07. September 2021
Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro instrumentalisiert Militär, Polizei und Justiz, um an der Macht zu bleiben. Gelungen ist ihm das mit der Hilfe von Liberalen und Zentristen, die die Linke mehr fürchten als Bolsonaros Autoritarismus.
Bolsonaro bei einer Rede am 02. September 2021.
Der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro scheint sich einiges bei Donald Trump abgeschaut zu haben. Zuletzt behauptete der rechte Demagoge wiederholt, seine politischen Gegner hätten das Wahlsystem manipuliert. Er werde deshalb eine etwaige Wahlniederlage nicht anerkennen, sofern nicht die von ihm vorgebrachte Wahlrechtsreform verabschiedet würde, mit der das vollständig elektronische Wahlsystem Brasiliens durch die Möglichkeit der Papierwahl ergänzt werden sollte. Zwar ist es dem brasilianischen Kongress gelungen, diese Forderung zu blockieren, doch der Autoritarismus, der sich in Bolsonaros Bemühungen um eine Verfassungsänderung gezeigt hat, gibt Anlass zur Beunruhigung.
Drohungen, Einschüchterung, Zensur und Kriminalisierung sind die Mittel, mit denen Bolsonaro gegenüber regierungskritischen Personen und Organisationen seine Macht ausübt. Im Vorfeld der Abstimmung zur Wahlsystemreform versuchte er mit einer Militärparade vor dem Bundeskongress in Brasília die Unterstützung der Bevölkerung für die Wahlreform zu gewinnen. Die enge Verbindung zwischen Militär und politischer Führung zeichnet Bolsonaros Autoritarismus seit Beginn seiner Amtszeit aus.
Zuweilen versucht der Präsident, seine Verbindungen zum Militär in einer Weise zu nutzen, die beinahe parodistisch wirkt. So ordnete er etwa im März dieses Jahres an, dass Überschall-Kampfjets den Obersten Gerichtshof Brasiliens überfliegen und die Fenster des Gebäudes zertrümmern sollten, um seine Macht zu demonstrieren. Der Präsident gab den Plan erst auf, nachdem hochrangige Mitglieder der Armee, der Marine und der Luftwaffe aus Protest gekündigt hatten.
Das vielleicht bekannteste Beispiel für Bolsonaros Autoritarismus ist die Verhaftung des ehemaligen Präsidenten Lula da Silva. Im April 2018 verhaftete die Polizei den ehemaligen Vorsitzenden der linken Partido dos Trabalhadores (PT), der brasilianischen Arbeiterpartei, aufgrund von Korruptionsvorwürfen. Die Untersuchungen dazu wurden von dem Richter Sergio Moro geleitet, der sich als vermeintlicher Kämpfer gegen Korruption in Brasilien einen Namen gemacht hat und dazu beitrug, die Verurteilung Lulas zu beschleunigen. Moro wurde von der Financial Times als eine der fünfzig Personen ausgezeichnet, die das vergangene Jahrzehnt entscheidend geprägt haben. Tatsächlich war er selbst ein Aushängeschild für Brasiliens korrupte Justiz. Die investigative Berichterstattung von The Intercept enthüllte, dass der prominente Richter die Telefone der Ex-Präsidenten Lula und Dilma Rousseff illegal abhörte, um Beweise für seine Ermittlungen zu sammeln.
Dank Moro konnte Lula im Jahr 2018 nicht gegen Bolsonaro antreten. Die populistische mediale Berichterstattung, die seine Inhaftierung befürwortete und sich gegen Korruption positionierte, war dem Anschein nach überparteilich. In Wirklichkeit sollten sie jedoch die Linke in die Knie zwingen. Und tatsächlich trugen die medialen Berichte dazu bei, dass sich die öffentliche Meinung gegen Lula wendete. Die Berichterstattung übertönte die Stimmen der vielen sozialen Bewegungen, die die Verfolgung durch Moro und die ungerechten Umstände von Lulas Verurteilung anprangerten. Bolsonaro belohnte Moro für seine Dienste, indem er den Richter zum »Super«-Justizminister ernannte – ein Amt, mit dem er sowohl Minister für Justiz als auch Öffentliche Sicherheit wurde. Ein Jahr später zerstritten sich die beiden wegen interner politischer Meinungsverschiedenheiten. Der der angerichtete Schaden ist jedoch geblieben.
