01. Mai 2020
Wollen wir über die Sozialdemokratie der Gegenwart hinauskommen, lohnt es sich zu verstehen, was sie in der Vergangenheit so erfolgreich machte.
Tage Erlander
Für die europäische Sozialdemokratie sind gute Nachrichten rar geworden. Abgesehen von einer handvoll Ausnahmen befinden sich die einstigen Massenparteien überall im Sinkflug, in einzelnen Fällen gar in Auflösung. Zwar sind sozialdemokratische Kräfte in fast der Hälfte der EU-Staaten und in zwei Drittel der deutschen Bundesländer an der Regierung beteiligt. Doch wo sie einst eine tiefe gesellschaftliche Hoffnung verkörperten, stehen ihre Symbole und Slogans heute vielerorts für nichts als austauschbare Machtpolitik, besonders für junge Leute. Und es findet sich immer noch ein Fernseh-Comedian, der sich nicht zu schade ist, das tote Pferd nochmal zu treten.
Sollte uns das stören? War die Sozialdemokratie nicht stets zu Zugeständnissen ans Kapital bereit? Hat sie nicht von vornherein auf ihre Einbindung in den Herrschaftsapparat gewartet? War sie so nicht letzten Endes eine Feindin jener einfachen Leute, die Hoffnung in sie setzten? Sprichwörtlich ist ihr Verrat an der deutschen Novemberrevolution, unvergessen auch Erich Mühsams bitterer Spott über den braven »Revoluzzer«, der während der Revolution zu Hause blieb, um ein Buch zu schreiben »wie man revoluzzt / und dabei doch Lampen putzt«.
Eines der klügsten und vernichtendsten Dokumente linker Kritik an der Sozialdemokratie ist der 1985 erschienene Essay Beyond Social Democracy von Ralph Miliband und Marcel Liebman. Darin kreiden sie der Sozialdemokratie an, durch ihr Kompromisslertum systematisch die Reichweite sozialer Reformen begrenzt und so das Einfallstor für den Gegenangriff von rechts weit offen gelassen zu haben. Sie zeigen außerdem, wie eine zentrale Wirkung sozialdemokratischer Politik stets darin bestand, spontane Impulse des Aufbruchs und des Protests von unten unter die Kontrolle eines schwerfälligen und konventionellen Parteiapparats zu bringen, der nichts als Wahlen gewinnen und Posten sichern wollte.
Milibands und Liebmans hellsichtige Kritik hat keinen Deut an Aktualität eingebüßt. Auch ihre Gegenformel zur Sozialdemokratie – der »revolutionäre Reformismus« – verdient nach wie vor Beachtung. Die Vorstellung, die schleichende Krise der Sozialdemokratie würde über kurz oder lang die Möglichkeit eines neuen Aufbruchs eröffnen, hat sich hingegen nicht bewahrheitet. Ebenso wenig können wir anderthalb Generationen später ihre vorsichtige Hoffnung auf die Formierung neuer sozialistischer Linksparteien teilen.
»Wie zum Sozialismus gelangen mit einer Gesellschaft, die für eine Revolution nicht bereit ist?«
Heute, da die tiefe Krise der Sozialdemokratie manifest geworden ist, ohne dass sie irgendwo zu einer langfristigen Stärkung progressiver Kräfte geführt hätte, lohnt es sich, den Spieß umzudrehen und an die andere Seite der Sozialdemokratie zu erinnern – daran nämlich, dass sie nicht immer nur stabilisierte, bremste und brav mitregierte, sondern zunächst über Jahrzehnte eine radikale Bewegung arbeitender Menschen verkörperte und auch später erhebliche Verbesserungen für die breite Masse der Bevölkerung erkämpfen konnte. Und dass die Fragen, an denen sie im Laufe ihrer Geschichte scheiterte, jene sind, mit denen sich alle politischen Kräfte konfrontiert sehen, die versuchen, gesellschaftliche Mehrheiten für ein anspruchsvolles Programm zu organisieren:
Wie mit dem Dilemma umgehen, dass man zugleich innerhalb der bestehenden Institutionen agieren und über sie hinaus denken muss, um die eigenen Versprechen zu halten? Wie einen nationalen Konsens erringen und zugleich parteiisch Politik für einen bestimmten Teil der Bevölkerung – die Arbeiterinnen und Arbeiter – machen? Wie zum Sozialismus gelangen mit einer Gesellschaft, die für eine Revolution nicht bereit ist?
