27. Juni 2022
Im JACOBIN-Interview erklärt der ehemalige Labour-Vorsitzende, warum wir starke Gewerkschaften brauchen, weshalb Innen- und Außenpolitik zusammengehören und was ihm Hoffnung für die Zukunft macht.
Jeremy Corbyn auf der Konferenz »Socialism in Our Time«, Berlin, 11. Juni 2022.
Wie kaum ein anderer verkörpert Jeremy Corbyn den inspirierenden Aufstieg des demokratischen Sozialismus in den 2010er Jahren. Während seiner fast fünfjährigen Amtszeit als Vorsitzender der Labour Party konnte er die Mitgliederzahl der Partei mehr als verdoppeln und eine ganze Reihe an sozialistischen Ideen wie den Green New Deal popularisieren. 2017 hätte er es fast geschafft, Großbritanniens erster sozialistischer Premierminister zu werden. Seit seinem Rücktritt im Jahr 2020 setzt er sich unermüdlich für soziale Gerechtigkeit ein – in Großbritannien, aber auch im Ausland. Vonseiten der Presse, aber auch Teilen seiner eigenen Partei, wird er deshalb permanent angefeindet.
Vor zwei Wochen nahm Corbyn an der von JACOBIN mitorganisierten Konferenz »Socialism in Our Time« in Berlin teil. Seine Rede war ein leidenschaftliches Plädoyer gegen die fortschreitende Militarisierung Europas und für mehr Solidarität mit unterdrückten Gruppen auf der ganzen Welt. Corbyn rief dazu auf, den langen Kampf für den Sozialismus auch im Angesicht von Rückschlägen weiterzuführen. Im Anschluss sprach er mit Loren Balhorn über die strategische Sackgasse, in der sich die Linke heute wiederfindet, seine neues Buchprojekt und die Quellen seines unbändigen Optimismus.
Eines der Themen, die bei unserer Konferenz in Berlin zur Sprache kam, war die Idee, dass sich die Linke in einem »politischen Fegefeuer« befindet. Nach einer Ära beachtlicher Erfolge, zum Beispiel Deiner Wahl zum Labour-Vorsitzenden, finden wir uns nun in einer Periode der Stagnation und des Rückzugs wieder.
In Deiner Rede hast Du erwähnt, dass trotz der Niederlage von Labour bei der Unterhauswahl im Dezember 2019 Tausende von der Kampagne inspirierte Aktivistinnen und Aktivisten weiter für den Sozialismus kämpfen werden und dass Dich das optimistisch stimmt. Glaubst Du also, dass wir uns gegenwärtig gar nicht in der Defensive befinden?
Ich glaube, dass wir selbst in die Defensive gegangen sind, und dass wir das nicht tun sollten. Die Rechte benutzt die Coronakrise und die während ihr verabschiedeten Konjunkturpakete als Vorwand, um für Austeritätspolitik und Lohnzurückhaltung zu argumentieren. In Großbritannien erleben wir gerade eine neue Welle von Streiks gegen Arbeitsplatzabbau, für sichere Jobs und bessere Löhne. Die Reallöhne schrumpfen bereits seit über zehn Jahren und drohen weiter zu fallen. Auch die Eisenbahnerinnen und Eisenbahner streiken – zum ersten mal seit Jahrzehnten – und es gibt viele ähnliche Entwicklungen in anderen Branchen.
Die Militanz der Arbeiterinnen und Arbeiter nimmt zu. Aus linker Perspektive ist besonders interessant, dass die Mitgliederzahlen der Gewerkschaften ansteigen – und das nicht nur im öffentlichen Sektor, wo sie schon immer stark waren. Auf der ganzen Welt formieren sich gerade neue Gewerkschaften, oft durch prekär Beschäftigte oder Menschen, die in der Gig Economy arbeiten. Vor zwei Wochen hatte ich ein sehr interessantes Treffen mit Gig-Arbeiterinnen und -Arbeitern aus Kolumbien, die mir erzählt haben, dass sie 2.000 Mitglieder für ihre Gewerkschaft gewinnen konnten. Ich glaube, diesen Bereich muss die Linke besonders im Auge behalten: Junge Menschen in unsicheren, schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen, mit schlechten Perspektiven auf dem Wohnungsmarkt und prekären Zukunftsaussichten.
