22. September 2023
Der Historiker Jairus Banaji wirft einen neuen Blick auf den Ursprung des Kapitalismus und zeigt: Handelskapital spielte eine größere Rolle, als gedacht. Seine Arbeit ist wegweisend, um zu verstehen, wie unser globales Wirtschaftssystem entstand.
Das Gemälde »La città del buon governo« von Ambrogio Lorenzetti (1338–1340) stellt Kaufleute auf dem Lande dar.
Der Historiker Jairus Banaji erforscht die Ursprünge des Kapitalismus. Sein Buch A Brief History of Commercial Capitalism von 2020 widmet sich zentralen theoretischen Debatten – insbesondere innerhalb der marxistischen Tradition – die die Anfänge des Kapitalismus beleuchten.
Banajis Werk stellt zahlreiche etablierte Erzählungen der globalen Wirtschaftsgeschichte infrage – einschließlich der Vorstellungen eines wirtschaftlich rückständigen Mittelalters und eines geradlinigen Übergangs zur Moderne. Mithilfe einer Fülle von beeindruckenden Beispielen aus verschiedenen Teilen der Welt über fast ein Jahrtausend zeichnet Banaji Bilder, die grundlegende Fragen für alle aufwerfen, die verstehen möchten, wie das Weltwirtschaftssystems entstand und Einblicke in seine zukünftige Entwicklung gewinnen wollen.
A Brief History of Commercial Capitalism löste viele Reaktionen von Banajis Kolleginnen und Kollegen innerhalb der Geschichtswissenschaft aus. Doch auch für Außenstehende dürfte Jairus Banajis Arbeit besonders interessant sein. Im folgenden Überblick werde ich kurz Banajis akademische Hintergründe und seine Hauptargumente beleuchten, bevor ich auf die Diskussion eingehe, die durch das Buch angestoßen wurde.
Jairus Banaji, 1947 im Jahr der Unabhängigkeit Indiens in Pune geboren, erhielt seine schulische Ausbildung in England. Nach der Rückkehr in seine Heimat Indien engagierte er sich politisch. Wissenschaftlich arbeitet Banaji als Historiker für den spätantiken und mittelalterlichen Mittelmeerraum sowie den Nahen Osten. Sein Interesse gilt der langen Geschichte des Kapitalismus. Darüber hinaus umfasst Banajis Forschung eine Vielzahl von Themen. Darunter ist die Entwicklung des Bauernstandes in einer zunehmend globalisierten Wirtschaft und die Geschichte der Handelswirtschaft im letzten Jahrtausend.
Banajis Hauptanliegen in A Brief History ist es, den Begriff des Handelskapitalismus als Kategorie in den Fokus zu rücken, um das Entstehen der modernen globalen Wirtschaft zu untersuchen. Innerhalb seiner Arbeit wird der Begriff des Handelskapitalismus verwendet, um das gewinnorientierte Wirtschaftssystem zu beschreiben. In diesem setzen Händler und Kaufleute Kapital ein, um Waren in Umlauf zu bringen, direkte Kontrolle über die Produktion zu erlangen und diese ihren Interessen unterzuordnen.
Mit seinem Fokus auf die Kontrolle der Kaufleute über die Produktion stellt sich Banaji gegen die traditionelle marxistische Trennung zwischen der Handelssphäre (der »Zirkulationssphäre«) und der Produktion – eine Trennung, die marxistische Ökonomen und Historiker wie Maurice Dobb dazu veranlasste, die Idee des Handelskapitalismus als einen Widerspruch in sich selbst abzulehnen.
Es waren vorwiegend Historiker außerhalb der marxistischen Tradition, die den Begriff des Handelskapitalismus übernahmen. Hervorzuheben ist Fernand Braudel, der den Begriff nutzte, um die Produktion und den Handel in Europa und im Mittelmeerraum zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert zu beschreiben.
»Mit seinem Fokus auf die Kontrolle der Kaufleute über die Produktion stellt sich Banaji gegen die traditionelle marxistische Trennung zwischen der Handelssphäre und der Produktion.«
Obwohl Banaji aus der marxistischen Wissenschaftstradition kommt, unterscheiden sich seine zentralen Bezugspunkte von denen der meisten westlichen marxistischen Historiker. Er stützt sich insbesondere auf die Arbeiten von drei russischen Forschern des frühen 20. Jahrhunderts: dem Historiker Michail N. Pokrowsky, dem Ökonomen Jewgeni A. Preobraschenski und dem Agrarökonomen Alexander W. Tschajanow.