Inzwischen wurde Lula aus dem Gefängnis entlassen. Die Ermittlungen zum Korruptionsskandal, der unter dem Titel »Operation Lava Jato« – »Operation Autowäsche« – bekannt wurde, sind in Verruf geraten. Das ist zum großen Teil auf die investigative Berichterstattung des US-amerikanischen Journalisten und Rechtsanwalts Glenn Greenwald sowie von The Intercept zurückzuführen. Moros Urteile wurden vom Obersten Gerichtshof aufgehoben, und das Gericht hat darüber hinaus eingestanden, dass es bei seinem früheren Urteil gegen den ehemaligen Präsidenten befangen war. Aufgrund mehrerer Korruptionsskandale und seinem katastrophalen Umgang mit der Corona-Pandemie schwindet Bolsonaros Beliebtheit, doch es gelingt ihm dennoch, an der Macht zu bleiben.
Eine laufende parlamentarische Untersuchung hat Korruptionsfälle im Zusammenhang mit Impfstoffen und die Förderung quacksalberischer Medikamente gegen Covid-19 durch die Bolsonaro-Regierung aufgedeckt. Sowohl das Gesundheitsministerium als auch das Militär sind in die Vertuschung und Desinformationskampagnen verwickelt. Unter Bolsonaros Regierung sind die Streitkräfte zu einem Teil der Regierung geworden.
Die Verwicklung des Militärs in die Politik hat in Brasilien eine lange Geschichte. 1964 beispielsweise putschte das Militär in Zusammenarbeit mit einer zivilen Elite und stürzte das Land in eine Diktatur. Derzeit sitzen in Bolsonaros Kabinett mehr Generäle als in allen früheren Militärregierungen Brasiliens. Im Unterschied zu früheren, vom Militär unterstützten Regimen wurde Bolsonaro jedoch im Zuge des parlamentarischen Putsches gegen Dilma Rousseff im Jahr 2016 nicht durch die Streitkräfte, sondern durch die Justiz an die Macht gebracht.
Diesem Putsch liegen drei Motive zugrunde: Erstens wollte die herrschende Elite dadurch vermeiden, bei einer drohenden Wirtschaftskrise zur Verantwortung gezogen zu werden. Zweitens war der Putsch ein Versuch, Korruptionsermittlungen seitens der PT oder anderen progressiven Fraktionen zu blockieren. Und drittens war er eine reaktionäre Bemühung, die sozialen Fortschritte der vorherigen PT-Regierung rückgängig zu machen.
Lula, der von 2003 bis 2010 an der Macht war, verfolgte in der Regierungsführung einen vermittelnden Ansatz. Der ehemalige PT-Vorsitzende versuchte, eine marktfreundliche Wirtschaftspolitik mit einer Umverteilung zugunsten der Armen und der arbeitenden Klasse zusammenzubringen. Obwohl er seine Agenda nur überaus zurückhaltend verfolgte, provozierten die von ihm vorgeschlagenen, moderaten Sozialreformen dennoch die wirtschaftliche Elite. Diese drängte auf eine Reihe von Sparmaßnahmen und brutale neoliberale Reformen, die die PT trotz ihrer Geschichte der Klassenkompromisse nicht zu verabschieden bereit war.
In Bolsonaro fand die brasilianische Elite schließlich einen Anführer, der antrat, um ihre Agenda mit antidemokratischen Maßnahmen zu verteidigen. Seine Amtsübernahme läutete eine neue Periode des Autoritarismus in Brasilien ein. Bolsonaros Strategie besteht vor allem darin, die Macht der Gerichte und Gesetze zu nutzen, um seine politischen Gegnerinnen zu kriminalisieren.
Die allgegenwärtige Korruption im Umfeld der Bolsonaro-Regierung könnte zu der Annahme verleiten, die Linke müsse die Politik der Kriminalisierung von den Rechten übernehmen. In einem solchen Szenario könnten die Sozialisten den Bolsonarismus mit dem Rückhalt einer linken Anti-Korruptionsbewegung herausfordern. Doch so attraktiv diese Strategie auch scheinen mag, ist der Linken davon abzuraten.