Ich glaube, die Linke neigt manchmal zu schnell zur Introspektion. Die Wahlniederlage von 2019 war ein enormer Rückschlag – ich sollte es ja wissen, ich habe schließlich eine zentrale Rolle dabei gespielt. Natürlich ist es verständlich, dass solche Ereignisse Stress und Niedergeschlagenheit hervorrufen. Doch das ist nichts im Vergleich zu dem Stress und der Traurigkeit, die Menschen empfinden, wenn ihre Kinder nicht genug zu Essen haben. Echter Stress und Schmerz ist, wenn man als Pflegekraft nicht genügend Betten für alle seine Patientinnen und Patienten hat. Das ist echter Stress.
Kürzlich war ich in Paris und habe im 19. und 20. Arrondissement für Danièle Obono und Danielle Simonnet Wahlkampf gemacht. Es gab eine öffentliche Veranstaltung auf einem Platz, und bevor die Kandidierenden ihre Reden hielten, wurden Menschen, die keine Parteimitglieder waren, dazu aufgefordert, über ihr Leben, ihre Erfahrungen und ihre Forderungen an die Kandidierenden zu sprechen. So sieht für mich Politik aus, wenn man sie richtig macht – es muss politischer Druck auf die Partei und auf uns selbst entstehen, und zwar von Menschen, die von uns erwarten, dass wir Ergebnisse liefern.
Du hast Teile der Arbeiterklasse erwähnt, die sich wehren. Das stimmt natürlich hoffnungsvoll, gleichzeitig zeigt es auch, dass sich Arbeiterinnen und Arbeiter insgesamt schon seit einiger Zeit von ihren traditionellen Parteien und Gewerkschaften entfernt haben. Glaubst Du, dass wir diesen Trend umkehren können?
Ja, das ist möglich, setzt aber eine Demokratisierung der Gewerkschaften und Parteien voraus. Mitunter herrscht aufseiten der etablierten Gewerkschaften eine feindselige Einstellung gegenüber neu gegründeten gewerkschaftlichen Organisationen, die als Eindringlinge im eigenen Revier wahrgenommen werden. Stattdessen sollte man sich vergegenwärtigen, das traditionelle Gewerkschaften oft nicht Willens sind, selbstständige Gig-Arbeiterinnen und -Arbeiter oder Menschen, die für Plattformunternehmen wie Uber oder Amazon arbeiten, zu organisieren. Doch in diesen Bereichen arbeiten viele junge Menschen sowie Migrantinnen und Migranten. Und auch wenn es mir schwer fällt, das zu sagen: So sehen die Arbeitsplätze aus, die in naher Zukunft in Westeuropa und Nordamerika entstehen werden.
Da stimme ich Dir zu, aber ich glaube, wir sollten nicht unterschätzen, wie groß die »alte« Arbeiterklasse noch ist. In Großbritannien ist viel vom Kollaps der sogenannten »Red Wall« [Anm. d.Red.: Eine Gruppe von industriell geprägten Wahlkreisen in Nordengland, die für die Labour Party als sicher galten, bei der Wahl von 2019 aber zu großen Teilen an die Tories fielen] die Rede. Wo ich herkomme, im US-amerikanischen Rust Belt, sagt man dasselbe über Arbeiterinnen und Arbeiter und die Demokratische Partei. Glaubst Du, dass es möglich ist, zwischen der traditionellen Basis der Linken und neueren Teilen der Arbeiterklasse Allianzen zu schmieden?
