20. Dezember 2023
Der wohl überraschendste Aspekt am Wahlsieg des argentinischen Rechtslibertären Javier Milei ist, dass er einen großen Teil der Stimmen aus der Arbeiterklasse auf sich vereinen konnte. Das sollte ein Weckruf für die Linke sein.
Javier Milei hält eine Rede während seiner Vereidigung als neuer argentinischer Präsident in Buenos Aires, 10. Dezember 2023.
Das »Milei-Phänomen« in Argentinien nahm seinen Anfang mit dem unerwarteten Sieg des rechtsradikalen Politikers bei der ersten Runde der Präsidentschaftswahlen im August. Nun ist Javier Milei der erste selbsternannte»Anarchokapitalist« und Libertäre, der an der Spitze einer großen Volkswirtschaft steht.
Er ist studierter Wirtschaftswissenschaftler, wurde aber vor allem als polemisch-hetzende TV- und Social-Media-Persönlichkeit bekannt. Mileis offizieller Einstieg in die argentinische Politik erfolgte 2021, als er einen Sitz im nationalen Kongress gewann. Er geriert sich extravagant, spricht gerne über seine Tantra-Sexpraktiken, seine Bewunderung für die neoliberalen Gurus Friedrich von Hayek und Milton Friedman sowie seine Liebe zu seinen geklonten englischen Doggen, die er als seine »vierbeinigen Kinder« bezeichnet.
Wenige Stunden nach seinem Wahlsieg betonte Milei, er werde »alles, was in den Händen des Privatsektors sein kann, auch in die Hände des Privatsektors geben«. Im Visier hat er dabei alle 137 verbleibenden staatlichen Unternehmen Argentiniens, wie das Energieunternehmen Yacimientos Petrolíferos Fiscales (YPF), das umfangreiche öffentlich-rechtliche Mediennetzwerk (mit Radio Nacional, TV Pública und der Nachrichtenagentur Télam), die Post und die nationale Fluggesellschaft Aerolineas Argentinas. Weiter hat Milei angedeutet, er wolle das öffentliche Gesundheitssystem abbauen und große Teile des Schul- und Universitätssystems privatisieren, einschließlich der staatlich finanzierten Forschungseinrichtungen für höhere Bildung. Er hat bereits um US-Kapital geworben, um die beträchtlichen Lithium- und Schiefergasreserven des Landes unreguliert abbauen zu lassen. Am radikalsten ist wohl sein Versprechen, die argentinische Zentralbank abzuschaffen, die Wirtschaft zu dollarisieren (nach dem Vorbild von Ecuador, El Salvador oder Simbabwe), die Märkte strikt zu liberalisieren und die strengen Devisenkontrollen des Landes aufzuheben.
Diese neoliberalen Vorschläge mögen einige schockieren, sind aber in Argentinien an sich nichts Neues. José Martinez de Hoz, Wirtschaftsminister während der blutigen Diktatur von Jorge Videla in den späten 1970er Jahren, und Domingo Cavallo, Wirtschaftsminister von Carlos Menem in den neoliberalen 1990er Jahren, hatten eine ähnlich regressive Wirtschaftspolitik betrieben. Roberto Dromi, Menems Minister für das Öffentlichkeitswesen, verkündete vor über dreißig Jahren fast wortwörtlich die gleiche Botschaft wie nun Milei: »Nichts, was in staatlichem Besitz ist, wird in den Händen des Staates bleiben.«
Mileis sogenannter »Kettensägenplan« (plan motosierra, seine Version von Donald Trumps »Draining the swamp«) wird wahrscheinlich in den beiden Kammern des Kongresses hart angefochten und teilweise blockiert werden: seine Koalition La Libertad Avanza hat dort keine Mehrheit. Allerdings wird er als Präsident viele der angedrohten Austeritätsmaßnahmen durchdrücken können. Auf lange Sicht dürften die Folgen für Argentinien verheerend sein.