In den 1920er Jahren galt der Michail N. Pokrowsky als einer der bedeutendsten sowjetischen Wissenschaftler. Vorwiegend unter den Historikern seiner Zeit genoss er großes Ansehen. In einer entscheidenden Abkehr von der orthodoxen marxistischen Sichtweise, die unter Josef Stalin etabliert worden war, betonte Pokrowskys die zentrale Rolle des Handelskapitals als treibende Kraft des sozioökonomischen Wandels im Russland des 17. und 19. Jahrhunderts. Allerdings stellt er ausdrücklich fest, dass das Vorhandensein und Funktionieren des Handelskapitals nicht zwangsläufig auf das Entstehen einer kapitalistischen Wirtschaft hindeuten.
Jewgeni A. Preobraschenski beschäftigte sich früh mit der vom Industriekapital vorgenommenen, »seitlichen Marktdurchdringung« der ländlichen Gebiete. Ähnlich wie Pokrowsky betont Preobraschenski, dass die einfache Warenproduktion charakteristisch für den Handelskapitalismus ist. Diese Produktion war aber auch ein zentrales Hindernis für den Kapitalismus, um sich weiter auszubreiten. Im Einklang mit Agrarmarxisten hielt Preobraschenski den Kapitalismus für die Kraft, die die Kleinbäuerinnen und Kleinbauern entwurzelte und letztendlich ihr Ende herbeiführte. Er glaubte, dies geschehe als Ergebnis von zwei Prozessen: Zum einen entwickelten sich kapitalistische Beziehungen innerhalb der Bauernschaft. Dadurch bildete sich eine neue Klasse von reichen Bauern, die die großflächige Landwirtschaft kontrollierte. Zum anderen wurden ländliche Gebiete weitreichend der Großindustrie untergeordnet, wodurch ein neuer Stand landloser Bauern entsteht, die nun für andere Personen Pflanzen anbauten (Cash Crops).
Alexander W. Tschajanow war einer der bedeutendsten Agrarökonomen seiner Generation. In seinem Buch Die Lehre von der bäuerlichen Wirtschaft betont Tschajanow die Widerstandsfähigkeit der bäuerlichen Haushalte, um der Wirkung des Kapitalismus standzuhalten. Das sahen die Agrarmarxisten und Preobraschenski anders. Doch Tschajanow argumentiert, kapitalistische Tendenzen und die Konzentration der Produktion in der Landwirtschaft führen nicht zwangsläufig dazu, dass Bauern enteignet werden und große kapitalistische Betriebe entstehen.
Tschajanow zufolge konnte das Handels- und Finanzkapital seine Kontrolle auch subtiler ausüben, indem es eine wirtschaftliche Hegemonie über beträchtliche Teile der Landwirtschaft etablierte. In der Zwischenzeit blieben diese Sektoren hinsichtlich der Produktion unverändert. Das heißt, dass sie sich weiterhin aus kleinbäuerlichen Betrieben zusammensetzten, die von Familien betrieben werden.
Banajis Arbeit zeigt, dass diese scheinbar unvereinbaren Modelle sich ergänzen können. Jedes beschreibt einen möglichen Verlauf, wie das Kapital ländliche Gebieten durchdringen könnte. Die Modelle spiegeln aber auch die verschiedenen Etappen in Banajis Denken wider.
Preobraschenskis Modell der seitlichen Marktdurchdringung griff Banaji in seinen frühen Schriften auf. Damit zeigte er, wie zerstörerisch die Industrialisierung auf die russische Landbevölkerung im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert wirkte. Banajis verglich anhand Preobraschensksis Modell Bauernschaften auf der ganzen Welt. Später betrachtete Banaji dieses Modell jedoch nur mehr als eine von mehreren Möglichkeiten, wie das Industriekapital in ländliche Gebiete eindringt. Banaji wurde dabei durch ein wiederaufkommendes Interesse an Tschajanows Arbeit beeinflusst. Tschajanows Verständnis der Beziehung zwischen der Bauernschaft und dem Kapital inspiriert dann Banajis A Brief History.
Diese Neubewertung von Tschajanows Werk führt dazu, dass Banaji die historischen Umstände in sein Modell einbezieht, unter denen bäuerliche Haushalte sich der Durchdringung des Kapitalismus widersetzt haben. Wir müssen eine solche Widerstandsfähigkeit so verstehen, dass bäuerliche Haushalte nicht entwurzelt, sondern vielmehr eingemeindet wurden – ein Akt, der wiederum Konflikte und Widerstand der Bauern und Bäuerinnen ermöglichte. Während solche Haushalte in großer Zahl weiterhin existierten, prägte nun das Kapital in hohem Maße, wie die soziale Reproduktion ablief.