Die Unterschiede sind gar nicht so groß. Wenn man sich die Situation in Großbritannien ansieht, dann hat sich zum Beispiel die Wirtschaft von London in den letzten vierzig Jahren radikal gewandelt. In den Randgebieten der Stadt gab es früher sehr viel Industrie, doch sie ist fast vollständig verschwunden. Die Jobs wurden durch Arbeitsplätze in der Hightech-Branche, dem Deinstleistungssektor, dem Einzelhandel und dem Baugewerbe ersetzt – andere Bereiche der Wirtschaft, die weit weniger gewerkschaftlich organisiert und in denen die Belegschaften ethnisch sehr viel durchmischter sind. Aber sie finden sich trotzdem in einer Reihe von Gewerkschaften, wie etwa Unite, Seite an Seite mit der älteren, weißen Arbeiterklasse wieder.
Doch in anderen Teilen des Landes, wo lang etablierte Industriezweige wie Textilien, Stahl und Kohle einst relativ sichere, gut bezahlte Arbeitsplätze boten, sieht die Lage anders aus. Diese Orte sind in eine allgemeine Depression gerutscht, und viele junge Leute ziehen weg. Psychische Erkrankungen sind dort ein großes gesellschaftliches Problem. Die Arbeiterbewegung, und vor allem die Labour Party, hat sich immer auf diese Gegenden verlassen. Man hat sich gedacht: »Diese Leute haben schon immer Labour gewählt, daran wird sich schon nichts ändern.« Aber bei der letzten Wahl haben sie es dann nicht mehr getan. Die Menschen haben sich gedacht: »Moment mal, unserer Gegend geht es dreckig, es fahren keine Busse mehr, die Bahnhöfe wurden stillgelegt, die Industrie ist abgewandert. Schulen machen dicht. Depression liegt in der Luft«. Diese Umstände waren es, die sie dazu bewogen haben, für den Brexit zu stimmen.
Als ich mit anderen sozialistischen Parteien aus Europa über den Brexit diskutiert habe, habe ich einmal in die Runde gezeigt und gesagt: »Die gleichen Bedingungen herrschen auch in Deutschland, in Frankreich, in Spanien, in Portugal, in Griechenland und in der tschechischen Republik. Wir finden sie überall in Europa.«
Wenn die Linke kein politisches Angebot zu Themen wie Jobs, öffentlicher Daseinsvorsorge und der Zukunft – vor allem der von jungen Leuten – bietet, dann werden irgendwann die Rassisten auftauchen, so wie es in Ostdeutschland geschehen ist, und behaupten: »An allem ist die Migration schuld!« Doch Migration hat nichts damit zu tun, aber Migrantinnen und Migranten werden leicht zur Zielscheibe. Deswegen breitet sich der Rassismus in Europa gerade wieder aus. Wenn wir ihn nicht ernst nehmen und keine Kampagne für Jobs und wirtschaftlichen Wiederaufbau auf die Beine stellen, sieht die Zukunft düster aus.
<hr> <p style="border:3px; border-style: hidden; border-color:#FF0000; padding: 1em; text-align: left;">Jeremy Corbyn auf der Konferenz »Socialism in Our Time«, 11. Juni 2022.
In Deiner Rede hast Du viel über Außenpolitik und Internationalismus gesprochen. In Deutschland gibt es manche Linke, die argumentieren, wir sollten lieber nicht über heikle, potenziell spaltende internationale Themen sprechen, da wir sowieso nichts an der Weltlage ändern können – vor allem was die israelische Besatzung von Palästina angeht. Stattdessen sollten wir uns lieber auf innenpolitische Fragen konzentrieren, die die Leute direkt betreffen. Was ist Deiner Ansicht nach der Zusammenhang zwischen Innen- und Außenpolitik?
