15. April 2021
Heute vor 41 Jahren starb der Philosoph Jean-Paul Sartre. Sein Werk bietet bis heute Inspiration für Kämpfe um Freiheit.
Jean-Paul Sartre in Mailand, 11. April 1961.
Am 15. April jährt sich der Tod von Jean-Paul Sartre zum 41. Mal. Ich kann mich noch immer an den Moment erinnern, als ich davon erfuhr. Es war nicht überraschend – er war schon seit einiger Zeit schwer krank gewesen. Dennoch war es ein Schock für mich. Für diejenigen aus meiner Generation, die in den 1950er und 60er Jahren zur sozialistischen Politik kamen, war Sartre richtungsweisend.
Das Werk, das er hinterließ, ist immens: neben seinem bedeutenden Beitrag zu Philosophie und marxistischer Theorie, verfasste er auch Romane und Theaterstücke, welche seine philosophischen Fragen in erzählerischer Form verhandelten und oft schmerzhaft konkret machten. Außerdem schrieb er politische Polemiken, die sehr spezifischen Situationen entsprangen. Nach seinem Tod enthüllte die Entdeckung unveröffentlichter Manuskripte – darunter ein Drehbuch über Freud – neue Aspekte über diesen komplexen und produktiven Denker.
Sartre wird oft als pessimistischer Denker aufgefasst. In seinem Roman Der Ekel schrieb er: »Alles Existierende entsteht ohne Grund, setzt sich aus Schwäche fort und stirbt durch Zufall.« Sein möglicherweise bekanntestes Zitat stammt aus dem Stück Geschlossene Gesellschaft: »Die Hölle, das sind die Anderen«. Sein Ausgangspunkt mag trostlos scheinen – wir leben in einem gottlosen, sinnlosen Universum –, doch daraus folgert er, dass alle Bedeutung und alle Werte von uns Menschen geschaffen werden. In Sartres eigenen Worten sind wir »verurteilt, frei zu sein«.
Wie Sartre selbst feststellte, war es weniger der angebliche Pessimismus, der für Aufregung sorgte, als vielmehr sein heftiger Optimismus: Er bestand darauf, dass wir frei sind zu handeln, frei sind, die Welt zu verändern. Daraus folgt, dass wir für den Zustand der Welt verantwortlich sind – verantwortlich für Krieg, Hunger und Unterdrückung. Dass wir diese Freiheit nicht als Vergnügen, sondern als Qual erleben, ist für Sartres Werk zentral, ebenso wie die Strategien, die wir entwickeln, um dieser Verantwortung zu entgehen – was Sartre »Unaufrichtigkeit« (mauvaise foi) nannte.
Sartre betonte damit, dass es so etwas wie Naturkatastrophen nicht gibt, sondern »daß es der Mensch ist, der seine Städte über Erdbeben oder direkt zerstört«. In einer Welt ohne Menschen, wäre ein Erdbeben ohne jede Bedeutung, nichts weiter als eine Erhebung von Materie. Erst wenn es auf menschliche Projekte trifft – Straßen, Gebäude, Städte –, wird das Erdbeben zur Katastrophe. Gerade in der Zeiten des Klimawandels sollten wir uns vergegenwärtigen, dass Katastrophen nicht aus der Natur resultieren, sondern aus menschlichen Entscheidungen, menschlichen Zielsetzungen, menschlicher Brutalität.
In einem Artikel von 1948 erklärte Sartre seine Absicht, »für seine eigene Epoche« zu schreiben. Es war nicht sein Ziel, universellen Wahrheiten nachzugehen. Er wollte sich mit der Realität auseinandersetzen, in der er lebte. Denn die Probleme dieser Welt waren zu dringlich, als dass man sie gegenüber langfristigeren Überlegungen vernachlässigen könnte.
Um diesen Gedanken nachzuvollziehen, muss man sich jene Zeit vergegenwärtigen, in der Sartre tätig war. Den Großteil seines Werks verfasste er zwischen 1939 und 1962 – eine Periode, in der in Frankreich nur für kurze Zeitabschnitte Frieden herrschte. Im Zweiten Weltkrieg besetzten die Deutschen das Land. Dies rief eine bewaffnete Widerstandsbewegung hervor.