Allerdings sind diese Folgen ebenfalls nicht beispiellos. In den 1990er Jahren zeichnete die Menem-Regierung für den massenhaften Verkauf öffentlicher Einrichtungen und Vermögenswerte, die Bindung des Peso an den Dollar (und damit ebenfalls eine gewisse Dollarisierung) und die Liberalisierung der Märkte verantwortlich, alles unter dem Banner der »Inflationskontrolle« und »sparsamen Haushaltsführung«. Diese Maßnahmen führten schließlich zu hoher Arbeitslosigkeit (offiziell über 20 Prozent), zu einer Rekordrate an prekären Jobs sowie an Armut (über die Hälfte der Bevölkerung), zur Verlagerung eines Großteils der argentinischen Produktionskapazitäten ins Ausland, zur Übernahme der nationalen Wirtschaft durch multinationale Konzerne und im Jahr 2001 auch zu sozialen Unruhen.
»Mileis rechtsradikale Koalition wurde insgesamt vom politischen und medialen Establishment ignoriert – und kämpft nun für eine Verfestigung der sozioökonomischen Misere, die bisher ebenfalls kaum Beachtung in den Medien fand.«
Mileis Sieg deutet darauf hin, dass die Erinnerung an diese Jahre bei einem Großteil der argentinischen Wählerschaft aber wieder verblasst ist. Angesichts der Inflationsrate von über 185 Prozent im Jahr 2023 sind viele Menschen offenbar von der wachsenden Unsicherheit schlichtweg überwältigt. Die Stimmungslage aus Wut und Verzweiflung wurde dabei durch die TV-Nachrichten und die sozialen Medien weiter angeheizt.
In den kommenden Monaten wird sich zeigen, inwieweit Mileis neue Regierung in der Lage ist, ihre neoliberale Agenda voranzutreiben und ob sie bei der Umsetzung der angekündigten Maßnahmen die Unterstützung der Bevölkerung behalten wird. Die Reaktion der historisch kämpferischen Bevölkerungsschichten und Gewerkschaften Argentiniens könnte entscheidend sein. Sicher ist aber in jedem Fall, dass die nähere Zukunft für die politische Opposition und die meisten arbeitenden Menschen hart wird.
Das wirklich bahnbrechend Neue an Mileis ultraliberaler Agenda ist wohl, wie unverblümt ehrlich sie kommuniziert wird. Die neuen Ministerinnen und Sprecher der Regierung haben den Menschen in Argentinien bereits deutlich gemacht, dass sie sich auf harte Zeiten einstellen müssen. Milei hat außerdem betont, er werde jeder Form von sozialem Protest mit äußerst repressiven Maßnahmen begegnen. Manch einer fühlt sich an die dunklen Zeiten der Militärdiktatur erinnert.
Eine der großen Überraschungen bei Mileis Wahlsieg im November war, dass er sich auf die Unterstützung der traditionell eher links orientierten argentinischen Arbeiterklasse stützen konnte: 50,8 Prozent der angestellten Wählerinnen, 47,4 Prozent der Rentner, 50,9 Prozent der Arbeiterinnen im informellen Sektor, 52,3 Prozent der Angestellten im Handwerk und insgesamt fast 30 Prozent der traditionell peronistischen Basis stimmten für Milei. Zusammen mit den 25 bis 30 Prozent der Wählerinnen und Wähler, die ohnehin Mileis rechte Basis ausmachen, sowie etwa 53 Prozent der Unter-Dreißigjährigen und darüber hinaus die Stimmen der traditionellen Konservativen/Rechten und der Oberschicht, die Mauricio Macris und Patricia Bullrichs Bündnispartner Juntos por el Cambio unterstützten, bescherte diese Wählerschaft Milei einen komfortablen Sieg.
Doch trotz der klaren Erfolge bei den Vorwahlen im August und der Stichwahl im November – ganz zu schweigen von seiner langjährigen Medienpräsenz – heißt es in der politischen und intellektuellen Welt Argentiniens mit Blick auf Mileis Präsidentschaft nun: »Wir haben das nicht kommen sehen.« Das war jedenfalls die offizielle Haltung der scheidenden links-peronistischen Regierung von Alberto Fernández und des zuletzt amtierenden Präsidenten Sergio Massa. Massa beschränkte sich in seinem Wahlkampf weitgehend darauf, Milei als politische Witzfigur zu verharmlosen – offensichtlich erfolglos.