Wir leben in einer Zeit, in der Johnson, Biden, Scholz und andere eine massive Steigerung der Rüstungsausgaben vorantreiben. Der US-Verteidigungshaushalt ist so groß wie nie zuvor. Der Kongress hat die von Biden für das kommende Jahr beantragten Mittel zur Aufrüstung sogar noch einmal erhöht. Wollen wir uns wirklich einfach zurücklehnen und sagen: »Diese Argumente tasten wir nicht an?«
Die Linke kann internationalen Themen nicht aus dem Weg gehen. Wir leben im globalen Kapitalismus. Politische Macht agiert auf globalen Skalen. Amazon und Uber sind auf der ganzen Welt aktiv und wenden überall die gleichen Methoden an. Wir müssen uns diesen Problemen stellen und die Menschen selbst ermächtigen, und dazu gehört, dass zu einer Reihe von Fragen über nationalstaatliche Grenzen hinweg ernsthafte Zusammenarbeit stattfindet.
Du hast Palästina als Beispiel erwähnt. Die Menschen dort leben nun schon seit vielen Jahrzehnten unter der Besatzung und leiden unter regelmäßigen Bombenangriffen. Ich erkenne das Recht der Palästinenserinnen und Palästinenser, in Frieden zu leben, selbstverständlich an. Ich unterstütze die Anerkennung Palästinas als Staat bedingungslos, und arbeite aktiv mit Menschenrechtsorganisationen und der Friedensbewegung in Israel zusammen, damit die Besatzung und die Siedlungspolitik beendet werden.
Ich glaube auch nicht, dass wir uns von den Geflüchteten der Welt abwenden können. Nicht alle, aber die große Mehrzahl sind Opfer von Kriegen. Wir müssen uns auf internationaler Ebene verstärkt gegen Kriege einsetzen.
Wir sprechen heute in Berlin, wo im Vorlauf des Ersten Weltkriegs 1914 Leute wie Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht Massendemonstrationen für den Frieden organisiert haben, eine faszinierende Zeit und ein Scheitelpunkt der grenzüberschreitenden Solidarität zwischen der arbeitenden Klasse. Es gab damals die deutliche Botschaft, dass die Solidarität der Arbeiterklasse für den Frieden unerlässlich war. Diese Sichtweise unterlag 1914 der Xenophobie, aber die Botschaft ist noch heute relevant.
Ich glaube, der aktuelle Krieg in der Ukraine ist für viele Linke so schwierig greifbar, weil wir zum ersten Mal seit Jahrzehnten einen Angriffskrieg erleben, der nicht von den USA oder ihren Verbündeten geführt wird. Stattdessen geht er von einem Land aus, das sich explizit dem transatlantischen Bündnis entgegenstellt. Wie sollten progressive Kräfte auf die russische Invasion reagieren?
Das ist ein sehr interessanter Punkt. Ich habe mein ganzen Leben mit der Friedensbewegung, aber auch der Menschenrechtsbewegung verbracht. Ich mache mir keinerlei Illusionen über Putin was seine Vergehen gegen die Menschenrechte angeht, aber ich hatte einige sehr spannende Gespräche mit Leuten auf der russischen Linken darüber, was sie sich wünschen und worauf sie hoffen. Wir sollten nicht unterschätzen, auf wie viel Ablehnung der Krieg unter jungen Leuten stößt. Auch sollten wir nicht übersehen, dass eine beachtliche Anzahl an russischen Soldaten desertiert sind, deswegen in Russland aber nicht belangt wurden – wenn eine Nation nicht gegen Deserteure vorgeht, die mit dem Krieg nicht einverstanden sind, dann ist das alles andere als eine Kleinigkeit.
Der Krieg muss aufhören. Wir müssen alles tun, was wir können, um einen friedfertigen Ton anzuschlagen und eine Übereinkunft zu erzielen, die die Spannungen zwischen Russland und der NATO reduziert und die Sicherheitsbedenken der Menschen adressiert. Sicherheit, wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf, ist ein sehr aufgeladener Begriff. Er wird oft als Möglichkeit verstanden, jemanden von einem Angriff auf sich abzuhalten – und ja, das ist ein Aspekt von Sicherheit. Aber für einen Großteil der Weltbevölkerung lautet die wichtigste Sicherheitsfrage: Werde ich morgen etwas zu essen bekommen? Werden meine Kinder in die Schule gehen können? Bekomme ich die Gesundheitsversorgung, die ich brauche?