Nach dem Zweiten Weltkrieg war Frankreich in zwei lange und bittere Kriege verwickelt, in denen es vergeblich versuchte, sein weitreichendes Kolonialreich aufrecht zu erhalten: der achtjährige Konflikt in Indochina endete in einer demütigenden Niederlage in Dien Bien Phu. Darauf folgte der siebenjährige Krieg in Algerien, welcher von Brutalität und Folter geprägt war. Die Gewalt in Algerien weitete sich bis auf die Straßen des französischen Kernlands aus.
Frankreich war außerdem seit 1947 in den Kalten Krieg zwischen der Sowjetunion und den USA verwickelt, zu dem die konstante Bedrohung nuklearer Vernichtung gehörte. Es verwundert daher kaum, dass Gewalt zu dieser Zeit ein zentrales Thema in Sartres Arbeit war.
Als Sartre 1943 sein wichtiges philosophisches Werk Das Sein und das Nichts veröffentlichte, versprach er ein Nachfolgewerk zu moralischen Fragen. Er stellte es nie fertig, aber nach seinem Tod tauchte zumindest ein Manuskript auf. Sartre beschäftigte sich tiefgreifend mit Unterdrückung, insbesondere rassifizierter Unterdrückung.
1945 veröffentlichte er den Essay Betrachtungen zur Judenfrage. Darin konzentrierte sich Sartre nicht auf den Holocaust, den er kaum erwähnte. Er diskutierte vor allem den in der französischen Gesellschaft weit verbreiteten Antisemitismus, der erklärte, warum Französinnen und Franzosen die Nazi-Besatzer oftmals begeistert unterstützten und ermunterten.
Sartre zeigte auf, dass der Antisemitismus nichts mit der Existenz der Jüdinnen und Juden zu tun hat. Vielmehr war er das Ergebnis der Illusionen des Antisemiten: »Wenn es keinen Juden gäbe, der Antisemit würde ihn erfinden«. Sartre sah den Antisemitismus in Schwäche begründet: »Der Antisemitismus ist, kurz gesagt, die Angst, Mensch zu sein. Der Antisemit will ein unerbittlicher Felsen, ein reißender Sturzbach, ein verheerender Blitz – alles, nur kein Mensch sein.«
Im selben Jahr besuchte Sartre die vereinigten Staaten. Seine Aufmerksamkeit erregte insbesondere das Ausmaß der rassistischen Unterdrückung im Land. Er bestand jedoch darauf, dass Rassismus nicht losgelöst von der Klassenfrage betrachtet werden könne und dass die schwarze Bevölkerung »mit den weißen Arbeitern zusammen und gleichberechtigt für die Anerkennung ihrer Rechte kämpfen« müsse.
Als er sein Stück Die ehrbare Dirne schrieb – basierend auf dem Scottsboro-Prozess von 1931, bei dem jungen Schwarzen Männern in Alabama wegen falscher Vergewaltigungsvorwürfe die Todesstrafe drohte –, warfen ihm einige Anti-Amerikanismus vor, weil er die Bedeutung des Rassismus in den USA betonte. Wie sich zeigen sollte, war Sartres Wahrnehmung scharfsinniger als die seiner Kritikerinnen und Kritiker.
1948 schrieb Sartre das Vorwort für eine Anthologie afrikanischer Lyrik, die von Léopold Sédar Senghor, dem zukünftigen Präsidenten Senegals, herausgegeben wurde. Er begann mit der üblichen Brutalität: »Was habt ihr euch denn erhofft, als ihr den Knebel abnahmt, der diese schwarzen Münder verschloß? Daß sie Lobgesänge für euch anstimmen würden?«
Am Ende des Zweiten Weltkriegs war Frankreich noch immer die zweitgrößte Kolonialmacht der Welt und fast alle französischen Politikerinnen und Politiker waren darum bemüht, diesen Status aufrecht zu erhalten. Doch im Laufe von zwanzig Jahren – und nach enormem Blutvergießen – war es damit vorbei.