Die Sozialdemokratie entstand ursprünglich als eine kollektive politische Antwort auf die Ausbeutung und das Elend der kapitalistischen Produktionsweise im 18. und 19. Jahrhundert. In den neu entstehenden Fabriken sammelten sich Millionen armer Landarbeiterinnen, die aus ihren traditionellen Milieus herausgelöst und in die urbanen Zentren gesaugt wurden, wo ihre elende, mühevolle Arbeit den wachsenden kapitalistischen Weltmarkt speiste. Während um sie herum eine neue, bürgerliche Oberschicht zu Reichtum gelangte, erlebten die Schöpferinnen und Schöpfer dieses Wohlstands, wie sich ihre Lebensqualität im Vergleich zur vorherigen Existenz auf dem Land drastisch verschlechterte.
Wohin sich die Zumutungen der industriellen Lebensweise auch ausbreiteten, wurde ihnen mit Widerstand begegnet. Im Berlin der 1830er Jahre entzündeten sich einige der ersten größeren Arbeiteraufstände nicht an den Arbeitsbedingungen selbst, sondern am Versuch, einen seltenen Trost, das Rauchen, zu verbieten. An anderen Orten stürmten Handwerker Fabriken, um die Maschinen, die sie ersetzen sollten, kurzerhand kaputt zu schlagen.
Die sozialdemokratischen Parteien hatten das Ziel, diesen vielfältigen Widerstand der unteren Klassen zu bündeln und in eine politische Organisation zu überführen. Sie waren ein Sammelbecken von Arbeiterverbänden und radikalen Gruppierungen aller Art. Die Unterschiede ihrer Strömungen waren dynamisch, beeinflussten und befeuerten sich gegenseitig, zentrale strategische Fragen waren noch ungeklärt. Gemeinsam war allen aber die grundlegende Analyse, wonach die Lohnabhängigen die Schaltstellen von Produktion, Tausch und Verteilung würden erobern müssen, um Elend und Ungleichheit zu bekämpfen und eine tiefgehende Demokratisierung der Gesellschaft durchzusetzen.
Mit dieser Zielsetzung sah sich die Sozialdemokratie in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz erheblicher staatlicher Repression ausgesetzt. Sie kämpfte in dieser Zeit nicht um die Staatsmacht, sondern gegen sie. Ihr Einfluss basierte zunächst nicht auf parlamentarischer Stärke, sondern auf einem riesigen Netzwerk von Parteizellen, Gewerkschaften und anderen Massenorganisationen wie Gesangs- oder Radsportvereinen. Dieses Netzwerk war fest in der Kultur jener proletarischen Parallelgesellschaft verankert, in der Arbeiterinnen und Arbeiter ihre Ideale und ihre Identität fast ausschließlich unter sich entwickelten.
Zugleich stand jedoch stets die Frage im Raum, wie sich diese Massenbewegung arbeitender, armer und gesellschaftlich verachteter Menschen in echte Macht umsetzen ließe. Grundsätzlich standen hierfür zwei Hebel bereit: Wie die SPD-Aktivistin Rosa Luxemburg und andere Verfechterinnen des Massenstreiks betonten, hatten Arbeiterinnen und Arbeiter die strukturelle Macht, die Produktion zum Halten zu bringen und so auch die politische Macht des Kapitals zu brechen.
Andererseits verfügten die Arbeiterinnen und Arbeiter über Organisationsmacht in Form ihrer Parteien und Gewerkschaften. Durch die Übernahme von Regierungsmehrheiten durch sozialdemokratische Parteien, so dieser Ansatz, könnte der Bewegung das notwendige staatliche Instrumentarium erschlossen werden, um aus der sozialistischen Hoffnung Realität zu machen.