In marktwirtschaftlich organisierten Gesellschaften bedeutet echte Sicherheit, zu spüren, dass einem all das von einem Wohlfahrtsstaat garantiert wird. Der wird aber durch Privatisierung und die Ausweitung von Marktlogiken bedroht. Wir müssen also die wirtschaftlichen, politischen, sozialen und, nicht zu vergessen, ökologischen Aspekte der Sicherheit mitbedenken.
Auf Deiner Rede hast Du Dein Buchprojekt namens Why We Are Socialists [Warum wir Sozialistinnen sind] vorgestellt. Kannst Du uns ein bisschen darüber erzählen?
Als wir Anfang 2020 das Peace and Justice Project ins Leben gerufen haben, gab es eine Diskussion unter den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern über den Zweck unserer Organisation. Ich glaube, ich war es, der damals bemerkte: »Nun ja, wir sind alles Sozialistinnen und Sozialisten.« Die Antwort darauf lautete: »Ist ja schön und gut, aber was meinen wir damit eigentlich?«
Also haben wir uns entschieden, die Leute zu fragen, warum sie Sozialistinnen wurden. Wir haben bereits 500 oder 600 Einsendungen, und sie sind wirklich faszinierend. Viele von ihnen berichten von persönlichen Lebenserfahrungen, etwa davon, in einer konservativen Familie aufzuwachsen und sich dauernd mit den eigenen Eltern zu streiten – was zumindest für die Kinder eine sehr therapeutische Erfahrungen sein kann. Andere berichten von entscheidenden Ereignissen wie dem Bergarbeiterstreik [von 1984 bis 1985] in Großbritannien, der für viele ein entscheidender Moment der Politisierung war. Andere haben gegen den Vietnamkrieg protestiert und waren Teil der Anti-Atom-Bewegung.
Wir wollen von Euch hören! Wir haben gerade erst angefangen, das Projekt zu bewerben, und wir nehmen bis zum 31. August Einsendungen von bis zu 500 Wörtern an, in beliebiger Sprache.
Sogar Klingonisch?
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Sorry, das war ein Scherz über Star Trek.
Das ist mir bewusst.
Wie dem auch sei. Kannst Du dem Inhalt des Buches etwas vorwegnehmen und uns etwas darüber erzählen, warum Du Sozialist wurdest?
Das lässt sich wirklich nicht leicht beantworten, denn meine Eltern waren beide in der sozialistischen Bewegung aktiv. Keiner von den beiden kam aus besonders politischen Familien, aber sie haben sich im London der 1930er Jahre politisch links orientiert. Meine Mutter war damals Studentin – wahrscheinlich die einzige Frau, die damals an ihrer Universität studiert hat. Mein Vater war Techniker und hat abends neben dem Beruf ebenfalls studiert. Sie haben sich in der Kampagne für die Spanische Republik und gegen die faschistische Übernahme des Landes kennengelernt. Ihre sozialistischen Kernüberzeugungen haben sie stets behalten, und ich denke, dass sie einen Einfluss auf mich hatten, obwohl sie mir politische Themen oder Überzeugungen niemals aufgezwungen haben.
Als Jugendlicher, in den 1960er Jahren, habe ich mir über die Umwelt und die atomare Aufrüstung Sorgen gemacht und war empört über den Vietnamkrieg. Wir lebten damals in einer kleinen, ziemlich konservativen Stadt in Mittelengland, in einem Wahlkreis, the Wrekin, der mal an Labour und mal an die Tories ging. Das hat mich politisch sehr geprägt. In bin dann als Freiwilliger zwei Jahre lang in die Karibik gegangen und habe dort viel über den Kolonialismus und seine Geschichte gelernt.