Während der ersten Jahre des Algerienkriegs gehörten einige der wichtigsten Politiker der Linken in Frankreich – der sozialistische Parteiführer Guy Mollet, Pierre Mendès-France sowie der junge François Mitterrand – zu jener Regierung, die mehr Truppen nach Algerien schickte und die Exekution algerischer Kämpfer befahl. Als die Regierung »Notverordnungen« einführte, um der Krise Herr zu werden, und diese dem Kolonialminister das Regieren per Dekret ermöglichte, stimmte sogar die kommunistische Partei Frankreichs (PCF) dafür. Sartre wiederum, dem die rassistische Natur der französischen Kolonialherrschaft bewusst war, gehörte zu den frühesten Gegnern des Kolonialkrieges und unterstütze die algerische Unabhängigkeit.
Man könnte meinen, dass ihm für seine Erkenntnis, dass das französische Kolonialreich obsolet war, Anerkennung zuteil wurde. Doch stattdessen wird er seit seinem Tod immer wieder von verschiedenen Historikerinnen und Historikern scharf kritisiert und für seine angebliche Nähe zum sowjetischen Kommunismus verurteilt. Zu diesen Kritikerinnen und Kritikern gehören auch einige aus der politischen Linken, wie der verstorbene britische Historiker Tony Judt, der ehemalige Maoist Bernard-Henri Lévy sowie der selbsternannte »Anarchist« Michel Onfray.
Es wäre sicherlich falsch zu behaupten, Sartre sei perfekt gewesen – man könnte ihm zweifellos entscheidende Fehleinschätzungen und grobe taktische Fehler vorwerfen. Doch er war kaum die einzige Person aus der europäischen Kultur, die den Stalinismus verklärte: Bertolt Brecht und Pablo Picasso hatten ihm in dieser Hinsicht einiges voraus.
Das Urteil gegen Sartre gründet nicht auf nachvollziehbarer Kritik, sondern auf Schimpftiraden, die oftmals auf einseitigen und irreführenden Zitaten basieren. Der Kommunismus des Ostblocks mag erledigt sein, doch den Kritikerinnen und Kritikern Sartres scheint es ein wichtiges Anliegen zu sein, ihre eigene Überlegenheit unter Beweis zu stellen, indem sie die Kämpfe des Kalten Kriegs erneut ausfechten.
Sartre wird von seinen Kritikerinnen insbesondere als Gegenpart zu seinem Zeitgenossen (und vormaligen Freund) Albert Camus begriffen. Sartre und Camus erregten 1952 mit ihrem Streit Aufsehen, als Camus ein Buch veröffentlichte, welches allgemein als Ablehnung der marxistischen – insbesondere der leninistischen – Tradition verstanden wurde. Camus’ Verehrerinnen und Verehrer verherrlichen ihn als ein Musterbeispiel antikommunistischer Tugenden. Doch die Realität ist etwas komplizierter.
Camus, der als Kind europäischer Siedler aus der Arbeiterinnenklasse in Algerien geboren wurde, hatte in seinen frühen Jahren einige Verbrechen des französischen Kolonialismus kritisiert. Doch die Unabhängigkeit Algeriens hat er niemals unterstützt (er starb 1960 vor Kriegsende). Hinzu kommt, dass einige Anhängerinnen und Anhänger von Camus’ späteren Werken seinen frühen Radikalismus eher peinlich finden.
Kurz nach seinem Streit mit Sartre schrieb Camus ein freundliches Vorwort für ein Buch mit dem Titel Lenins Moskau. Es sind die Memoiren von Alfred Rosmer. Dieser war ein Wegbereiter des französischen Kommunismus, später ein Gegner Stalins, der in den frühen Jahren der kommunistischen Internationale eng mit Lenin und Trotzki zusammengearbeitet hat. Die Freundinnen und Freunde von Camus erwähnen dies nur selten.