Im Hintergrund der strategischen Diskussion stand die grundsätzliche Frage, wie man es mit dem Staat halten solle. Einer der Urväter der Sozialdemokratie, der rheinländische Handwerker August Bebel, proklamierte 1870 das Ziel »aus einem auf Klassenherrschaft bestehenden Staat« einen »Volksstaat« zu schmieden. César De Paepe, Mitbegründer der belgischen Bewegung, entwarf wenige Jahre später das Idealbild eines »neuen Staates« in Form einer dezentralen Föderation, die die wichtigsten Wirtschaftszweige verwalten, sich langfristig aber überflüssig machen sollte. Die Staatsfrage führte zu ersten tiefen Rissen in der Bewegung, prominent dem zwischen Marxismus und Anarchismus. Doch bei der Gründung der Sozialistischen Internationale 1889 in Paris bekannten sich alle Mitglieder zu dem Ziel, die staatliche Macht zu übernehmen und so die erste, notwendige Zwischenstufe im Übergang zum Sozialismus einzuleiten.
Die Auffassung, dass parlamentarische Macht und »demokratischer Klassenkampf« (wie es der Soziologe Seymour Lipset später formulierte) den Weg zum Sozialismus bahnen würden, war damals kein Zeichen des Einknickens. Alle Flügel der Arbeiterbewegung waren »reformistisch«: Sie verstanden unmittelbare Verbesserungen in Lohnverhältnissen und Arbeitsbedingungen wie auch den Kampf um das allgemeine Wahlrecht als integralen Bestandteil einer langfristigen Transformation der Gesellschaft.
Und auch der Kampf um parlamentarische Macht war für die allermeisten von schlagender Evidenz: Die Proletarisierung breiter Gesellschaftsschichten war voll im Schwange, die »natürliche« Wählergruppe der Sozialdemokratie wuchs. Schon 1895 hatte Engels festgestellt: »Geht das so voran, so erobern wir bis Ende des Jahrhunderts den größeren Teil der Mittelschichten der Gesellschaft, Kleinbürger wie Kleinbauern, und wachsen aus zu der entscheidenden Macht im Lande, vor der alle andern Mächte sich beugen müssen, ob sie mögen wollen oder nicht.«
Tatsächlich schritt die junge Sozialdemokratie bei den ersten freien Wahlen von einem Sieg zum nächsten, während Massenstreiks im gleichen Zeitraum mehrmals zu schweren Niederlagen führten (so 1902 in Belgien, 1909 in Schweden oder 1921 in Norwegen). In Deutschland wurde der parlamentarische Arm der Arbeiterbewegung, die SPD, 1912 mit 34,8 Prozent mit Abstand »die stärkste der Partei’n«, fast alle westeuropäischen Länder folgten bald. Die ersten Sozialdemokratinnen hatten in wenigen Jahrzehnten erlebt, wie aus konspirativen Kreisen zunächst eine Gegenkultur und dann rasch eine Massenbewegung wurde, die zunehmend in der Lage schien, die Macht im Staat für sich zu beanspruchen. Warum eine derart erfolgreiche Strategie infrage stellen?
Doch der parlamentarische Weg zwang die Sozialdemokratie auch, gesellschaftliche Mehrheiten zu organisieren und dazu politische Koalitionen einzugehen. Denn entgegen der Prognosen wuchs das Proletariat nicht unendlich an. Stattdessen schufen der Ausbau der Verwaltung, des Sozialstaats, des Handels und des mittleren Managements der industriellen Produktion eine Reihe von Mittelklassen, die weder ganz zur Arbeiterschaft noch zur Klasse der kapitalistischen Eigentümer gehörten und sich in Lebensstil und Weltanschauung tunlichst von der proletarischen Kultur abgrenzten. Auch die Bauernschaft war zwar vermindert, jedoch weit davon entfernt, auf eine unbedeutende Größe zusammenzuschrumpfen. So war die Sozialdemokratie in mehreren Parlamenten stärkste Kraft geworden, hatte jedoch nirgends ausreichend Stimmen, um allein zu regieren. Um ihr Programm durchzusetzen, hatte sie keine andere Wahl als nach Bündnispartnerinnen außerhalb der Arbeiterklasse zu suchen.
