15. April 2022
Mit Putins Angriffskrieg beginnt eine neue, gefährliche Ära in der globalen Sicherheitspolitik. Wer die eskalierende Militarisierung verhindern will, muss jetzt gegen den Wind segeln.
Eine Frau läuft entlang eines »humanitären Korridors« aus Mariupol.
Der Krieg, der tobt, während ich diese Zeilen schreibe – dass russische Raketen auf ukrainische Städte niederprasseln, Häuser zerstören, wichtige Infrastruktur beschädigen und Menschenleben vernichten –, ist etwas, womit die meisten von uns bei JACOBIN nicht gerechnet haben. In den Tagen vor dem Einmarsch glaubten wir, wie auch ein großer Teil der internationalen Gemeinschaft (und nicht zuletzt die meisten Ukrainerinnen und Ukrainer selbst), dass Wladimir Putin bluffen würde.
Wir dachten, er wollte den Westen verunsichern, vielleicht die Kriegsdrohung nutzen, um einen Keil zwischen NATO-Mitgliedsstaaten zu treiben und einen günstigeren Ausgang für sich zu erreichen – zweifellos eine zynische Masche, aber dennoch aus seiner Sicht rational. Irrational hingegen wäre ein militärischer Überfall, der für die Ukraine, Russland und nicht zuletzt Putin selbst nur in einer Katastrophe enden könnte. Also keine Panik.
Offensichtlich haben wir uns geirrt. Wir haben das Kalkül und die geopolitischen Ambitionen des Kremls falsch eingeschätzt. Wir waren nicht sensibel genug für das großrussische Projekt, das Putin übernommen hat, um seine bröckelnde Herrschaft ideologisch zu legitimieren – ein Regime, das sich in den letzten Jahren angesichts wirtschaftlicher Stagnation und wachsenden Unmuts mehr und mehr auf offene Repression verlassen hat. Infolgedessen haben wir den Krieg nicht kommen sehen, bis er am Morgen des 24. Februar auf unseren Bildschirmen explodierte.
Wann immer man sich in einer so schwerwiegenden Angelegenheit irrt, muss man sorgfältig reflektieren, woran das lag, und seine Annahmen überdenken. Was wir brauchen, ist eine ehrliche Bestandsaufnahme der sich entfaltenden Ereignisse und eine besonnene Bewertung, ob sie nur einen falschen Standpunkt widerlegen oder unseren analytischen Rahmen als solchen außer Kraft setzen.
In dieser Hinsicht ist es ebenso bemerkenswert wie beunruhigend, in welchem Ausmaß und mit welcher Geschwindigkeit einige Linke den russischen Einmarsch in die Ukraine zum Anlass genommen haben, seit langem bestehende sozialistische Grundsätze über Bord zu werfen. In diesem Milieu, in dem Selbstgeißelung und öffentliche Denunziation zunehmend an die Stelle solidarischer Debatten treten, ist es in den letzten Wochen in Mode gekommen, von einer chimärischen »westlichen Linken« zu fabulieren: Diese habe die Appelle ihrer osteuropäischen Genossinnen und Genossen ignoriert und den Konflikt mit Russland ausschließlich von ihrem eigenen Standpunkt betrachtet. Die Jagd nach vermeintlichen oder echten »Putin-Verstehern« in den eigenen Reihen scheint Vorrang vor einer Analyse zu haben, wie dieser Krieg begonnen hat, welche Interessen dabei auf dem Spiel stehen oder wie er beendet werden könnte.
Wir sollten diese Appelle aus dem Osten auf jeden Fall ernst nehmen. Gleichzeitig müssen wir aber auch sehen, von welchen Akteuren und zu welchen Zwecken sie im Westen missbraucht werden. Sei es die Redaktion des Business Insider, die sich zum ersten Mal in ihrer Geschichte außenpolitischen Debatten unter Sozialistinnen und Sozialisten widmet, oder die gleichen deutschen »Linken«, die uns 2003 einreden wollten, der US-amerikanische Überfall auf den Irak sei eine notwendige Demokratisierungsoperation (mit einer ähnlichen Argumentation, wie sie die Ideologen des Kremls heute gebrauchen) – ihre Ziele und Motivationen sind nicht die unseren. Kritische Reflexion ist durchaus geboten, aber indem wir in diesen Chor der Verurteilung einstimmen, als wären wir für Putins Krieg mitverantwortlich, arbeiten wir nur mit an unserer eigenen politischen Demontage.