Tatsächlich waren Sartres Beziehungen zum Kommunismus und der PCF weitaus unsteter als seine Kritikerinnen und Kritiker uns glauben machen wollen. In der Zeit nach 1945 sah er sich wiederholt der unbarmherzigen Kritik von Intellektuellen der PCF ausgesetzt. Sie fürchteten, dass seine Ideen unter Studierenden, und anderen jungen Menschen, die sie für sich gewinnen wollten, Unterstützung finden würde. Sartre musste weitaus mehr Angriffe über sich ergehen lassen als Camus. Ein Buch des PCF Intellektuellen Roger Garaudy, in dem Sartre eine wichtige Rolle spielte, trug den Titel Totengräber der Literatur.
David Rousset, vormaliger politischer Verbündeter von Sartre und selbst Überlebender eines Konzentrationslagers, initiierte 1950 eine Kampagne gegen die Arbeitsslager der UdSSR. Sartre weigerte sich, diese Kampagne zu unterstützen, da diese auch in der rechten Presse propagiert wurde.
Sartres Gegnerinnen und Gegner behaupten oftmals, dass er die sowjetischen Lager nicht verurteilte. In Wahrheit schrieb er im Magazin Les Temps modernes ein Editorial, in dem er feststellte, dass die Existenz solcher Lager, mit bis zu zehn Millionen Gefangenen, ein Armutszeugnis für das Sowjetsystem sei: »Wir fragen uns, ob wir noch einen Grund haben, in diesem Zusammenhang den Begriff des Sozialismus anzuwenden«.
1952 änderte Sartre jedoch seine Haltung. Dies geschah zum Höhepunkt des Kalten Krieges: Die französische Polizei hatte eine kommunistische Demonstration brutal angegriffen und der Anführer der PCF wurde wegen Besitzes zweier Tauben verhaftet; man behauptete, er plante, auf diesem Wege mit Moskau zu kommunizieren. Es ist jedoch anzunehmen, dass die PCF-Führung über ausgefeiltere Kommunikationsmöglichkeiten verfügte. Selbst von einem Verbot der Partei war die Rede.
Viele vormalige Unterstützerinnen und Unterstützer der PCF lösten daraufhin ihre Verbindungen zu der Partei auf, nicht so Sartre. Seine Logik war einfach: Die PCF besaß außerordentliche Unterstützung in der Arbeiterinnenklasse (fünf Millionen Wählerinnen und Wähler und die Führung der größten Gewerkschaftsorganisation) und Sartre wollte der organisierten Arbeiterinnenbewegung zur Seite stehen. Für ihn waren die Ereignisse in Frankreich wichtiger als die in der Sowjetunion. Oder um es mit den Worten des deutschen Kommunisten Karl Liebknecht zu sagen: »Der Hauptfeind steht im eigenen Land«.
Sicherlich machte Sartre in den darauffolgenden Jahren einige zweifelhafte Aussagen zur Verteidigung der Sowjetunion. Doch das Bündnis war nur von kurzer Dauer. Als die Sowjetführung 1956 Panzer nach Ungarn schickte, um den Aufstand der Arbeiterinnenklasse zu zerschlagen, war Sartres Ablehnung klar und deutlich. Er bestand darauf, dass der Sozialismus nicht mit den »Bajonetten hervorgebracht wird«. Im Anschluss an die Ereignisse wurde seine Kritik an der UdSSR immer schärfer: Er verurteilte den »Sowjetimperialismus« und argumentierte, dass die Arbeiterinnenklasse der Sowjetunion »die Macht, die ihnen [von den Führern des Landes] gestohlen wurde, zurückerobern« solle.