Mileis rechtsradikale Koalition wurde insgesamt vom politischen und medialen Establishment ignoriert – und kämpft nun für eine Verfestigung der sozioökonomischen Misere, die bisher ebenfalls kaum Beachtung in den Medien fand. Bei näherer Betrachtung haben die hohe Inflation (ohne wirksame Gegenmaßnahmen der vorherigen Regierung), die anhaltenden wirtschaftlichen Herausforderungen im Zuge der Pandemie, der wachsende Einfluss der sozialen Medien und die starke Polarisierung des politischen Diskurses den Aufstieg einer Persönlichkeit wie Milei – ebenso wie vor ihm Jair Bolsonaro oder Donald Trump – zu einem insgesamt doch recht vorhersehbaren Phänomen werden lassen.
Es bleibt dennoch die Frage, warum Mileis »Kettensägenplan« gerade bei den ärmeren Arbeiterschichten, die am meisten unter seiner Politik leiden werden, Anklang findet. Eine Erklärung könnte sein, dass Milei auf dem Höhepunkt einer neoliberalen Welle auftaucht, die seit Jahrzehnten den argentinischen Sozialstaat und die traditionell starke industrielle Basis aushöhlt (zwischen den 1950er und 1970er Jahren herrschte in Argentinien lange Zeit Vollbeschäftigung). Diese neoliberale und vermeintlich »alternativlose« Welle hat dazu geführt, dass inzwischen eine ökonomische Logik verbreitet ist, die dem Allgemeinverständnis in Argentinien zuvor lange Zeit fremd war.
Die Regierungszeit des Neoliberalen Mauricio Macri von 2015 bis 2019 war von einer strikt regressiven sozioökonomischen Politik geprägt. Zu dieser Politik gehörten massive, über den Internationalen Währungsfonds finanzierte Schulden, hohe Inflation und Kapitalflucht, die von den Medien des Landes meist ignoriert oder verschwiegen wurden. Und es gab noch einen weiteren Elefanten im Raum, den viele nicht sehen wollten: das starke Wachstum des informellen und prekären Arbeitssektors. In diesen Branchen gibt es kaum Arbeiterorganisation – oder staatliche Sozialprogramme. Dieser große (und weiter wachsende) informelle Sektor ist in der öffentlichen Diskussion in Argentinien seit einem Jahrzehnt kaum präsent. Schlimmer noch: Er wird von Ökonominnen wie von Politikern nach wie vor als vorübergehendes Phänomen betrachtet. Millionen Menschen fühlen sich nicht repräsentiert und scheinen keine politische Stimme zu haben. Es war daher nur eine Frage der Zeit, bis jemand wie Milei eine Rhetorik finden würde, die diesen neuen Teil der Arbeiterklasse anspricht.
»Das Phänomen der informellen Arbeiterschaft entging praktisch allen, der Regierung ebenso wie der Opposition.«
Der Sektor, der sich aus Gig-Economy-, Freelance-, Gelegenheits- und Dienstleistungsbeschäftigten zusammensetzt, wuchs während der Pandemie exponentiell. Während viele Argentinierinnen und Argentinier unter den strengen Lockdowns litten, die fast das ganze Jahr 2020 und bis tief ins Jahr 2021 andauerten, traf die Pandemie diese neue Gruppe von informellen und vertragslosen Arbeiterinnen und Arbeiter besonders hart: viele arbeiteten während der gesamten Lockdown-Zeit ohne finanzielle und ohne gesundheitliche Schutzmaßnahmen weiter.
Die argentinischen Lockdown-Maßnahmen zeigten eindrucksvoll, wie widersprüchlich und schwierig es wird, wenn man sich zwischen dem Schutz der öffentlichen Gesundheit und dem Schutz der Wirtschaft entscheiden muss. Die Regierung von Alberto Fernández kam im Dezember 2019 an die Macht, also nur wenige Monate bevor die Pandemie die Verabschiedung eines Notfallpakets erzwang. Teil davon waren die Programme ATP (Lohnzuschüsse für offiziell angestellte Arbeiterinnen, um Entlassungen und Betriebsschließungen zu vermeiden) und IFE, einer minimalen Einkommensgarantie für die prekärsten Beschäftigten sowie für Arbeitslose.