»Indem die Linke die Imperialismustheorie aufgibt oder erwägt, ob der westliche Imperialismus im Vergleich zur russischen Aggression vielleicht doch nur halb so schlimm ist, riskiert sie, eines ihrer nützlichsten analytischen Instrumente im Interesse vorübergehender politischer Zweckmäßigkeit zu opfern.«
Der schiere Horror dessen, was sich in der Ukraine abspielt, verbunden mit unserer Unfähigkeit, etwas Konkretes dagegen zu unternehmen, unterstreicht schmerzlich unsere Marginalität und völlige Irrelevanz auf der weltpolitischen Bühne. Diese bittere Realität hat viele Ursachen, doch eine mangelnde Bereitschaft, Krieg und Aufrüstung gutzuheißen, gehört sicherlich nicht dazu. Die Linke konnte diesen Krieg nicht verhindern und sie kann ihn auch nicht stoppen. Sie kann höchstens Partei ergreifen für eine von zwei Seiten, die sich für ihre Positionierung allerdings nicht wirklich interessieren. Linke, die sich bereitwillig dem einen oder anderen Lager einordnen, werden höchstens temporär als nützliche Idioten eingesetzt, bevor man sie wieder ausspuckt und gegebenenfalls einsperrt.
Was die Verantwortung für den gegenwärtigen Krieg angeht, kann es keine moralische Unentschiedenheit geben: Der russische Überfall auf die Ukraine ist ein krimineller Akt, für den allein Putin und sein Regime verantwortlich sind. Nichts kann ihn rechtfertigen – weder die besorgniserregende Präsenz organisierter Neonazis in den Reihen des ukrainischen Militärs (die es übrigens auch in den russischen Streitkräften gibt) noch die wiederholte NATO-Osterweiterung, die Russland verständlicherweise erzürnt und zu Forderungen nach Sicherheitsgarantien bewegt hat. Was auch immer Putins Ziele sein mögen, wir können uns sicher sein, dass sie nicht im Interesse des Friedens, der Demokratie oder der Völkerverständigung sind. Alle »Linken«, die etwas anderes behaupten, sind entweder zutiefst zynisch, absichtlich blind oder beides.
Banale Bekenntnisse zu sozialistischen Grundsätzen abzugeben, ist einfach. Unendlich schwieriger ist die Frage, was getan werden sollte. Für viele Linke liberaler und radikaler Couleur scheint die unmittelbare, emotionale Reaktion darin zu bestehen, den ukrainischen Widerstand mit Waffen versorgen zu wollen. Dieser Impuls ist verständlich – schließlich fühlt sich jeder anständige Mensch gezwungen, jemandem zu Hilfe zu kommen, der von einem Tyrannen drangsaliert wird, der mehr als viermal so groß ist wie er. Aber ein Krieg – insbesondere einer, an dem eine Atommacht beteiligt ist – ist keine Klopperei auf dem Schulhof. Ernsthafte Menschen können es sich nicht leisten, Weltpolitik durch die Brille des »Auge um Auge, Zahn um Zahn« zu betrachten.
Selbstverständlich haben die Menschen in der Ukraine das Recht, sich militärisch zu verteidigen – genau wie die Irakerinnen und Afghanen es hatten, als sie vom Westen überfallen worden. Politisch müssen wir aber die Frage stellen, was von einer solchen militärischen Logik zu erwarten ist. Es gibt unübersehbare Anzeichen, dass zumindest ein Teil der US-Regierung die Ukraine zu einem zweiten Afghanistan für Russland machen will, um Putins Regime ausbluten zu lassen, wie damals die späte Sowjetunion. Da Russland trotz aller ukrainischen Gegenwehr militärisch haushoch überlegen bleibt, würde ein solches Szenario jedoch einen langen, zermürbenden Konflikt bedeuten, der große Teile des Landes in Schutt und Asche legt, so wie es in Syrien geschehen ist.