Im Gegensatz zu seinen früheren Texten verfolgt Banaji in A Brief History nicht mehr hauptsächlich das Ziel, nicht-kapitalistische Produktionsweisen theoretisch von dem zu unterscheiden, was Karl Marx als »kapitalistische Produktionsweise« bezeichnete. Stattdessen befasst er sich mit dem Kapitalismus in weniger normativen Begriffen und argumentiert insbesondere dafür, dass eine Form von »Handelskapitalismus« in bestimmten Regionen der Welt lange vor der Industrialisierung existierte. Diese Zeitspanne erstreckte sich mindestens vom 12. bis zum 18. Jahrhundert.
Banaji bietet zwar keine formale Definition des Handelskapitalismus an. Doch seine Bedeutung lässt sich dennoch durch die Kombination seiner Analyse in diesem Buch mit seinen früheren theoretischen Schriften erfassen. Fernand Braudel betrachtete den Kapitalismus als ein globales Netzwerk von Bankiers und Großhändlern, das von urbanen Finanzzentren aus die wirtschaftlichen Angelegenheiten des täglichen Lebens lenkte, ohne direkte Kontrolle über die Primärproduzenten auszuüben. Banaji hingehen identifiziert die lange Geschichte des Kapitalismus anhand seiner charakteristischen sozialen Beziehungen.
»Banaji argumentiert gegen die weit verbreitete marxistische Auffassung, dass Handelsvermögen kein Kapital im marxschen Sinne darstellt.«
Der Kapitalismus ist ein System, in dem Inhaberinnen und Inhaber von Kapital begrenzt Kontrolle über die Produktionsmittel ausüben und Arbeit zu einer handelbaren Ware machen, die gekauft und verkauft werden kann. Die Konfrontation zwischen einem Kapitalisten und einem Bauern oder einer Handwerkerin – einer Person, deren Überleben vom Verkauf ihrer Arbeitskraft abhängt – steht im Mittelpunkt von Banajis Analyse.
Ausgehend von dieser Unterscheidung argumentiert Banaji gegen die weit verbreitete marxistische Auffassung, dass Handelsvermögen kein Kapital im marxschen Sinne darstellt, weil es außerhalb des Produktionsprozesses bleibt. Nach Marx ist der Reichtum der Kaufleute von der »reellen Subsumtion der Arbeit unter das Kapital« getrennt. Das bedeutet, dass die Kaufleute lediglich Gewinn machen, indem sie Produkte von Primärproduzenten weiterverkaufen.
Banaji argumentiert, dass der merkantile Reichtum tatsächlich aus Kapital besteht. Die Kaufleute würden vom 12. bis zum 18. Jahrhundert dieses Kapital systematisch einsetzten, um die Arbeit eines beträchtlichen Teils der Bevölkerung in Afrika und Eurasien zu kontrollieren und auszubeuten. Er identifiziert zwei Produktionsbereiche, in denen das Eindringen des Handelskapitals besonders ausgeprägt war.
Der erste Bereich umfasst die Landwirtschaft, in der sich die »Handelskapitalisten« mit verschiedenen Mitteln große Mengen an unbezahlter Familienarbeit aneigneten und damit Bauern in ein Schuldverhältnis drängten. Handelskapitalisten waren Grundbesitzer, die zu Kaufleuten wurden. Manchmal waren es Kaufleute einschließlich Geldverleiher, die Interesse an der Kontrolle von Cash-Crop-Anbauflächen hatten. Sie bildeten eine Gruppe, die historisch sehr schwer zu fassen ist.
Der zweite Sektor ist die handwerkliche Produktion oder die »kaufmännische Fertigung«, wie Banaji es nennt. In diesem Bereich zwangen die Kaufleute die Armen auf dem Land und in der Stadt, Seide, Wolle und Baumwolle für den Markt zu verarbeiten. Dies bedeutete, dass sie nicht nur Überschüsse verkauften, sondern für einen auf Heimarbeit ausgelegten Stücklohn arbeiteten, den die Kaufleute zahlten.