Der Punitivismus ist sowohl eine moralische als auch eine juristische Ideologie. Er fördert die unkritische Unterstützung von Autoritäten, indem er der Justiz, der Polizei, dem Militär und den politischen Führungspersonen – ob gewählt oder nicht – einen höherwertigen Status zuweist. Diese Ideologie beruht auf der Annahme, dass bestimmte Gruppen – seien es die arbeitende Klasse, indigene Gemeinschaften oder soziale Bewegungen – von Natur aus kriminell sind.
Die punitive Politik zeichnet sich also durch eine implizite Voreingenommenheit gegenüber den Unterdrückten aus. Deshalb legitimiert sie die Kriminalisierung des politischen Protests und rechtfertigt kriminelle Gewalt seitens der Eliten. Bei brasilianischen Wahlen können Polizei-Milizen beispielsweise offen ihre eigenen Kandidierenden aufstellen und die Öffentlichkeit unter Druck setzen, um Stimmen zu gewinnen. Solche Milizen versuchten etwa, die Kommunalwahlen in Rio de Janeiro im Jahr 2020 zu beeinflussen, indem sie linke Kandidierende einschüchterten und daran hinderten, in Gebieten, in denen Milizionäre Einfluss hatten, Wahlkampf zu machen.
Auch die landbesitzende Klasse ist in ähnlicher Weise in der Lage, ungestraft Gewalt auszuüben. In ländlichen Gebieten kontrollieren die Grundbesitzenden ganze Regionen und werden fast nie für die Ermordung von Indigenen und Umweltaktivistinnen oder für das Inbrandsetzen von Wäldern zur Rechenschaft gezogen. Die Behörden gehen weniger energisch gegen Landbesitzende vor als gegen populäre Führungspersönlichkeiten der Bevölkerung. Rechte Journalistinnen und Politiker haben die Bewegung der Landarbeiter ohne Boden (Movimento dos Trabalhadores dos Sem Terra, MST) häufiger des Terrorismus, Diebstahls und gewalttätiger Übergriffe beschuldigt, als solche Vorwürfe tatsächlich im Rahmen polizeilicher und juristischer Untersuchungen erhoben wurden.
Diese Anschuldigungen zielen darauf ab, die Ideologie des Punitivismus zu stärken. Das Ziel ist, dass ein großer Teil der Gesellschaft die von der Polizei verhafteten Aktivistinnen nicht als Opfer politischer Verfolgung, sondern als Kriminelle betrachtet. Aktivistinnen als Verbrecherinnen zu bezeichnen, normalisiert Repressionen bei Demonstrationen und Besetzungen – unabhängig davon, ob diese Repressionen willkürlich erfolgen oder aufgrund strafrechtlich relevanter Handlungen.
Die brasilianische Politik bietet ein perfektes Anschauungsbeispiel für die Bereitschaft der Liberalen, sich mit autoritären Führungsfiguren zu verbünden, um ihre eigene Agenda durchzusetzen. Selbst nachdem Rousseff viele der von ihren Gegnerinnen geforderten konservativen wirtschaftspolitischen Maßnahmen akzeptiert hatte, um ihre Regierung zusammenzuhalten, organisierten die progressiven Liberalen gemeinsam mit den Rechten einen Putsch gegen sie. Auch Rede Sustentabilidade, die brasilianische Grüne Partei (PV) und die Mitte-links-Partei Partido Democrático Trabalhista PDT (Demokratische Arbeiterpartei) arbeiteten mit der Rechten zusammen, um die damalige Präsidentin zu entmachten.