Selbst wenn die ukrainischen Streitkräfte die russische Armee letztendlich aus ihrem Land vertreiben sollten, bleibt die Frage, was nach Jahren des Krieges noch davon übrig sein würde. Krieg ruft nicht nur die Tapferkeit der Menschen auf den Plan, sondern belebt auch die Geister des völkischen Nationalismus, die ohnehin schon in der Ukraine präsent waren. Vom Westen gelieferte Waffen können auch in den Händen von rechtsradikalen Kampftruppen wie dem Regiment Azow landen und tun es auch jetzt schon. Wir haben in der Geschichte schon oft genug gesehen, wie legitime Selbstverteidigung gegen eine Invasion dazu führte, dass reaktionäre Kräfte auch aufseiten der Verteidiger profitierten. Bisher deutet vieles darauf hin, dass es in der Ukraine ähnlich kommen wird.
Aber wenn Waffenlieferungen nicht mit einem progressiven Weltbild vereinbar sind, dann vielleicht Sanktionen? Gezielte Sanktionen natürlich, welche die wirtschaftlichen und politischen Eliten um Putin treffen, während sie den Durchschnittsrussen, der schon vor dem Krieg mit kaum 500 Euro im Monat auskommen musste, (hoffentlich) aussparen. Doch Putins Kriegskasse ist prall gefüllt – Sanktionen werden die Kriegsmaschinerie kurzfristig wohl nicht ausbremsen. Ohnehin ist der größte Teil der russischen Eliten bisher von Maßnahmen gegen sie persönlich verschont geblieben, während beträchtliche Sanktionen eingeführt wurden, die der russischen Volkswirtschaft als ganzer – also auch der breiten Bevölkerung – schaden.
Länder mit autoritären und im Westen verhassten Regimen wie der Iran und Nordkorea harren seit Jahrzehnten unter Sanktionen aus. Dort sind die Preise für Medikamente und Lebensmittel in die Höhe geschossen, für die einfachen Leute ist der Alltag teils untragbar geworden – gefallen ist bisher keines dieser Regime. Nach dem ersten Irakkrieg verhungerten Hunderttausende Kinder aufgrund der von den USA verhängten Sanktionen, ohne dass Saddam Hussein gestürzt wurde. Warum sollte das in Russland – einem wirtschaftlich wesentlich entwickelteren und weltweit längst nicht so isolierten Land – anders sein?
Keine dieser Feststellungen trägt irgendwas zur Beruhigung bei, noch ist es besonders populär, sie zu äußern. Aber das macht sie nicht weniger zutreffend. »Die Lage«, so formulierte es Benjamin Opratko kürzlich im Tagebuch, »ist beschissen, die Optionen nur in Nuancen unterschiedlich schlecht, die Widersprüche fast unerträglich«. Die Linke wird diesen Krieg nicht beenden können – das können nur ein Waffenstillstand und eine Verhandlungslösung leisten. Was wir jedoch tun können, ist, trotz aller militärischen und verbalen Eskalation bei Vernunft zu bleiben; zu analysieren, wie es zu dieser Situation kommen konnte; festzustellen, wer oder was sie verschlimmert; und unser Bestes zu tun, um eine Alternative zu formulieren, von der wir vielleicht nicht die Industriebarone und Berufsaußenpolitikerinnen, wohl aber die Bevölkerungsmehrheit überzeugen können.
Die Geschichte der gebrochenen Sicherheitsgarantien zwischen Russland und dem Westen, seien es die SALT-Verträge der 1970er Jahre, das Budapester Memorandum von 1994 oder die Minsker Vereinbarungen, ist seit Beginn der russischen Invasion etliche Male erzählt worden und muss hier nicht wiederholt werden. Beide Seiten – Russland und der Westen – haben ihre Verpflichtungen ignoriert, wenn das ihnen nutzte, haben Stellvertreterkonflikte provoziert und völkerrechtswidrige Kriege geführt. Es gibt keinen Grund zu glauben, dass sie das hiernach nicht wieder tun werden.
Einige Linke und die meisten Liberalen scheinen Schwierigkeiten damit zu haben, diese fast unerträglichen Widersprüche in der Praxis auszuhalten. Statt einer nuancierten Analyse mit Raum für Komplexität scheint ein Teil des Diskurses über den Krieg von einem moralischen Imperativ geleitet zu sein: Russlands Invasion ist völkerrechtswidrig und verwerflich, ergo müssen wir den ukrainischen Widerstand mit Geld und Waffen unterstützen und uns auf die NATO einschwören, weil »die Ukrainer« oder »die Osteuropäer« (fragwürdige Verallgemeinerungen, die jede Sozialistin misstrauisch machen sollten) uns sagen, dass wir das zu tun haben. Jetzt sei nicht die Zeit, um über den westlichen Imperialismus oder die Verbrechen unserer eigenen Regierungen zu sprechen und so weiter.
