05. Januar 2024
Japan war das erste kapitalistische Land in Asien und ist heute fester Bestandteil westlicher Bündnisse. Das kommt nicht von ungefähr – vor allem die USA haben militärisch, ökonomisch und ideologisch dafür gesorgt, das Land in ihren Block zu integrieren.
Der japanische Premierminister Fumio Kishida und US-Präsident Joe Biden bei einer Pressekonferenz der G7 während des NATO-Gipfels im Juli 2023.
Japan wird geografisch dem Osten zugerechnet und auch seine kulturellen Traditionen gelten als größtenteils östlich. Politisch ist es aber schon lange Teil des Westens und eine kapitalistische Wirtschaftsnation. Dafür mussten westliche Nationen militärischen und politisch-ökonomischen Zwang ausüben, aber auch ideologische Überzeugungsarbeit leisten.
Die USA machten besonders zweimal in der Geschichte ihren Einfluss auf Japan geltend, um das Land in eine bestimmte Entwicklungsrichtung zu drängen: Mitte des 19. Jahrhunderts und rund hundert Jahre später in den 1950er und 60er Jahren. Im Jahr 1854 fuhren US-amerikanische Kanonenboote in die Bucht von Edo (später Tokyo genannt).
Die ungebetenen Gäste zeigten den damaligen japanischen Machthabern die militärisch-technische Überlegenheit des Westens auf. Da Japan nicht von den USA überrannt und kolonisiert werden wollte, musste es sich dem Handel öffnen. Dafür schloss das Land ungerechte Verträge mit westlichen Mächten ab.
»Um im imperialistischen System der westlichen Weltmächte mitspielen zu können, beging Japan ganz ähnliche Verbrechen wie diese.«
Der Druck der Amerikaner und innere Widersprüche im System der Militärherrschaft führten dann zur Meiji-Restauration, bei der der japanische Kaiser (Tennô) wieder politische Macht gewann. Dieser Umbruch gilt als der Beginn der japanischen Moderne, in der es Japan binnen weniger Jahrzehnte gelang, sich westliches naturwissenschaftliches, technisches und militärisches Wissen anzueignen. Japan war das erste asiatische Land, das die kapitalistische Wirtschaftsweise erfolgreich adaptierte. Spätestens mit dem Sieg im Russisch-Japanischen Krieg 1905 wurde es ein ernstzunehmender Konkurrent der westlichen Nationen.
Um im imperialistischen System der westlichen Weltmächte mitspielen zu können, beging Japan ganz ähnliche Verbrechen wie diese. Es kolonisierte andere Völker – etwa in Korea oder der Mandschurei – und assimilierte unter Zwang das indigene Volk der Ainu, das im Norden des heutigen Japans lebt.
Nach einer kurzen Phase der gesellschaftlichen Liberalisierung entwickelte sich das Land ab Mitte der 1930er Jahre zu einem autoritären Staat. Dieser ähnelte in vielen Punkten Nazi-Deutschland und dem faschistischen Italien, mit denen Japan 1940 folgerichtig ein militärisches Bündnis schloss. Die politische Linke – wie die japanischen Anarcho-Syndikalisten und die Kommunistische Partei Japans, die sich 1922 gegründet hatte – wurde von der japanischen Regierung in die Illegalität gedrängt und schweren Repressionen ausgesetzt.
Auf dem Höhepunkt seiner Expansion umfasste das japanische Kaiserreich mit seiner »Großostasiatischen Wohlstandssphäre« Gebiete von der Mandschurei und Burma im Westen bis Papua-Neuguinea im Osten. Mit dem Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 trat Japan in den Zweiten Weltkrieg ein. Auch als Folge der atomaren Kriegsverbrechen in Hiroshima und Nagasaki unterschrieb der japanische Kaiser die bedingungslose Kapitulation des Japanischen Kaiserreichs am 2. September 1945.
Nun nahmen die USA zum zweiten Mal starken Einfluss auf die japanische Entwicklung. Man versuchte, Japan im Kalten Krieg auf die Seite des Westens zu ziehen. Die US-amerikanische Besatzung der japanischen Hauptinseln endete offiziell 1952 mit der Unterzeichnung des Friedensvertrags. Okinawa hingegen wurde 1972 in die japanische Souveränität entlassen. Die USA wollten diese zwischen China, Japan und Korea gelegenen Inseln länger unter direkter Kontrolle halten, weil die dortigen Militärbasen geostrategisch ungemein wichtig waren.