Sartre war nie Mitglied der PCF und jedweder Form der Parteiorganisation gegenüber reserviert eingestellt. Doch er verstand die Notwendigkeit kollektiven Handelns und versuchte Wege zu erforschen, wie eine unabhängige Linke organisiert werden könnte. Als sich der Kalte Krieg 1948 intensivierte, spielte Sartre eine zentrale Rolle beim Versuch, eine neue politische Formation zu erschaffen, die Rassemblement démocratique révolutionnaire (RDR, die revolutionäre demokratische Versammlung). In ihrem Gründungsdokument erklärte sich die Bewegung sowohl von Washington als auch Moskau unabhängig:
»Zwischen der verrottenden kapitalistischen Demokratie, der Schwäche und den Fehlern der bestehenden Sozialdemokratie und der Begrenztheit des Kommunismus in seiner stalinistischen Form, glauben wir, dass die Versammlung freier Menschen für eine revolutionäre Demokratie dazu in der Lage ist, den Grundsätzen der Freiheit und menschlichen Würde neues Leben einzuhauchen, indem sie mit dem Kampf für eine soziale Revolution verbunden werden.«
Die RDR genoss kurze Beliebtheit, zerbrach jedoch am Druck des Kalten Krieges. Es gelang nicht, eine von beiden Machtblöcken unabhängige Strömung zu etablieren. So sah sich Sartre später dazu veranlasst, für die PCF Partei zu ergreifen.
Längeren Bestand hatte die Gründung des Magazins Les Temps modernes (Moderne Zeiten) im Jahr 1945, in deren Arbeit Sartre bis zu seinem Lebensende involviert war. Er baute einen Kreis von Stammautorinnen und -autoren auf und das Heft bot verschiedenen Strömungen der radikalen Linken eine Plattform. Es veröffentlichte Beiträge von Victor Serge, einem frühen Unterstützer der Bolschewiki, der unter Stalin inhaftiert wurde, sowie einen Bericht von Richard Wright über seine Erfahrungen als Schwarzer Aktivist in der Kommunistischen Partei der USA.
Les Temps modernes gebührt besondere Anerkennung für dessen Positionierung während des Algerienkriegs. Bereits vor Beginn des Konflikts veröffentlichte das Magazin einen Artikel des Anarchisten Daniel Guérin mit dem Titel »Erbarmen mit dem Maghreb«, welcher den kommenden Krieg sowie dessen schreckliche Auswirkungen auf die französische Gesellschaft vorhersagte.
Der Leiter der Redaktion Francis Jeanson, der ein Buch über Sartre geschrieben hatte, vernachlässigte seine Tätigkeit als Autor, um ein illegales Unterstützernetzwerk für algerische Rebellen aufzubauen. In Algerien konfiszierten die Behörden Les Temps Modernes 1957 vier Mal und zollten der mutigen Haltung der Redaktion damit indirekt ihren Tribut.
Sartres öffentliche Unterstützung der algerischen Unabhängigkeit beeinflusste die Situation zweifellos. Er schrieb für das einflussreiche Antikriegs-Journal La Voie communiste und war einer der bekanntesten Unterzeichner des Manifests der 121, welches zivilen Ungehorsam guthieß, um dem Krieg zu beenden.
»Wir respektieren die Weigerung, die Waffen gegen das algerische Volk zu ergreifen, und beurteilen sie als gerechtfertigt. Wir respektieren das Verhalten der Franzosen, die es für ihre Pflicht halten, den im Namen des französischen Volkes unterdrückten Algeriern Hilfe zu leisten und Schutz zu gewähren, und beurteilen es als gerechtfertigt.«
Eine wachsende Zahl der jungen Wehrdienstleistenden, die vom Staat zum Kampf in Algerien eingezogen wurden, waren unzufrieden. Schlussendlich endete der Krieg, weil die französische Gesellschaft nicht dazu bereit war, ihn weiterzuführen: Die Nationale Befreiungsarmee konnte nie einen militärischen Sieg erringen. Sartre gewann den Respekt des herausragendsten Intellektuellen unter den Anführern der algerischen Unabhängigkeitsbewegung: Frantz Fanon. Für Die Verdammten dieser Erde – das wohl einflussreichste Werk Fanons – sollte Sartre das Vorwort verfassen.