Mit ihrer vermittelnden Regierungsführung ahmte Rousseff Lula nach, dem es gelungen war, die breite politische Koalition, auf die seine Regierung angewiesen war, durch wirtschaftliche Zugeständnisse an die Rechte vor dem auseinanderbrechen zu bewahren. Lula verband marktfreundliche Wirtschaftspolitik und Umverteilung, indem er letztere vom Wirtschaftswachstum abhängig machte. Diese jahrelange Politik der Besänftigung ermutigte die liberalen Zentristen dazu, Rousseff aus dem Amt zu drängen und einen weniger widerspenstigen Interimspräsidenten die schmutzige Arbeit machen zu lassen und eine neoliberale Agenda voranzutreiben. So wurde der Weg für eine gewählte rechte Regierung frei.
Bei den Wahlen 2018 bevorzugten die Medien Bolsonaro gegenüber seinem Konkurrenten Fernando Haddad von der PT, was unter anderem daran lag, dass Bolsonaros neuer Wirtschaftsminister, Paulo Guedes, eindeutig der politischen Rechten zuzurechnen war. Doch schon vor der Wahl 2018 unterstützten Liberale, Mitte-rechts- und Mitte-links-Kräfte die Bekämpfung sozialer Bewegungen und stellten sich vehement jeglicher antirassistischen Politik entgegen.
Jetzt, da Bolsonaro seit fast drei Jahren im Amt ist, hat sich die sogenannte liberal-konservative Rechte von Bolsonaro abgewandt. Die konservative Freie Brasilianische Bewegung (MBL) setzte sich aktiv für Bolsonaro und gegen die PT ein. Später zog sie ihre Unterstützung für Bolsonaro zurück, nachdem sie mit dem Präsidenten wegen seines Regierungsstils aneinandergeraten war. Bolsonaros neoliberale Wirtschaftsagenda befürwortet sie jedoch weiterhin.
Die Parteien der Mitte bekennen sich zwar klar zur liberalen Demokratie, in der Praxis flirten sie aber weiterhin mit dem rechten Autoritarismus, um die Agenda der Austerität von Bolsonaros Wirtschaftsminister Paulo Guedes voranzubringen. Um an der Macht zu bleiben, hat Bolsonaro immer wieder mit Vertreterinnen der Mitte politische Deals und Positionen verhandelt. Scheinbar fortschrittliche Mitglieder der PDT wie Tabata Amaral haben bei Themen wie einer regressiven Rentenreform und Privatisierungen für die Agenda der Regierung abgestimmt. Amaral hat die Partei inzwischen aufgrund von Konflikten über ihre offene Unterstützung von Bolsonaros neoliberaler Politik verlassen.
Angesichts der Bereitschaft liberaler Parteien, autoritäre politische Kräfte zu tolerieren oder sogar mit ihnen zusammenzuarbeiten, ist die zunehmende Kriminalisierung sozialer Bewegungen und der Opposition in Brasilien wenig überraschend. Bolsonaros Regierung hat abweichende Positionen unterdrückt, indem politische Gegnerinnen kriminalisiert, staatliche Gewalt institutionell legitimiert und kritische Stimmen durch die Justiz ausgeschaltet wurden.
Die punitive Ideologie, die einer solchen Kriminalisierung zugrunde liegt, dient dazu, die gesamte Bevölkerung davon zu überzeugen, dass die Inhaftierung die einzige Lösung für gesellschaftliche Probleme ist. Im Laufe der brasilianischen Geschichte konnten politische Kandidierende immer wieder Unterstützung gewinnen, indem sie diese Ideologie propagierten. Law-and-Order-Politik, rigorose Verbrechensbekämpfung und die Lockerung der Vorschriften für den Waffenbesitz sind Themen, mit denen rechtsgerichtete Kandidaten in Brasilien seit Jahrzehnten antreten.
Die punitive Ideologie ist in Brasilien so vorherrschend, dass sie sogar von Progressiven akzeptiert wird. Sie glauben ebenfalls, dass es keine bessere Autorität gibt als die Herrschaft des Gesetzes. Dieses legalistische Politikverständnis hat der Linken unverhältnismäßig geschadet. Denn soziale Bewegungen und andere linke Organisationen, die auf Formen des zivilen Ungehorsams oder direkte Aktionen zurückgreifen, werden dadurch de facto zu Verbrechern erklärt.