Die Regierung verkalkulierte sich jedoch bei der Zahl der Begünstigten für das IFE schwer: rund elf Millionen Menschen beantragten Mittel, die nur für drei bis vier Millionen vorgesehen waren. Obwohl es den Staatshaushalt erheblich belastete, gewährte die Regierung Fernández schließlich zehn Millionen Menschen IFE-Unterstützung. Damals ging man noch weitgehend davon aus, die Regierung Fernández habe sich »lediglich« verrechnet und ihre administrative Inkompetenz zur Schau gestellt. In Wirklichkeit hatte die neue Regierung ebenso wie ihre Vorgängerin nicht erkannt, wie sehr sich die Struktur des argentinischen Sozialgefüges und der Arbeiterschaft während der vorherigen neoliberalen Jahre grundlegend verändert – und verschlechtert – hatte.
Infolgedessen wurden die neuen »informellen« Arbeiterinnen und Arbeiter auch nach der Pandemie von der Politik erneut weitestgehend ignoriert. Somit hat sich die argentinische Sozialpolitik in den Jahren unter Fernández gegen die beiden größten und einflussreichsten Gruppen in der argentinischen Arbeiterschaft gerichtet, die Angestellten und die prekär Beschäftigten. Bei den Präsidentschaftswahlen zeigte sich nun, dass sich die Regierung sich nicht nur bei der IFE verkalkuliert hatte, sondern auch, dass es große Teile der Arbeiterklasse gibt, die sich von ihr einfach nicht mehr vertreten fühlten.
Die ausgegrenzte Gruppe der informellen/»unregistrierten« Arbeiterschaft besteht aus einer diversen Gruppe von Menschen ohne Anspruch auf Sozialversicherungsleistungen sowie um sogenannte Monotributistas. Bei letzterer handelt sich um eine bunt gemischte Gruppe, zu der unter anderem selbständige Auftragnehmer, Beschäftigte in Kleinstunternehmen sowie Kleinunternehmerinnen selbst, die nicht genügend Einnahmen erzielen, um im nationalen Steuersystem erfasst zu werden, und prekär beschäftigte staatliche Auftragnehmer gehören. Dazu zählen beispielsweise auch Hausangestellte, informelle Pflegekräfte, Beschäftigte von Liefer-Apps wie Uber und Rappi, selbstständige Handwerker, Straßenverkäuferinnen, junge Menschen, die zwischen kurzfristigen und schlecht bezahlten Jobs hin- und herwechseln müssen, und Freelancer.
»Milei bringt den Nihilismus einer neuen informellen Arbeiterschaft zum Ausdruck, die gegen sich selbst und gegen ihre eigenen Interessen abstimmt.«
Wenn wir diese Gruppe näher analysieren, stellen wir fest, dass sie keineswegs eine Minderheit ist, sondern einen beträchtlichen Teil der argentinischen Erwerbsbevölkerung ausmacht, überwiegend jung und (abgesehen von den Hausangestellten) überwiegend männlich ist. Viele dieser Erwerbstätigen fühlen sich von den meisten argentinischen Politikern ignoriert. Während der Pandemie, als viele von ihnen nicht arbeiten konnten oder unter höchst unsicheren Bedingungen tätig bleiben mussten, erhielten diese Menschen einerseits keine ATP-Unterstützungszahlungen für Angestellte, waren aber auch vom Sozialfonds IFE weitgehend ausgeschlossen. Als Monotributistas oder Trabajadores en negro sind sie weiterhin von den meisten sozialen Sicherheitsnetzen Argentiniens ausgeklammert.
Es ist daher kaum verwunderlich, dass diese chronisch unterbezahlten und unterversicherten Menschen den Umgang der Regierung mit der Pandemie sehr kritisch sahen, sich in ihrem sozialen sowie Arbeitsleben durch die Lockdowns eingeschränkt fühlten, sich somit Unmut breitmachte und diese Gruppe besonders empfänglich für die Medienkampagne Mileis wurde. Für die große Mehrheit dieser Beschäftigten war der Staat nicht nur abwesend, sondern hatte sie schlicht vergessen – obwohl sie doch als »essenzielle Arbeitskräfte« galten und etwa Lebensmittel lieferten, die von den »privilegierteren« Pandemie-Betroffenen geordert wurden.
Wie in praktisch allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens verschärfte und beschleunigte die Pandemie bestehende Trends, die sich ohnehin schon abgezeichnet hatten. Das Phänomen der informellen Arbeiterschaft entging dabei aber praktisch allen, der Regierung ebenso wie der Opposition. Diese präkarisierte Arbeiterschaft wurde ignoriert, bis Milei sie ansprechen und Aufmerksamkeit erregen konnte. Milei hat die Verzweiflung erkannt – und aus den daraus resultierenden Gefühlen Kapital geschlagen.