Zunehmend in dieser parlamentarischen Logik befangen, gingen die sozialdemokratischen Parteien dazu über, die politische Aktivität und die Interessen der arbeitenden Bevölkerung nicht mehr nur zu bündeln, sondern auch nach Maßgabe taktischer Überlegungen zu mildern und zurückzuhalten. Sie taten das zum Teil aus Angst, ein übereilter Aufstand könne nach hinten losgehen; in zunehmendem Maße aber auch, um die eigene Stellung in den Parlamenten und ihre Bündnisse mit anderen Parteien nicht zu gefährden und sich als staatstragende und vernünftige Akteure zu beweisen.
In dieser Funktion setzte sich der Erfolg der Sozialdemokratie an der Wahlurne und als Mitglied diverser Großer Koalitionen (etwa 1928 – 1930) zwar durchaus fort. Doch ihre Schwächung als politischer Arm der proletarischen Milieus zeigte sich nicht zuletzt, als in den 1930er Jahren auch Arbeiterinnen und Arbeiter scharenweise zu den Nazis überliefen.
Sprung nach vorn: Zu ihrer kurzzeitigen Vollendung kam die Strategie der sozialdemokratischen Klassenallianz während des langen industriellen Booms der 1950er bis 70er Jahre. Enorme Zuwächse in der Produktivität, die Senkung der Kosten für Lebensmittel und damit auch der Reproduktion von Arbeitskraft, die korporatistische Einbindung starker Arbeitnehmerorganisationen sowie eine erhöhte Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums durch den Staat ermöglichten es, zeitweise aus der Logik des Klassenkonflikts als Nullsummenspiel auszusteigen: Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer konnten sich einer gesteigerten Beteiligung am Ertrag ihrer Arbeit erfreuen, ohne dass die Profitinteressen des Kapitals allzu empfindlich angetastet werden mussten.
Rhetorisch verschob sich der Fokus der Sozialdemokratie vom Interessenkonflikt zwischen Arbeitenden und Besitzenden hin zu einer klassenlosen Vision des Fortschritts und sozialen Ausgleichs unter Staatsbürgern – eine Vision, die auch für den politischen Gegner der rechten Mitte maßgeblich wurde. An der Regierung nutzte die Sozialdemokratie die Spielräume des Booms, um die Bildungsexpansion, die staatliche Daseinsfürsorge, einen Ausbau des Sozialstaats und Forderungen der Neuen Sozialen Bewegungen wie die Liberalisierung von Gesetzen zu Schwangerschaftsabbruch und Homosexualität umzusetzen. Sie sicherte sich so nicht nur die Unterstützung der Arbeiterinnen und Arbeiter, sondern auch der fortschrittlichen Teile der Mittelklasse, die zunehmend tonangebend wurden. Eine mächtige Allianz: 1968 gewann die schwedische Sozialdemokratie über 50 Prozent der Stimmen, der französische Sozialist François Mitterrand erzielte 1974 mehr als 43 Prozent und auch die SPD erreichte 1972 ihr bestes Wahlergebnis.
»Denn entgegen der sozialistischen Prognosen wuchs das Proletariat nicht unendlich.«
Diese erneuten Höhenflüge änderten jedoch nichts an den Begrenzungen der sozialdemokratischen Strategie. Als zutiefst systemstützende Parteien passten sich die Sozis in weiten Teilen an bestehende Machtverhältnisse an und verabschiedeten sich von ehemals leitenden Prinzipien wie dem Internationalismus. Migrantische Arbeitende blieben oft lange von wohlfahrtstaatlichen Absicherungen ausgeschlossen. In Frankreich war die Sozialdemokratie maßgeblich an den kolonialen Kriegen in Südostasien beteiligt. In Westdeutschland unterstützte auch der »sozialliberale« Willy Brandt den sogenannten Radikalenerlass, der tausende Linke, die auf den Listen der Sicherheitsbehörden standen, aus dem öffentlichen Dienst verbannte und so viele Karrieren ruinierte.