Konservative Politikerinnen und Journalisten haben Lula angegriffen, weil ihn soziale Bewegungen unterstützen, die von den Rechten als kriminelle Organisationen angesehen werden. Dieselben reaktionären Kräfte haben den Putsch gegen Rousseffs Regierung organisiert, der auf erfundenen Korruptionsvorwürfen beruhte. Es mag für die Linke verlockend sein, diesen auf Strafe fixierten Populismus zu fördern, um ihn zu ihrem Vorteil zu nutzen. In der Praxis leiden jedoch die arbeitende Klasse und ihre Vertreterinnen am meisten unter der Dominanz dieser Ideologie der Bestrafung.
Der ehemalige Präsidenschaftskandidat und Anführer der größten sozialen Bewegung Brasiliens gegen Obdachlosigkeit, Movimento dos Trabalhadores Sem Teto (MTST, Bewegung der obdachlosen Arbeiter), Guilherme Boulos wird von rechten Medien als gefährlicher Krimineller und Terrorist dargestellt. Die Mainstream-Nachrichten gehen nicht ganz so weit, aber auch sie bezeichneten die Teilnahme der MTST an Landbesetzungen und anderen direkten Aktionen als illegalen »Eingriff in das Privateigentum«.
Dieser legalistische Bezugsrahmen wirkte sich auf die Wahrnehmung von Boulos durch die Wählerinnen und Wähler während seines Wahlkampfs 2018 aus. Er war oft gezwungen, die Rechtsgrundlage für die Besetzung leerstehender Immobilien in Brasilien zu erklären. Ohne sich auf einen bestimmten Paragraphen des Strafgesetzbuches zu beziehen, beschuldigten rechte Expertinnen und Politiker Aktivistinnen illegaler Aktivitäten. Diese Methode dient dazu, die Linke in den Augen der Öffentlichkeit weiter zu kriminalisieren.
Haddad, der bei den brasilianischen Wahlen 2018 gegen Bolsonaro antrat, war ebenfalls Ziel einer solchen Hetzkampagne. Im Vorfeld der Parlamentswahlen erhoben seine Gegner die verleumderische Anschuldigung, er habe ein 11-jähriges Kind vergewaltigt. Nach dem Mord an der Aktivistin und sozialistischen Stadträtin Marielle Franco im Jahr 2018 unterstellten ihr die rechten Gegner, mit Drogenhändlern verkehrt zu haben. Das Ziel der Anschuldigungen gegen Franco ist klar: Solidarität mit ihr sollte verhindert werden, indem sie als Kriminelle abgestempelt wurde.
Leider werden falsche Anschuldigungen jedoch nicht nur von der Rechten erhoben, um politisch zu punkten, sondern auch von den Justizbehörden. Im Jahr 2019 wurden Mitglieder einer freiwilligen Feuerwehr von der örtlichen Polizei willkürlich verhaftet und beschuldigt, den Amazonas in Alter do Chão in Brand gesetzt zu haben. Infolge einer Mobilisierung der Bevölkerung gegen die ungerechte Verhaftung ließ die Polizei die Feuerwehrleute einige Tage später wieder frei. Trotz ihrer Freilassung und obwohl es keine Beweise für die Anschuldigungen gab, wurde das Gerichtsverfahren gegen sie fortgesetzt.
Die politisch motivierte Verhaftung gab Bolsonaro die Möglichkeit, sein eigenes Narrativ aufrechtzuerhalten. Er behauptete weiterhin, die Verantwortlichen für die Brände in den brasilianischen Regenwäldern seien nicht reiche Landbesitzende, sondern Umweltschützerinnen und indigene Führungspersonen. Die Aktivistinnen, so der Präsident, wollten ihn schlecht dastehen lassen.
Im Vorfeld der Verhaftungen hatten progressive und linke Medien Bolsonaros Regierung für ihre Untätigkeit in Bezug auf die zunehmenden Waldbrände und die fortschreitende Abholzung heftig kritisiert. Sogar die konservative Presse veröffentlichte Recherchen, die die Verbindung zwischen den Bränden und der landbesitzenden Anhängerschaft von Bolsonaro darlegten. Die Verhaftung der Feuerwehrleute stützte zwei politische Ziele Bolsonaros: Sie ließ seine Verschwörungstheorie, dass die Linke für die Umweltzerstörung in Brasilien verantwortlich sei, glaubwürdiger erscheinen und legitimierte seine Kriminalisierung aktivistischer Gruppen.