Veränderungen in der Gesellschaft vollziehen sich also schrittweise und brauchen Zeit, bis sie sich bemerkbar machen – und dann eines Tages zu explodieren scheinen. Es ist nicht das erste Mal, dass es in Argentinien zu einer solchen Explosion kommt. In den 1940er Jahren überraschte die intensive Unterstützung der Arbeiterklasse für Juan Domingo Perón die herrschenden Klassen, die Intelligenz, die Linke und Perón selbst. Raul Alfonsíns Triumph im Jahr 1983, und damit die Rückkehr zur Demokratie, war ein weiterer solcher Moment. Die Massenaufstände, die Argentinien am 19. und 20. Dezember 2001 erschütterten, erschienen ebenfalls wie ein plötzlicher, unaufhaltsamer Sturm, der allerdings auch kein klares Ziel hatte. Argentinien befindet sich aktuell in einem ähnlichen Moment: Die Unzufriedenheit der Massen ist deutlich spürbar, ebenso wie das Bedürfnis nach Hoffnung und einem Retter.
Doch warum ist Milei für so viele Menschen ein solcher »Retter«? Wie kommt es, dass eine rechtsradikale Utopie einen großen Teil der Arbeiterschaft anspricht?
Mileis Anziehungskraft auf diese enttäuschten und wütenden Teile der Arbeiterklasse liegt vermutlich in seinem Diskurs begründet, der radikale (wenn auch teils magisch-märchenhafte) Lösungen, einen einfachen Feind und eine imaginäre Zukunft miteinander verknüpft: eine Fiktion, die ein neues Leben verspricht, indem der Staat und »die politische Kaste« beseitigt werden, die die Arbeiterinnen und die Armen zu lange ignoriert und sich selbst überlassen haben. Mileis Diskurs basiert auf einer Ideologie des extremen Neoliberalismus. Wo früher für den Neoliberalismus jedoch der Wohlfahrtsstaat oder der Kommunismus als Bösewichte herhalten mussten, kamen langsam andere Ziele in greifbarere Nähe: Für Macri war es der Populismus des Kirchnerismo, also der linke Peronismus von Cristína Fernández de Kirchner. Für Milei ist es, ähnlich wie für Bolsonaro oder Trump, ein vager »Sozialismus« und/oder »Kommunismus«, der allerdings von der liberal-konservativen Mitte bis zur radikalen Linken reicht.
Das Besondere am neuen rechtsradikalen Neoliberalismus ist, dass seine Ideologie offenbar zu plump für die wohlhabenden Klassen ist, die zwar politisch-ökonomische Dominanz, aber eben auch Berechenbarkeit für ihre Geschäftsinteressen wünschen. Mileis Botschaft zielt somit nicht auf die Unternehmerklasse – auch wenn er selbst das denkt und auch wenn nicht wenige Unternehmer und Kapitalisten sich angeekelt die Nase zuhielten und am Ende doch für ihn stimmten. In Wirklichkeit bringt Milei den Nihilismus einer neuen informellen Arbeiterschaft zum Ausdruck, die gegen sich selbst und gegen ihre eigenen Interessen abstimmt.
»Wenn es der Linken nicht gelingt, ein transformatives Projekt zu entwerfen und wirksam zu kommunizieren, das den wachsenden Reihen des entstehenden Proletariats Hoffnung gibt, können wir bestenfalls auf das Scheitern und das Ende dieser jüngsten Welle des ultrarechten Autoritarismus warten.«
Die Hintergrundgeschichte hin zu diesem Nihilismus ist die Unfähigkeit der vorherigen Regierung von Alberto Fernández, die hohen gesellschaftlichen Erwartungen, mit denen sie 2019 an die Macht kam, auch nur annähernd zu erfüllen. Die Ineffektivität der scheidenden Regierung lässt sich auf verschiedene Faktoren zurückführen: das Ausbleiben der versprochenen »ruhigen Regierung« (gobierno tranquilo), die permanente Zerstrittenheit, die sie lähmte und eine regierungsinterne Opposition hervorbrachte, die oft kritischer war als die eigentliche Opposition sowie das Scheitern beim Versuch, sich mit politischen und wirtschaftlichen Gegenbewegungen zu arrangieren. Insgesamt zeichnete sich die Regierung Fernández durch einen Mangel an theoretischem und politischem Scharfsinn aus. Dies wurde spätestens dann deutlich, als sie es in den Pandemiejahren versäumte, angemessen auf die strukturellen Probleme der neuen Gesellschaftsstruktur Argentiniens zu reagieren.