Während ihre staatliche Einbindung die Bedingungen für jegliche sozialistische Radikalisierung unterhöhlte, schlug die sozialdemokratische Klassenallianz für die breite Mehrheit der Bevölkerung doch wichtige Errungenschaften aus den Möglichkeiten des Booms heraus. Größtenteils betrafen dies Chancen, durch Konsum den eigenen Status zu untermauern, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen und eine Welt jenseits der Lohnarbeit aufzubauen. Denn hinter der Ansprache der Arbeitenden als klassenlose Staatsbürgerinnen steckte immer auch ihre Reduktion auf Konsumenten. Doch in ihren stärksten Momenten drangen auch Echos der ursprünglichen sozialdemokratischen Zielsetzung durch. So erklärte der ehemalige schwedische Premierminister Tage Erlander 1974 mit Blick auf die sozialdemokratische Politik extensiver Besteuerung, verstärkter Regulierung und weitreichender Verstaatlichung: »50 Prozent der Produktion sind der kapitalistischen Wirtschaft bereits durch Besteuerung entzogen worden. Wenn wir diesen Anteil auf 60, 70, 80 Prozent erhöhen können, dann ist der Wohlfahrtsstaat eine Form des Sozialismus geworden.« Bebel wäre stolz gewesen.
Dass diese Errungenschaften äußerst fragil waren, wissen wir heute nur allzu gut. Der Gegenangriff der Kapitalseite schlug mit aller Macht los, sobald Mitte der 1970er die ersten Risse in der sozialdemokratischen Nachkriegsordnung sichtbar wurden. Im damaligen Kontext war die Strategie der Sozialdemokratie allerdings verständlich. Der Rhetorik radikaler Studierender zum Trotz stand eine sozialistische Revolution in Westeuropa nicht zur Debatte. Die Sozialisierung des Booms durch parlamentarische Politik bot hingegen durchaus Möglichkeiten, den Kapitalismus an entscheidenden Stellen zu zähmen und elementare Interessen der eigentumslosen Mehrheit der Bevölkerung im politischen System zu verankern.
Blicken wir heute – aus den Trümmern des neoliberalen Gegenangriffs – zurück auf den Optimismus der 1970er Jahre mit seiner Rhetorik des Fortschritts und der Demokratie, so scheint sie uns beinahe so entrückt und vergangen, wie die proletarische Kultur der frühen Sozialdemokratie mit ihrer Rede von sozialistischen Massenorganisationen und Revolution. Anders als den Sozialistinnen und Sozialisten der 1970er Jahre, inklusive Miliband und Liebman, stellt sich uns die Frage nach dem, was »jenseits der Sozialdemokratie« liegt, nicht als Aufgabe, radikale Impulse unter einer erdrückenden sozialdemokratischen Hegemonie freizulegen. Vielmehr müssen wir klären, wie wir uns zu einer Sozialdemokratie verhalten, die dabei ist, selbst ihre kompromittierte reformistische Stellung zu verlieren, während der gesellschaftliche Widerspruch, aus dem sie entstand, weiter fortbesteht.
Verstehen wir die Sozialdemokratie als eine von mehreren historischen Reaktionen auf die Ausbeutung, Unterdrückung und ökologische Zerstörung, die die kapitalistische Wirtschaftsform kennzeichnen, dann war sie – mit allen Einwänden, die zu dieser Aussage dazugehören – bislang die erfolgreichste. Dass sie gerade jetzt auszusterben droht, wo soziale und ökologische Krisen außer Kontrolle zu geraten scheinen und eine breite progressive Bewegung, die Arbeiterinnen und Arbeiter mit der Mittelklasse zusammenbringt, bitter nötig wäre, ist vor allem tragisch.
Denn in Abwesenheit politischer Traditionen, historisch gewachsener Loyalitäten und einer lebensweltlichen und institutionellen Verankerung ist es links der Sozialdemokratie nirgends gelungen, deren gesellschaftliche Rolle zu übernehmen. Die nicht parteiförmigen sozialen Bewegungen und losen Protestplattformen wie Occupy Wall Street waren nie in der Lage, aus ihrer ursprünglichen Form hinauszuwachsen, ohne in tausend Teile zu zerfliegen. Und neue Linksparteien wie die griechische Syriza oder der portugiesische Bloco schaffen es zwar, neoliberale Reformen zu skandalisieren und punktuell Durchbrüche zu erreichen, doch nur in Griechenland konnten sie Regierungsverantwortung übernehmen – mit einem besonders demoralisierenden Ausgang.
