewegung gegen die Rentenreform von Premierminister Alain Juppé gipfelten. Dazu gehören auch die Bewegungen der Studierenden, des öffentlichen Dienstes und der prekär Beschäftigten der 2000er Jahre, die Bewegung gegen die Reformen von Dominique de Villepin sowie der Streik gegen die Arbeitsmarktreformen von François Hollande und zuletzt die Bewegung der Gelbwesten.
Hegemonie gewinnt man nicht, indem man im Fernsehen einen überzeugenden Auftritt hinlegt, sondern indem man ein gemeinsames Verständnis des Klassenkampfes aufbaut. Und den Klassenkampf – in Schulen, Universitäten, Fabriken und Krankenhäusern – muss Italien wieder aufnehmen, wenn es aus der Falle, in der das Land steckt, wieder herauszukommen.
Stefano Palombarini ist Ökonom und lehrt an der Universität Paris VIII. Gemeinsam mit Bruno Amable ist er Autor des Buches »The Last Neoliberal: Macron and the Origins of France’s Political Crisis«.