Bolsonaros Strategie der Kriminalisierung beschränkt sich nicht auf Aktivistinnen, sondern nimmt auch Journalisten ins Visier. Der ehemalige Redakteur von The Intercept Glenn Greenwald erhielt Morddrohungen, nachdem Bolsonaro ihn beschuldigt hatte, bei seinen Ermittlungen zu Moros Fehlverhalten im Korruptionsprozess rund um die »Operation Autowäsche« illegal an Informationen gelangt zu sein. Diese Anschuldigung könnte ironischer kaum sein. Schließlich war es Moro und nicht Greenwald, der sich durch illegale Abhörmaßnahmen Informationen beschafft hatte. Doch Angriffe auf die brasilianische Presse gehören zum Repertoir von Bolsonaros Regierungsstil. Mittlerweile prangern selbst die liberalen Medien, die ihn 2018 unterstützt haben, die schwindende Pressefreiheit an.
Am 28. Juli 2021 verhaftete die Polizei Mitglieder des Kollektivs Periphery’s Revolution in São Paulo, weil sie eine Statue von Borba Gato in Brand gesetzt hatten. Gato war ein berüchtigten Sklavenhändler oder Bandeirante, der für die Ermordung und Vergewaltigung indigener Menschen sowie für den Raub ihres Landes verantwortlich war. Obwohl die Statue nur oberflächlich beschädigt wurde, stufte der Richter die verantwortlichen Aktivisten als Terroristen ein und weigerte sich, die Freilassungsanordnungen eines höheren Gerichts zu befolgen. Die anwaltliche Vertretung war dadurch gezwungen, in Berufung zu gehen, und die sozialen Bewegungen mussten sich gegen die Kriminalisierung der Aktivistinnen wehren. Kurzum: Die Polizei nutzte die Brandstiftung als Vorwand für die Verhaftung von Gegnerinnen der derzeitigen Regierung.
Politische Aktivistinnen des »Terrors« zu bezichtigen, ermöglicht es den Konservativen, die Praxis der direkten Aktion mit lebensbedrohlichen Angriffen auf die Allgemeinheit gleichzusetzen. Brasilien ist natürlich nicht das einzige Land, das nach dem Beginn des von den USA geführten globalen »War on Terror« die Liste der Straftaten, für die Personen nach Maßgabe von Anti-Terror-Gesetzen verfolgt werden können, massiv erweitert hat. In früheren Entwürfen der brasilianischen Anti-Terror-Gesetzgebung unter Rousseff waren politische Beweggründe eines der Kriterien für die Einstufung einer Straftat als terroristischer Akt. Glücklicherweise fand diese Überlegung keinen Eingang in die endgültige Fassung des Gesetzes.
Bolsonaros Regierung möchte das ändern. Die Anti-Terror-Gesetzgebung soll von Strafverfolgungsbehörden auch zur Einschränkung des Demonstrationsrechts genutzt werden können. Der überarbeitete Gesetzentwurf sieht vor, die Befugnisse der Geheimdienste und Sicherheitskräfte auszuweiten. Das Gesetz würde zudem bereits die Vandalisierung von Statuen aus politischen Gründen als terroristischen Akt einstufen, für den die beteiligten Personen eine Haftstrafe zwischen zwölf und dreißig Jahren erhalten könnten.
Sollte es Bolsonaro gelingen, dieses Anti-Terror-Gesetz zu verabschieden, hätte das katastrophale Folgen für die Linke. In der Zwischenzeit hat sich der Kongress endlich dazu entschlossen, ein anderes Gesetz, das zur Verfolgung der Opposition benutzt wurde, durch einen Vorschlag zu ersetzen, der seit 1991 ignoriert worden war. Dieses »neue« Gesetz ersetzt das aus der Militärdiktatur stammende Gesetz zur nationalen Sicherheit, indem es stattdessen eine Liste von Verbrechen gegen den »rechtmäßigen demokratischen Staat« in das Strafgesetzbuch aufnimmt. Dieses alternative Gesetz wurde vom brasilianischen Präsidenten noch nicht abgesegnet.