Anderenorts finden vom Mehrheitswahlrecht beförderte Versuche statt, die Strukturen der traditionellen Sozialdemokratie mit neuem Geist zu füllen. Der zeitweise Erfolg Jeremy Corbyns in Großbritannien und der Präsidentschaftskandidatur von Bernie Sanders in den USA stehen der Stagnation der europäischen Linksparteien entgegen und befeuern die Hoffnung, dass ein Wiedererwachen der Linken durch die Rückkehr zu einer »wahren«, radikalen Sozialdemokratie möglich sei. Diese Hoffnung ist historisch fragwürdig, wie aufzuzeigen blitzgescheiten Linken ein Leichtes ist. Gegenüber anderen Ansätzen hat dieser jedoch den Vorteil, an einem Apparat, Traditionen und politischen Identitäten anzusetzen, die erwiesenermaßen massentauglich sind. Es wird sich zeigen müssen, inwiefern die Strategie der »klassenkämpferischen Sozialdemokratie« den bloßen Hype um gewisse Wahlkämpfe überdauert. In jedem Fall steht fest, dass es ein einfaches Zurück zur »guten alten Sozialdemokratie« nicht geben kann. Einerseits, weil es diese »gute alte Sozialdemokratie« niemals gab, sondern lediglich momentane, oft eher experimentierend durch die Geschichte stolpernde Strategien im Umgang mit veränderlichen Kräfteverhältnissen, ökonomischen Konjunkturen und den eigenen Widersprüchen.
Was die heutige Konjunktur von der Nachkriegssozialdemokratie trennt, sind nicht bloß Deindustrialisierung, Bildungsrevolution und die fortgesetzte Globalisierung von Kapital und Arbeit, sondern auch die Rückkehr des Nullsummenspiels zwischen den Interessen der oberen Wenigen und dem ganzen Rest der Menschheit. Wir erkennen das daran, dass selbst klassisch reformistische Vorschläge zum Ausbau steuerfinanzierter Sozialabsicherungen oder des Gemeineigentums, zur Umverteilung des Reichtums oder zur Verkürzung der Arbeitszeit als revolutionär wahrgenommen werden, sobald klar wird, dass wir es wirklich ernst damit meinen; das heißt, dass wir diese Reformen auch dann verfolgen wollen, wenn Reichtum, Einfluss und Profite der Herrschenden zu ihrer Verwirklichung angetastet werden müssen.
Andererseits ist die Geschichte der Sozialdemokratie aufs Engste mit dem Aufstieg einer demokratischen Massenpolitik verknüpft, die seit langem erodiert. Das Problem ist heute nicht die lähmende Einbindung der arbeitenden Klassen in den Staatsapparat, sondern ihr weitgehender Ausschluss aus einem zunehmend oligarchischen politischen System – ob in technokratischem oder in populistischem Gewand.
»Ein einfaches Zurück wird es nicht geben können.«
Als maßgeblichen Teil dieses oligarchischen Betriebs kann man den sozialdemokratischen Parteien getrost den Untergang wünschen. Doch es mag sein, dass jenseits dieser Sozialdemokratie eine radikalreformistische, parlamentarisch gestützte Politik für die Masse der Bevölkerung der nächstbeste Ansatzpunkt ist, um uns Nichteigentümerinnen wieder zu befähigen, für unsere Interessen einzustehen und alle Bereiche unseres Lebens – inklusive der Wirtschaft – zu demokratisieren. In diesem Fall müssen wir uns vergegenwärtigen, dass die Widersprüche und offenen Fragen der sozialdemokratischen Geschichte auch die unseren sind.
Loren Balhorn ist Editor-in-Chief von JACOBIN.
Linus Westheuser ist Contributing Editor bei Jacobin und forscht an der Humboldt-Universität Berlin zur politischen Soziologie der Ungleichheit. @Bluesky