In A Brief History untersucht Banaji die »Akkumulationsübergänge«, die vom Handels- zum Industriekapitalismus führen. Während Handelskapitalisten die Landwirtschaft – einschließlich des Bergbaus, der Ausbeutung der Meeresressourcen und so weiter – für kapitalistische Ausbeutung öffnen, heben Industriekapitalisten diesen Prozess auf eine ganz andere Ebene. Das Ausmaß der Unterwerfung, die Art der Auswirkungen und der Grad der Subsumtion unterscheiden die Unterdrückung des ländlichen Raums unter die industrielle Akkumulation von früheren Zyklen des »Kapitalismus«.
Banaji sieht nicht nur, wie sich Mechanismen der Ausbeutung im Industriekapitalismus rasch intensivieren. Er stellt auch eine radikale Verschiebung bei der Gewinnverteilung zwischen Kaufleuten und Industriellen zugunsten der letzteren fest. Im 19. Jahrhundert gelang es denen, die die Produktion direkt kontrollierten, die Kaufleute an den Rand zu drängen und das Handelskapital unter das industrielle Kapital unterzuordnen – wie von Marx beschrieben.
»Heutzutage kontrollieren globale Handelskonzerne auf dem Weltmarkt die Produktion durch die Ströme des Handelskapitals, ohne die Produktionsmittel zu besitzen.«
Dies scheint für Banaji der Hinweis auf eine andauernde Trennung zwischen der Ära des Handelskapitalismus und der des industriellen Kapitalismus zu sein; einer Ära, die das Etikett einer kapitalistischen Produktionsweise durchaus verdient. Allerdings waren diese Übergänge vom Handels- zum Industriekapitalismus zeitlich und räumlich multilinear. Sie folgten keiner festen Etappenabfolge und erwiesen sich als umkehrbar, wie gegenwärtige Entwicklungen zeigen.
Heutzutage kontrollieren globale Handelskonzerne auf dem Weltmarkt die Produktion durch die Ströme des Handelskapitals, ohne die Produktionsmittel zu besitzen. Nelson Lichtenstein merkte dazu an: »Die Hegemonie des Einzelhandels im 21. Jahrhundert erinnert und wiederholt geradezu die Merkmale des merkantilen Regimes, über das einst die großen Kaufleuten und Bankhäusern des 17. und 18. Jahrhunderts in Amsterdam, Hamburg und der Londoner City walteten.«
Kurz gesagt, ein braudelscher Unternehmertypus ist »zurückgekehrt, um das zeitgenössische globale System zu untermauern«.
Banajis Darstellung des »Handelskapitalismus« kann daher mehrere Ebenen und unterschiedliche Grade der Integration von Produktion und Zirkulation berücksichtigen. Sie verweist auf die treibende Kraft des Kapitals als gemeinsamen Nenner der unterschiedlichen Zusammensetzungen. Das daraus resultierende Modell des Handelskapitalismus ist eines der ungleichmäßigen und kombinierten Entwicklung. Es verwirft die Vorstellung einer linearen Abfolge verschiedener Produktionsweisen – antik, feudal und kapitalistisch – und befreit die Geschichten des Kapitalismus von Eurozentrismus und Orientalismus.
Seit seiner Veröffentlichung im Jahr 2020 erregte A Brief History die Aufmerksamkeit einer breiten und vielfältigen Gruppe von Spezialistinnen und Spezialisten, die sich mit der Geschichte des Kapitalismus beschäftigten. Dies führte zu zahlreichen Rezensionen, die das Werk kritisch beleuchten und diskutieren. Unterschiedliche Autorinnen und Autoren haben dabei verschiedene Bedenken hinsichtlich diverser Aspekte von Banajis Verständnis des Kapitalismus geäußert. Es lassen sich drei Hauptthemen identifizieren: (1) die Definition des Handelskapitalismus, (2) die Beziehung zwischen dem Aufstieg des Handelskapitalismus und dem Staat und (3) die Auswirkungen des Handelskapitalismus und des Kolonialismus auf das gesellschaftliche Leben.
Die erste Kritik bezieht sich auf Banajis weite Definition des Handelskapitalismus. Lorenzo Bondioli weist darauf hin, dass die von Banaji erstmals im neunten Jahrhundert identifizierten Infrastrukturen des Handelskapitalismus tiefere Wurzeln haben, als A Brief History vermuten lässt. Ihre Grundlagen wurden bereits in der Spätantike gelegt, reichten mitunter bis in die eigentliche Antike zurück und setzten sich kontinuierlich bis ins Mittelalter fort.