Bolsonaros präsentiert seinen Gesetzentwurf als relativ moderat. Sein Ziel sei es, gegen die beiden politischen Extreme des Kommunismus und des Faschismus vorzugehen. Doch dieses Framing sollte man nicht beim Wort nehmen. Denn tatsächlich zielt das Gesetz eindeutig darauf ab, die Linke zu kriminalisieren und dieser Kriminalisierung einen Anstrich der Unparteilichkeit zu verpassen, indem es sich zumindest nominell auch gegen rechte Kräfte richtet. Träte dieses Gesetz in Kraft, könnten die Behörden beispielsweise anordnen, das Denkmal von Carlos Marighella, einem kommunistischen Revolutionär und ehemaligen Kongressabgeordneten, der 1969 vom diktatorischen Regime ermordet wurde, zu entfernen. Sie erhielten so eine gesetzlich sanktionierte Möglichkeit, die radikale Geschichte Brasiliens auszulöschen.
Trotz seines Appells gegen den Extremismus, ist ein Großteil von Bolsonaros Unterstützung der extremen Rechten zuzuordnen. Der brasilianische Präsident ist sogar so weit gegangen, öffentlich Bewunderung für Hitlers Führungsstil zu äußern. Unter medialem Druck musste Bolsonaros Kultursekretär Roberto Alvim zurücktreten, nachdem er eine Rede gehalten hatte, die deutliche Anspielungen auf Joseph Goebbels’ Hetzreden aus der Nazi-Zeit enthielt. In der im Fernsehen übertragenen Rede behauptete Alvim in Anlehnung an die Worte des Nazi-Propagandaministers, die brasilianische Kunst müsse »heroisch und national sein«.
Wollte Eduardo Bolsonaro tatsächlich die extreme Rechte ins Visier nehmen, müsste er seine Aufmerksamkeit auf die Regierung richten. Seine eigentliche Absicht ist natürlich nicht, extreme Positionen zu unterbinden, sondern antikommunistische Panik zu schüren – eine Aufgabe, von der er weiß, dass sie leichter zu erfüllen ist, wenn er sie mit dem Kampf gegen den Faschismus in Verbindung bringt. Selbst wenn das Gesetz nie verabschiedet wird, kann die Rechte die Marginalisierung der Linken vorantreiben, indem sie die Verbindung zwischen den beiden Ideologien immer wieder herstellt und deren Politik als jenseits der akzeptablen Überzeugungen präsentiert.
Der Einsatz des Gesetzes gegen gegnerische Kräfte der Regierung Bolsonaro stellt die Linke vor ernsthafte Probleme. Brasilianische Progressive haben einige Male versucht, die Politik der Bestrafung gegen die Elite einzusetzen. So ist in den letzten Jahren der Slogan »Gefängnis für Bolsonaro« bekannt geworden. Die Tatsache, dass Graswurzel-Bewegungen immer noch an dem naiven Glauben festhalten, sie könnten politische Unterdrückung abschaffen, indem sie sie kriminalisieren, ist äußerst alarmierend.
Denn in Brasilien arbeiten Polizei und Justiz daran, unterdrückerische gesellschaftliche Verhältnisse aufrechtzuerhalten. Und wenn die Linke ihre derzeitige Malaise überwinden will, darf sie sich nicht an die Hoffnung klammern, dass sie sich auf ein korruptes und von Eliten besetztes Justizsystem verlassen kann, um Gerechtigkeit zu schaffen.
Sabrina Fernandes ist eine brasilianische öko-sozialistische Organizerin und Referentin. Sie hat in Soziologie an der Carleton University, Kanada, promoviert und ist Postdoktorandin bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Außerdem betreibt sie den marxistischen Youtube-Kanal Tese Onze.
Sabrina Fernandes ist eine brasilianische öko-sozialistische Organizerin und Referentin. Sie hat in Soziologie an der Carleton University, Kanada, promoviert und ist Postdoktorandin bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Außerdem betreibt sie den marxistischen Youtube-Kanal Tese Onze.