Sartre begrüßte den Aufstand von 1968 in Frankreich außerordentlich und er unterzeichnete eine der ersten Unterstützungserklärungen für die Studentenbewegung. Als diese Bewegung den größten Generalstreik in der europäischen Geschichte auslöste, veränderte sich die politische Stimmung immens. Sartre baute Verbindungen zu verschiedenen maoistischen Gruppen auf, obwohl er zeitlebens bestritt, selbst Maoist zu sein. Sehr spät in seinem Leben kam er zur direkten Aktion. Als die französischen Behörden verschiedene revolutionäre Zeitungen verboten, verkaufte Sartre sie auf der Straße und forderte die Polizei auf, einen Berühmten wie ihn zu verhaften.
Sartres Werk hinterlässt mehr Fragen als Antworten – man könnte sogar behaupten, er war gerade wegen der Fragen, die er stellte und weniger wegen der Antworten, die er lieferte, ein interessanter Denker. Seine wirren und oft widersprüchlichen Positionen zum Mittleren Osten, in denen er einerseits Sympathien für Israel als jüdischen Staat artikulierte und gleichzeitig auch Unterstützung für die Rechte der Palästinenserinnen und Palästinenser bekundete, sind nur ein Beispiel von vielen seiner Positionen, die nur schwerlich der politischen Orientierung dienen können.
Doch Sartres Werk, welches in seiner Zeit verwurzelt ist, hat unserer eigenen, völlig anderen Zeit immer noch viel zu bieten. So beschäftigte er sich eingehend mit der Möglichkeit des kollektiven Handelns. In Kritik der dialektischen Vernunft unterschied er zwischen Menschen, die auf einen Bus warten und der Menschenmenge, welche die Bastille stürmte.
Jene, die auf den Bus warten, sind am gleichen Ort und haben das gleiche Ziel (in den Bus einzusteigen); doch weil es im Bus nicht genug Platz gibt, ist jedes Individuum ein Hindernis für die anderen. Im Gegensatz dazu sind diejenigen, die die Bastille erstürmen – die Sartre eine »fusionierende Gruppe« nannte – nicht nur durch ein gemeinsames Ziel miteinander verbunden, sondern auch auf die Unterstützung der anderen angewiesen (ich kann die Bastille nicht allein erstürmen). Wie eine fusionierende Gruppe entstehen kann, bleibt weiterhin eine zentrale Frage.
Die Existenz der menschlichen Freiheit bedeutet für Sartre, dass es kein vordeterminiertes Ergebnis der Geschichte geben kann. Wie er 1945 in seinem Essay Ist der Existentialismus ein Humanismus schrieb:
»Morgen nach meinem Tode können Menschen beschließen, den Faschismus einzuführen und die anderen können feige und ratlos genug sein, um sie machen zu lassen; in diesem Augenblick wird der Faschismus die menschliche Wahrheit sein, und desto schlimmer für uns«
Dieses Zitat lässt eine Referenz auf Rosa Luxemburgs Gegenüberstellung von »Sozialismus oder Barbarei« anklingen. Das ist kein Zufall. In Sartres letztem Theaterstück Die Eingeschlossenen von Altona versucht sich der Hauptcharakter Franz vorzustellen, wie man in der Zukunft den Abschnitt der Geschichte beurteilen wird, in dem man selbst lebt. Doch als er Jahrhunderte in die Zukunft blickt, findet er keine Menschen mehr, die über die Menschheit urteilen könnten, nur das Gericht der Krabben. Damals fürchtete sich Sartre vor dem nuklearen Krieg. Heute können wir uns nur allzu leicht eine Zukunft vorstellen, in der es nur noch Krabben gibt, nachdem der steigende Meeresspiegel die Menschheit hat untergehen lassen. Darin zeigt sich, dass Sartres Denken noch immer zu unseren Hoffnungen und auch unseren Ängsten spricht.
Ian Birchall ist Autor des Buches »Sartre Against Stalinism« und zahlreicher Artikel und Essays über das Werk Jean-Paul Sartres.
Ian Birchall ist Autor des Buches »Sartre Against Stalinism« und zahlreicher Artikel und Essays über das Werk Jean-Paul Sartres.