Dies ist jedoch kein Problem, das genuin argentinisch wäre. Die Parallelen zwischen Milei und Trump, der europäischen radikalen Rechten, Bolsonaro und anderen lateinamerikanischen Rechten wie dem Chilenen José Kast und dem Kolumbianer Rodolfo Hernández – zwei Figuren, die bei den letzten Wahlen fast die jeweilige Regierung übernommen hätten – zeigen, dass Argentinien nicht die Ausnahme, sondern die neue Regel ist.
Mileis Fähigkeit, den Frust eines großen Teils der argentinischen Gesellschaft aufzugreifen, entlastet die vorherige Regierung und das politische Projekt des Kirchnerismo nicht. Wie in anderen Ländern, in denen der Autoritarismus Fuß gefasst hat, war die Linke nicht in der Lage, einem großen Teil der Arbeiterklasse, für die sie zu sprechen vorgibt, ein überzeugendes alternatives Projekt zu vermitteln. Zu oft haben Linke – in Argentinien und anderswo – nicht mehr als eine Rückkehr zu den »guten alten Zeiten« anzubieten. Dabei übersehen wir, dass diese alte Zeit für die am stärksten Ausgegrenzten gar nicht so gut war. Ob lauwarmer Progressivismus oder radikale Linke: Wir waren so sehr damit beschäftigt, vergangene Siege zu verteidigen, dass wir selten klare und umfassende Vorschläge für eine alternative Zukunft gemacht haben.
Die argentinische Linke konnte dieses Mal lediglich mit »mehr vom Altbekannten« werben – und genau das stellten Milei und seine Anhänger erfolgreich als Ursache allen Übels dar. Es gibt aktuell kein politisches Projekt und auch keinen alternativen Diskurs für die Verlierer der heutigen sozioökonomischen Realität. Selbst die einst hoffnungsvollen Perspektiven der sozialen sowie Gewerkschaftsbewegungen wirken heute ebenso konservativ wie altbacken für die Vergessenen in informellen Wirtschaftsbranchen. Milei bietet ein Ventil für die Wut; das gewerkschaftliche Eintreten für Arbeitsprogramme klingt hingegen zu sehr nach der Plackerei, der Selbstständige und Informalisierte, Freiberuflerinnen, Hausangestellte und Plattformarbeiter doch endlich entkommen wollen.
Wenn es der Linken nicht gelingt, ein politisches Projekt zur Verbesserung des Einkommens, der Lebensbedingungen und der Möglichkeiten aller arbeitenden Menschen zu formulieren, werden die Lösungen, die derzeit von Arbeiterorganisationen angeboten werden, nicht ausreichen. Wenn es der Linken nicht gelingt, ein transformatives Projekt zu entwerfen und wirksam zu kommunizieren, das den wachsenden Reihen des entstehenden Proletariats Hoffnung gibt, können wir bestenfalls auf das Scheitern und das Ende dieser jüngsten Welle des ultrarechten Autoritarismus warten.
Dieses Ende wird zweifellos kommen – aber womöglich zu einem unerträglich hohen sozialen, wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Preis.
Andrés Ruggeri ist Direktor des Programms Facultad Abierta (Offene Fakultät) an der Universität von Buenos Aires und Professor für Wirtschaftsanalyse und Entwicklungsmodelle an der Universidad Nacional Arturo Jauretche. Er ist Autor zahlreicher Bücher und Artikel über die Geschichte der Arbeiterklasse und der Gewerkschaftsbewegung.
Marcelo Vieta ist außerordentlicher Professor im Programm für Erwachsenenbildung und Community-Entwicklung an der Universität von Toronto. Er ist der Autor von Workers‘ Self-Management in Argentina (Brill, 2020) und Co-Autor von Cooperatives at Work (Emerald, 2023).