Die Blockkonfrontation zwischen der Sowjetunion und den USA nahm nach dem Zweiten Weltkrieg schnell an Fahrt auf. Bis in die 1960er Jahre war es aber keineswegs klar, welchen Weg Japan einschlagen würde: Würde es den USA auf dem Weg in den politischen Westen folgen, würde es die Sowjetunion im realsozialistischen Lager verstärken oder würde es sich keinem der beiden politischen Blöcke anschließen? Für die zweite und dritte Option sprach vor allem die Stärke des Marxismus in Japan.
»Gerade die kommunistische Bewegung besaß unter der Bevölkerung große Glaubwürdigkeit, weil sie die einzige war, die dem Kriegskurs konsequent opponiert hatte.«
Die von der US-amerikanischen Besatzungsmacht forcierten Reformen waren in Teilen progressiv: Sie trieben Demokratisierung und Demilitarisierung voran und bauten die zerstörte Wirtschaft wieder auf. Man plante sogar, die Zaibatsu genannten großkapitalistischen Familienunternehmen zu zerschlagen. Die Amerikaner machten diese Kapitalkonzentration nämlich mitverantwortlich für den japanischen Militarismus.
Durchgeführt wurde die Zerschlagung allerdings nicht, denn einige der Zaibatsu wurden im Kalten Krieg wieder gebraucht. Die japanische Verfassung wurde zwar von der Besatzungsmacht eingebracht, basierte aber in großen Teilen auf einheimischen progressiven Entwürfen. Sie enthält beispielsweise einen Artikel, der Japan zum Antimilitarismus verpflichtet und nur Selbstverteidigung erlaubt.
Schon kurz nach Kriegsende wurden sozialistische und kommunistische Gruppen legalisiert. Gerade die kommunistische Bewegung besaß unter der Bevölkerung große Glaubwürdigkeit, weil sie die einzige war, die dem Kriegskurs konsequent opponiert hatte und dafür heftige Repressionen erleiden musste. Auch unter Intellektuellen war der Marxismus sehr beliebt.
Doch schon bald sahen es die USA als nötig an, wegen der immer zunehmenden Blockkonfrontation mit der Sowjetunion und ihren Verbündeten die japanische Linke einzudämmen. Maos Sieg in China machte Japan für die USA als antikommunistischen Verbündeten in Asien notwendig. Doch ein großer Teil der japanischen Bevölkerung missbilligte die Aufrüstung und die Präsenz des US-Militärs. So kam es in den 1950er Jahren zu Massenprotesten gegen US-amerikanische Militärbasen, bei denen sowohl die Kommunistische als auch die Sozialistische Partei mitwirkten.
In den Jahren 1959/60 gab es Massendemonstrationen gegen den Amerikanisch-Japanischen Sicherheitsvertrag, der auf Japanisch ANPO abgekürzt wird. In ihm ging es um nichts Geringeres als die Frage der japanischen Souveränität, denn er erlaubte es den USA, weiter Militärbasen auf Japan zu betreiben.
Als der Sicherheitsvertrag 1960 im Parlament verabschiedet werden sollte, erschütterten wochenlange Proteste Japan und auf den Straßen Tokyos demonstrierten hunderttausende Menschen. Die Proteste waren sehr vielfältig und reichten bis weit in das bürgerlich-liberale Lager hinein. Doch insbesondere die Kommunistische Partei und ihre Organisationen hatten bedeutenden Einfluss auf die Demonstrationen.
Die JKP hatte in den 1950ern Jahren einen Wandlungsprozess vollzogen: Säuberungswellen des japanischen Staats beschleunigten die Abkehr von militanten revolutionären Aktionen hin zu einer parlamentarischen Transformationsstrategie. Diese Parteiausrichtung führte zur Abwendung vieler junger Aktivistinnen und Aktivisten von der Partei, der sie oft auch eine Nähe zum Stalinismus vorwarfen. Diese Menschen konstituierten dann die japanische Neue Linke, von der wiederum ein Teil in den 1970er Jahren im Sektierertum und im Terrorismus endete.
»Indem Japan die westliche Modernisierungstheorie akzeptierte, stimmte es letzten Endes auch der Eingliederung in den kapitalistischen Wirtschaftsblock zu.«
Der damalige japanische Premierminister Kishi Nobusuke hatte im Zweiten Weltkrieg im Kriegsministerium gearbeitet und saß drei Jahre lang als mutmaßlicher Kriegsverbrecher im Gefängnis. Die USA ließen ihn später in der Hoffnung frei, dass er in Zukunft eine pro-amerikanische Regierung führen würde. Kishi hatte jedoch Probleme, den Sicherheitsvertrag unter gängigen Regeln durch das Parlament zu bekommen, weil die Sozialistische Partei den Gesetzgebungsprozess geschickt verzögerte.