Mein Sozialismus entstammt also einer Kombination an Einflüssen, Lebens- und beruflichen Erfahrungen, sowohl als Gewerkschaftsorganizer als auch als Stadtrat. Die Idee, eine Gesellschaft zu errichten, die nach den Bedürfnissen aller anstatt der Gier von wenigen ausgerichtet ist, hat mich 73 Jahre lang angetrieben.
Du warst fast fünf Jahre lang Vorsitzender der Labour Party und wurdest während dieser Zeit auf eine Art und Weise öffentlich verunglimpft, die meiner Ansicht nach für eine Person an der Spitze einer großen britischen Partei beispiellos ist. Viele würden nach einer solchen Erfahrung einfach alles hinwerfen. Du machst mit Deinen Kampagnen aber unermüdlich weiter. Deine Eröffnungsrede bei »Socialism in Our Time« war voller Optimismus für die Zukunft, trotz der furchtbaren Dinge, die gerade geschehen. Wie schaffst Du das?
Als wir 2019 die Wahl verloren haben und im März 2020 meine Amtszeit als Parteivorsitzender endete, wollte Boris Johnson bei der Fragestunde im Unterhaus etwas Nettes über mich sagen. Wahrscheinlich keine leichte Aufgabe für ihn, wir sollten ihm seinen Versuch also nicht zu sehr verübeln. Er sagte so etwas wie »Ich danke dem ehrenwerten Herrn für die gemeinsame Zeit« oder so etwas. Ich habe mich darüber sehr geärgert. Mir sind persönliche Zu- und Abneigungen eigentlich ziemlich gleich, aber diese Bemerkung hat mich gestört. Ich bin also aufgestanden und habe gesagt: »Nun, das ist sehr freundlich von Ihnen, aber das klingt ein wenig wie ein Nachruf. Aber nur damit sie es wissen: Man wird mich nicht zum Schweigen bringen. Ich werde präsent bleiben und meine Stimme stets für Gerechtigkeit, Sozialismus und gegen Unterdrückung erheben.« Und ich habe weitergemacht.
Ich habe Veranstaltungen und Treffen organisiert, das Project for Peace and Justice gegründet und natürlich meine Arbeit als Wahlkreisabgeordneter weitergeführt. Ich bin deswegen so optimistisch, weil so viele junge Menschen während meiner Zeit als Vorsitzender politisch aktiv wurden. Natürlich war das Ergebnis niederschmetternd für sie, genauso wie für mich. Aber ich habe mir gesagt: »Wir werden ohnehin gewinnen. Ich hatte mir erhofft, dass wir durch einen Wahlsieg einen großen Fortschritt hätten erzielen können, aber ich glaube nicht, dass es einfach gewesen wäre. Wir hätten die ganze Zeit unter großem Druck gestanden.«
Vor einigen Wochen hat mir jemand auf einer Demonstration gesagt: »Ach du meine Güte, wenn Sie die Wahl gewonnen hätten, müsste ich hier nicht stehen!« Darauf habe ich geantwortet: »Ich denke schon, aber Sie würden zum ersten mal in Ihrem Leben auf Demonstrationen zur Unterstützung einer Regierung sein. Sie wären hier, um die Regierung zu unterstützen, und ich würde hier aus dem gleichen Grund sprechen, denn wir würden versuchen, die Dinge zum Besseren zu verändern, und das hätte massive Angriffe nach sich gezogen.«
Wir werden zum Ziel solcher Attacken, weil wir uns der Gier der Wenigen entgegenstellen. Das vereint uns. Aber wir sollten aktiv für etwas kämpfen: Für den Sozialismus, für gerechte gesellschaftliche Teilhabe für alle und für ökologische Nachhaltigkeit. Vor allem aber sollten wir die Vorstellungskraft und das Gute in anderen sehen und sie entfesseln.