In Wirklichkeit kann beides zugleich wahr sein: Man kann Putins Russland als einen regionalen Hegemon kritisieren, der reaktionären nationalen Chauvinismus fördert und seine Nachbarn tyrannisiert, ohne dabei auszublenden, dass die NATO als verlängerter Arm des US-Imperiums fungiert und sich nicht etwa aufgelöst, sondern in ihrer Größe fast verdoppelt hat, seit ihre vorgebliche Existenzberechtigung – die Sowjetunion samt ihrer Verbündeten – vor dreißig Jahren verschwunden ist.
Die osteuropäischen Länder (oder zumindest ihre Regierungen) können sich zurecht von den Ambitionen Putins bedroht fühlen und streben daher verständlicherweise den Beitritt zur NATO an. Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass sich die meisten von ihnen an der völkerrechtswidrigen Invasion im Irak beteiligen mussten, um beitreten zu dürfen, wie der ehemalige ständige Vertreter Bulgariens bei der UN kürzlich zugab. Es ändert nichts daran, dass der vom Westen geführte Krieg gegen den Terror viel mehr Tod und Leid verursacht hat als Putins Kriege. Es liefert uns aber auch keinen Grund, eine der beiden Seiten gegenüber der anderen zu bevorzugen.
Die Aussage, dass die Welt vom US-Imperialismus dominiert wird, bedeutete nie »Amerika schlecht, Russland und China gut«. Seit seinen Ursprüngen im klassischen Marxismus des frühen 20. Jahrhunderts hat der Begriff des Imperialismus stets bezeichnet, wie die größten und mächtigsten kapitalistischen Staaten mit allen Mitteln versuchen, ihren Einfluss auf externe Märkte und natürliche Ressourcen zu sichern, was oft in Krieg und Kolonisierung mündet.
Es lässt sich darüber streiten, ob Russland – ein Land mit 144 Millionen Einwohnern, aber einem BIP ähnlich dem von Spanien – wirklich als einer der mächtigsten kapitalistischen Staaten angesehen werden kann. Aber Putins Bestreben, die russische Hegemonie über sein nahes Ausland wiederherzustellen, weist wenn auch nicht klassisch imperialistische, so doch in jedem Fall imperiale Züge auf. Das ändert nichts an der Tatsache, dass die USA mit ihren fast 750 Militärbasen in achtzig Ländern die bei weitem führende imperialistische Supermacht sind und dies auch in den kommenden Jahren bleiben werden, selbst wenn China, Indien und in gewissem Maße auch Russland allmählich zu eigenständigen (sub-)imperialistischen Mächten aufsteigen.
Indem die Linke die Imperialismustheorie aufgibt oder erwägt, ob der westliche Imperialismus im Vergleich zur russischen Aggression vielleicht doch nur halb so schlimm ist, riskiert sie, eines ihrer nützlichsten analytischen Instrumente im Interesse vorübergehender politischer Zweckmäßigkeit zu opfern. Das mag sich für einen Moment richtig anfühlen – aber wenn sich der Staub gelegt hat, wird der russische Imperialismus (oder wie auch immer wir ihn nennen wollen) entscheidend geschwächt sein, vielleicht sogar endgültig. Die USA und die NATO hingegen werden so stark sein wie seit Jahrzehnten nicht mehr – nun, da die Verwüstungen im Irak und in Afghanistan von ihrem mutigen Auftreten gegen Putins Invasion überschattet werden.
Eine kleine Zahl von hängengebliebenen Linken mag davon träumen, dass sich der Krieg in der Ukraine in einen »Volkskrieg« verwandeln ließe, in dem die Menschen die Waffen gegen ihre eigene Eliten statt gegeneinander richten. Andere mögen in der geopolitischen Konfrontation eine Chance sehen, die schwerfälligen außenpolitischen Positionen linker Parteien endlich zu aktualisieren und sie damit wieder einer breiteren Öffentlichkeit schmackhaft zu machen. Wir sollten uns aber keine Illusionen darüber machen, was uns in den kommenden Monaten erwartet: Der Krieg in der Ukraine und die dadurch ausgelöste Militarisierung des öffentlichen Raums werden der Linken schwere Rückschläge bescheren. Zu einem gewissen Grad tun sie es jetzt schon.