Als der Druck immer größer wurde und der Besuch Eisenhowers kurz bevorstand, ließ er die protestierenden sozialistischen Abgeordneten von der Polizei aus dem Parlament entfernen und boxte das Gesetz im Schnellverfahren ohne Opposition am 19. Mai 1960 durch das Parlament. Dies brachte auch zahlreiche konservative und liberale Politiker dazu, Sorgen über die Zukunft der Demokratie Japans zu äußern und sich gegen Kishi zu stellen.
Nach diesen Geschehnissen im Parlament steuerten die Proteste gegen den Sicherheitsvertrag auf ihren Höhepunkt zu. Als Antwort auf die Übergriffe rechter Gruppen auf friedliche Demonstrationen versuchten Protestierende, den Platz vor dem Parlament zu stürmen. Dabei kam eine Demonstrantin ums Leben. Wegen der sehr aufgeheizten Atmosphäre wurde der Besuch Eisenhowers abgesagt und Kishi trat kurze Zeit später zurück.
Neben den politischen und militärischen Maßnahmen taten die USA auch in ideologischer Hinsicht ihr Bestes, um Japan auf die Seite des kapitalistischen Westens zu ziehen. Indem Japan die westliche Modernisierungstheorie akzeptierte, stimmte es letzten Endes auch der Eingliederung in den kapitalistischen Wirtschaftsblock zu.
Die zwei Hauptvertreter der Modernisierungstheorie gegenüber Japan waren der berühmte Soziologe Talcott Parsons und Edwin Reischauer. Letzterer hatte in den Japanwissenschaften promoviert und übernahm kurz nach den ANPO-Protesten den Posten des US-amerikanischen Botschafters in Japan. Parsons und Reischauer kannten sich schon seit dem Angriff auf Pearl Harbor. Während des Krieges trafen sich an der Universität Harvard Sozialwissenschaftler und Historiker, um die japanische Mentalität zu verstehen, den US-amerikanischen Kriegserfolg ideell zu unterstützen und Strategien für die Zeit nach dem Sieg auszuarbeiten.
Aus diesen Meetings ging 1946 der Aufsatz »Population and Social Structure« von Parsons hervor. In diesem stellte der Soziologe fest, dass Japan eine weitgehende ökonomische Modernisierung erreicht habe, aber eine Modernisierung der Sozialstruktur noch ausstünde. Diese sei aufgrund von Überbleibseln aus dem Feudalismus nicht auf der Höhe der Zeit.
Aus Parsons Sicht standen Japan nach dem Krieg drei mögliche Entwicklungswege offen. Es könnte sich erstens zu einer Agrargesellschaft zurückentwickeln. Zweitens könnte es zu einer kommunistischen Revolution kommen. Parsons aber favorisierte die dritte Option: Japan sollte seine Modernisierungsbemühungen fortsetzen, indem es die Individualisierung seiner Bürgerinnen und Bürger forciert, die Wirtschaft dezentralisiert und sich demilitarisiert.
Als Parsons 1961 – kurz vor der Kubakrise – den Text »Polarisation and the Problem of International Order« veröffentlichte, war die Polarisierung zwischen der Sowjetunion und den USA schon weit fortgeschritten. Er sorgte sich um die Gefahr der kriegerischen Eskalation. Zugleich sah er aber in der Krise auch die Chance, eine stabile Weltordnung in Koexistenz herzustellen, die aber einen Dialog zwischen den Blöcken voraussetzen würde.
Reischauer schrieb 1960 unter dem Eindruck der ANPO-Proteste den Aufsatz »Broken Dialogue«. Darin beschuldigt er die Demonstrantinnen und Demonstranten, den Dialog abgebrochen zu haben. In der gegebenen Weltkonstellation gäbe es für Japan nur die Entscheidung zwischen Kommunismus und Kapitalismus. Einen dritten Weg nennt Reischauer nicht. Um weitere Proteste zu verhindern, müsse man die moderate Linke vom »richtigen« Modernisierungskurs überzeugen: Wirtschaftswachstum durch Konsumkapitalismus.
Die Konferenz in Hakone, einer Stadt unweit des japanischen Nationalbergs Fuji, kann als wichtigster Versuch gewertet werden, die japanischen Intellektuellen vom politischen Projekt des Westens zu überzeugen. Sie fand vom 29. August bis zum 3. September 1960, also kurz nach dem Höhepunkt der ANPO-Proteste statt. An der Konferenz zeigt sich, dass Geopolitik und Sozialwissenschaften im Kalten Krieg teilweise ineinander flossen. In Hakone trafen sich Sozialwissenschaftler und Historiker, um über Japans Modernisierung zu diskutieren.