Davon ausgehend unterscheidet Bondioli drei potenzielle Definitionen des Kapitalismus und bemüht sich, zwischen ihnen eine nicht-teleologische Beziehung zu skizzieren. Die erste Definition beschreibt den Kapitalismus der Kaufleute, die Geldvermögen als Kapital einsetzten, indem sie Mehrwert aus unterschiedlich untergeordneten Produzierenden zogen. Die zweite Definition besagt, dass der Kapitalismus von kolonialen Handelsstaaten geprägt war, die organisierte Gewalt in den Dienst der Kapitalakkumulation durch kapitalistische Kaufleute stellten. Drittens gibt es den Kapitalismus der modernen industriellen Gesellschaft, also einer voll entwickelten kapitalistischen Produktionsweise.
Ein weiteres Kriterium, das Banaji in seiner Analyse des Handelskapitalismus anwendet, sind die Staatseingriffe in der Weltwirtschaft. Banaji sieht im »Zusammenspiel zwischen Handel und Staat« – das heißt im Aufstieg der merkantilistischen Staaten im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa – eine signifikante Veränderung im Prozess der Kapitalakkumulation und der Unterwerfung der Arbeitskräfte. Es ist jedoch möglich, ein solches Zusammenspiel und insbesondere die Beteiligung von Kaufleuten an den Staatsfinanzen in vielen historischen Kontexten zu beobachten.
Dies deutet darauf hin, wie Martha Howell deutlich zeigt, dass nicht allein das Vorhandensein eines Staates, der mit Kaufleuten zusammenarbeitet, für die Beschleunigung der Kapitalakkumulation ausschlaggebend war. Auch war es nicht irgendeine Art von Staat – wie die von Andrew Liu untersuchten muslimischen tributpflichtigen Staaten oder chinesischen Dynastien – die eine Verschiebung im Ausmaß der Kapitalakkumulation und der Unterwerfung der Arbeitskräfte bewirkte.
»Wir können die Geschichte des Kapitalismus nicht schreiben, ohne neben der sozialen Klasse auch die Überschneidung verschiedener Mechanismen rassistischer, sexisitischer und nationalistischer Unterdrückung zu berücksichtigen.«
Vielmehr war es nur derjenige Staat, der Aggression und Gewalt exportierte, der eine solche Verschiebung kontrollierte. Diese Sicht rückt die zentrale Verbindung zwischen Handelskapitalismus und Kolonialismus in den Mittelpunkt und betont, dass es die koloniale Gewalt war, die einen Wandel in der Qualität und Funktionsweise des Handelskapitals bewirkte.
Somit gelangen wir zum dritten Diskussionspunkt an Banajis Darstellung: der Verbindung zwischen Handelskapitalismus und Kolonialismus. Wie sowohl Priya Satya als auch Sheetal Chhabria treffend feststellen, trennt Banaji nicht zwischen Rasse und Klasse oder Kaste und Klasse. Diese Unterscheidungen sind jedoch wichtig, da sie es uns ermöglichen, den Punkt zu identifizieren, an dem sich der Handelskapitalismus mit dem Kolonialismus kreuzte und begann, von Rassen- oder Kastenidentitäten abhängig zu werden.
Diese Lücke deutet auch auf eine umfassendere Kritik hin. Banaji verdeutlicht in seiner Analyse der Produktionsverhältnisse nicht immer deutlich, wie der Handelskapitalismus das Leben der ihm unterworfenen Menschen gewaltsam beeinflusste und umgestaltete. Mit anderen Worten: Es stellt sich die Frage, inwiefern der von Banaji beschriebene Handelskapitalismus die Formen des gesellschaftlichen Lebens an verschiedenen Orten und Zeiten grundlegend verändert hat oder nicht.
Diese Frage könnte eine Reihe von vielversprechenden Forschungsansätzen eröffnen, die alle in eine Richtung zu weisen scheinen. Wir können die Geschichte des Kapitalismus nicht schreiben, ohne neben der sozialen Klasse auch die Überschneidung verschiedener Mechanismen rassistischer, sexisitischer und nationalistischer Unterdrückung zu berücksichtigen. Diese umfassen das Bild davon, wie »verschiedene Ebenen der Unterdrückung« das Leben der einfachen Menschen im Kapitalismus verändert haben.
Der Text ist eine gekürzte Version der Einleitung für eine Sonderausgabe der Zeitschrift Storica über das Werk von Jairus Banaji.
Paolo Tedesco lehrt Geschichte an der Universität Tübingen. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Gesellschafts- und Wirtschaftsgeschichte der späten Antike und des frühen Mittelalters, die vergleichende Agrargeschichte und der historische Materialismus.