In Deutschland haben die sich drehenden geopolitischen Winde bereits eine weltgeschichtliche Zäsur ausgelöst: Olaf Scholz’ Ankündigung eines einmaligen Sondervermögens in Höhe von 100 Milliarden Euro für die Ausrüstung der Bundeswehr und die Verpflichtung Deutschlands auf das NATO-Ziel, jährlich 2 Prozent seines BIP für Verteidigungsausgaben aufzuwenden. Dies ist der »Nixon geht nach China«-Moment der deutschen Sozialdemokratie, der die ab 1998 von der damaligen rot-grünen Regierung eingeleitete Wende zum deutschen Militarismus vollendet – und zwar mit begeisterter Unterstützung eines großen Teils der Bevölkerung. Was über zweieinhalb Generationen hinweg für Sozialdemokraten und Grüne undenkbar gewesen wäre, ist über Nacht Tatsache geworden: Deutschland rüstet wieder auf, und zwar ausgerechnet gegen Russland.
Das bedeutet nicht, dass wir in nächster Zeit einen deutschen Einmarsch in Polen befürchten müssen – der Imperialismus funktioniert heute anders. Ein wieder aufgerüstetes Deutschland wird nach wie vor seine Position als Nummer zwei in der erstarkten, von den USA geführten transatlantischen Allianz einnehmen. Aber es wird wesentlich mehr Mittel als bisher für die Aufrechterhaltung der westlichen Hegemonie an den EU-Außengrenzen und die Einkreisung eines aufstrebenden China im Osten einsetzen. Es bedeutet auch, wie sich bereits zeigt, eine zunehmend kriegerische Rhetorik vonseiten Liberaler und Konservativer, bei denen beiläufige Vergleiche zwischen Putin und Hitler zum Standard gehören, und ein zunehmend feindseliges Klima gegen sozialistische Politik, die notwendigerweise die Klasse über die Nation stellt.
»Sowohl in Russland als auch in der Ukraine kommt der Druck des Krieges den reaktionärsten sozialen Elementen zugute.«
Ein ähnlicher, wenn auch noch gravierenderer Wandel vollzieht sich in den Ländern, die sich im Krieg befinden: Sowohl in Russland als auch in der Ukraine kommt der Druck des Krieges den reaktionärsten sozialen Elementen zugute, wodurch rassistische und faschistische Kräfte gestärkt und all jene an den Rand gedrängt werden, die sich weigern, an dem Gemetzel teilzunehmen. Sozialistische Kräfte in diesen beiden Ländern und in Osteuropa im Allgemeinen, die schon heute marginalisiert und heftigen staatlichen Repressionen unterworfen sind, werden sich in Zukunft aller Wahrscheinlichkeit nach schrecklichen Angriffen vonseiten der Nationalisten ausgesetzt sehen. Hier müssen wir nicht nur moralischen Beistand leisten, sondern auch unser Bestes tun, um sie vom Westen aus materiell zu unterstützen.
Sollte sich der Krieg in die Länge ziehen und der Flüchtlingsstrom unvermindert anhalten, werden wir wohl leider erleben, wie auch die öffentliche Stimmung bezüglich der Geflüchteten kippt. Es mag sein, dass die relative kulturelle und geografische Nähe der Ukraine zu Deutschland ausreicht, um die allgemeine Willkommenskultur länger am Leben zu erhalten, als es bei der Flüchtlingskrise 2015 der Fall war. Aber vermeintlich gemeinsame Religion und Essgewohnheiten zählen wenig, wenn es um die begrenzte Verfügbarkeit von Arbeitsplätzen oder sozialen Gütern geht.
Warum, so werden die AfD und ihresgleichen fragen, nehmen diese Leute hier gute deutsche Jobs weg, anstatt ihr Land zu verteidigen (oder wiederaufzubauen), wie es ihre Pflicht wäre? Sie hätten den Krieg doch bloß als Vorwand benutzt, um hier bei uns zu schmarotzen. Es gibt mehr als genug antislawische Tropen, aus denen deutsche Rechte schöpfen können, um eine solche Stimmung zu schüren. Auch hier hat die Linke eine moralische und politische Verpflichtung, für die Menschlichkeit einzustehen und dagegen anzugehen, dass schon wieder die Schwächsten in unserer Gesellschaft gegeneinander ausgespielt werden.