»Die Frage, ob Imperialismus und Militarismus nicht auch mögliche Folgen des Projekts der westlichen Moderne waren, wurde von den Amerikanern beschwiegen.«
Auf US-amerikanischer Seite nahmen unter anderem Reischauer sowie der Historiker John Whitney Hall teil. Unter den japanischen Diskutanten befanden sich der wohl bekannteste japanische politische Ideenhistoriker Maruyama Masao sowie der von Marx beeinflusste Rechtshistoriker Kawashima Takeyoshi. Maruyama hatte zuvor an den Protesten gegen den Sicherheitsvertrag mitgewirkt. Die US-amerikanischen Wissenschaftler versuchten, den Vorwurf des Kulturimperialismus zu entkräften, indem sie Japanisch zur offiziellen Konferenzsprache erhoben. Außerdem gaben sie ihren Positionen den Anschein der Objektivität und Freiheit von Werturteilen.
Obwohl Redefreiheit herrschte, war es ein ungleicher Dialog, bei dem die US-amerikanische Position massiv mit staatlichen Geldern unterstützt wurde. Laut den Modernisierungstheoretikern würde sich die Welt mehr oder weniger nach dem Vorbild der USA zu wirtschaftsliberalen und parlamentarisch-demokratischen Staaten entwickeln. Diese Vision war selbstverständlich alles andere als frei von Werturteilen, stellte sie doch Nordamerika und Europa als die vermeintlich am weitesten entwickelten Staaten ins Zentrum der Überlegungen.
Auf der Agenda der US-amerikanischen Wissenschaftler stand auch eine Revision der Erinnerungspolitik gegenüber dem japanischen autoritären Staat und Militarismus. Die japanischen Modernisierungsbemühungen seien eine einzigartige Erfolgsgeschichte und »feudalistische« Elemente der Modernisierung in vielerlei Hinsicht zuträglich gewesen. Der Krieg, der Kolonialismus und der Autoritarismus in Japan wurden nahezu ausgeklammert. Dies widersprach dem japanischen intellektuellen Nachkriegsdiskurs, der sich in der Mehrheit auch am Marxismus orientierte und die japanische Vergangenheit sehr kritisch bewertete.
Die Frage, ob Imperialismus und Militarismus nicht auch mögliche Folgen des Projekts der westlichen Moderne waren, wurde von den Amerikanern beschwiegen. Zudem gab es Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der Zusammengehörigkeit von Moderne und Demokratie. Hall äußerte sich zum Beispiel in seinen Protokollen der Konferenz als sehr enttäuscht darüber, dass Kawashima nicht der Meinung war, dass zur Modernisierung notwendig Demokratie gehöre. So einfach ließen sich viele der japanischen Teilnehmer nicht von den westlichen Standpunkten überzeugen.
Die ANPO-Proteste können als Wendepunkt der japanischen Geschichte betrachtet werden. Nie wieder gelang es der japanischen Linken, Kommunistinnen wie Sozialisten, eine so breite Massenbewegung auf die Straße zu bringen. Gesiegt haben sie trotzdem nicht. Der Sicherheitsvertrag wurde gegen ihren Widerstand unterschrieben – bis heute existieren US-amerikanische Militärbasen in Japan.
In den 1970er Jahren diskreditierte sich die Linke durch Sektierertum und Gewalt. Der ökonomische Aufschwung, den Reischauer förderte und gegen den Marxismus in Stellung brachte, führte dazu, dass immer mehr Japanerinnen und Japaner sich auf ihre persönliche Karriere hin orientierten. Auch bei vielen japanischen Intellektuellen nahm der Stellenwert marxistischer Theorie ab und die Modernisierungstheorie fand gerade in Zeiten des Wirtschaftsbooms starke Resonanz.
Heute sind linke Parteien wie die KPJ in Japan zwar kein bestimmender, aber dennoch ein nicht zu ignorierender Faktor in der Politik. Auch linke und/oder marxistische Intellektuelle wie Kohei Saito drängen mit ihren Gedanken wieder verstärkt an die Öffentlichkeit. Die Entwicklung der Welt ist und bleibt ein offener Prozess, zu dem auch Japan seinen Beitrag leisten wird.
Benjamin Schiffl ist Soziologe und Autor des Buches Nation zwischen Orient und Okzident. Der Blick deutschsprachiger Intellektueller auf Japan (1915–1961).