Es kann gut sein, dass der Krieg zu dem Zeitpunkt, an dem dieser Text Dich erreicht, bereits beendet oder in eine neue Phase eingetreten ist. Aber die Geister, die er rief, werden sich so schnell nicht wieder verjagen lassen.
Russlands Überfall auf die Ukraine hat ein gefährliches neues Kapitel im Kräftemessen zwischen Russland, China und dem Westen aufgeschlagen – und das zu einem weltgeschichtlich besonders ungünstigen Zeitpunkt. Die Herausforderungen des Klimawandels erfordern mehr denn je multilaterale Zusammenarbeit und erheblich höhere öffentliche Ausgaben, um auch nur das Minimalprogramm des Pariser Abkommens einzuhalten. Stattdessen wird wieder um Interessensphären gerungen, in regionalen Machtblöcken gedacht und über einen neuen Kalten Krieg spekuliert. Statt die Sozialsysteme auszubauen und in erneuerbare Infrastruktur zu investieren, wird wieder aufgerüstet.
»Statt gegen das Militär, den größten Umweltsünder unserer Tage, auf die Straße zu gehen, streitet sie sich in diesem historischen Moment darüber, ob weiße Menschen eigentlich Rastafrisuren tragen dürfen.«
Die einzige große gesellschaftliche Mobilisierung der letzten Jahre, die Klimabewegung, hat in dieser Frage bisher leider versagt: Statt gegen das Militär, den größten Umweltsünder unserer Tage, auf die Straße zu gehen, streitet sie sich in diesem historischen Moment darüber, ob weiße Menschen eigentlich Rastafrisuren tragen dürfen. Die Vision einer durch ihr gemeinsames Schicksal vereinten, solidarischen Weltgemeinschaft rückt mit jedem Kriegstag in noch weitere Ferne.
Es ist, wie es ist. Nach einem Jahrzehnt, in dem es sich manchmal so anfühlte, als bekäme unsere Seite wieder Aufwind, müssen wir nun wieder dem Wind entgegen segeln. Die Minderheit, die sich 2001 gegen den Krieg in Afghanistan stellte, wurde damals als weltfremd und altbacken angefeindet. Ich erinnere mich sehr gut, wie ich als Schüler angespuckt wurde, als ich an Friedensmahnwachen in meiner verschlafenen US-amerikanischen Heimatstadt teilnahm. Doch zwanzig Jahre später waren es die Angespuckten und Angefeindeten, die Recht behielten.
Kurt Tucholsky wird häufig – und in den letzten Wochen besonders häufig – das Zitat zugeschrieben: »Jeder Krieg ist eine Niederlage. Denn Krieg vernichtet Leben.« In Wirklichkeit finden sich diese Worte nirgendwo in seinem Werk, wahr sind sie dennoch. Im Krieg bezahlen Menschen für die Mordslust ihrer politischen und militärischen Anführer mit ihrem Leben. Bevölkerungen fallen in Armut, während die Reichen und Mächtigen ungeschoren davonkommen. Das wird in diesem Krieg – und in zukünftigen – nicht anders sein.
So einfach es klingen mag: Die zentrale Aufgabe der Linken ist es in diesem Moment, gegen Militarisierung auf allen Seiten zu argumentieren und begreiflich zu machen, wie dieser Krieg mit dem Wesen unseres zerstörerischen Weltsystems verbunden ist. Es reicht aber nicht aus, dass wir als Einzelne in Kneipengesprächen oder auf Twitter die Stellung halten. Was die Welt braucht, ist eine neue Antikriegsbewegung in Ost und West, die anstelle der neuen Blockkonfrontation einen Kampf zwischen Unten und Oben anstrengt.
Die Debatte über Sanktionen gegen Russlands sogenannte Oligarchen liefert hier einen Ansatzpunkt. Denn nicht nur in Russland und der Ukraine, sondern auch im Westen sitzen Milliardäre, die mit denselben Mechanismen ihre Vermögen vor den Pfändern der Finanzministerien verstecken. Wenn es dem Westen gelingen sollte, Putins Oligarchen finanziell kaltzustellen, dann wissen wir, dass es auch bei unseren eigenen möglich sein müsste.
Loren Balhorn ist Redakteur bei JACOBIN.
Loren Balhorn ist Editor-in-Chief von JACOBIN.