28. Oktober 2021
Die demokratisch gewählte Regierung Boliviens wurde 2019 durch rechte Putschisten gestürzt. Doch die Bevölkerung hat sich gewehrt. Nun ist die sozialistische Regierung zurück an der Macht – beliebter denn je.
Präsident Luis Arce mit Wiphala-Flagge, einem Symbol der indigenen Bevölkerung Boliviens, 12. Oktober 2021.
Die neue Regierung Boliviens unter Präsident Luis Arce von der Partei Bewegung zum Sozialismus (MAS) hat in ihrem ersten Jahr die Schäden, die das rechte Putschregime unter Jeanine Áñez hinterlassen hat, beträchtlich eingedämmt.
Rechte Oppositionsführer und hochrangige Militäroffiziere hatten den Staatsstreich penibel geplant – denn sie waren sich sicher, dass der langjährige und wiederholt in seinem Amt bestätigte Präsident Evo Morales auch die Wahlen von 2019 gewinnen würde. Während die Stimmen aus ländlichen, von Indigenen bewohnten und hinter Morales stehenden Gebieten noch ausgezählt wurden, zeichnete sich bereits ab, dass Morales als Sieger aus dem ersten Wahlgang hervorgehen würde. Daraufhin kam es seitens der rechten Opposition zu gewaltsamen Protesten. Anstatt diese Ausschreitungen in Schach zu halten, schloss sich die Polizei ihnen an – zuerst in der Stadt Cochabamba und dann auch anderswo.
Um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, trat Morales zurück und Áñez, eine rechtsextreme stellvertretende Vorsitzende des Senats, wurde verfassungswidrig an seiner Stelle als Präsidentin eingesetzt. Unter dem Putschregime kam es zu einer Welle von Menschenrechtsverletzungen: Gewerkschafterinnen, indigene Aktivisten und MAS-Anhängerinnen gerieten ins Visier der Regierung, Bürgerrechte wurde massiv verletzt und viele Menschenleben verloren, unter anderem durch ein rassistisches Massaker, das Militär und Polizei in Sacaba und Senkata an indigenen Demonstrierenden verübten.
Jene elf Monate, in denen das Putschregime regierte, waren von umfangreicher Repression und neoliberaler Wirtschafts- und Sozialpolitik geprägt. Besonderes schwer wiegt dabei die Unfähigkeit der rechten Regierung, eine kohärente Strategie zur Bekämpfung der Covid-19-Pandemie und zur Abschwächung des mit ihr einhergehenden wirtschaftlichen Abschwungs zu entwickeln. Stattdessen kürzte das Regime im vierten Quartal 2019 die öffentlichen Ausgaben erheblich. Die Gehälter im öffentlichen Sektor wurden radikal gesenkt und der Nominalwert des gesetzlichen Mindestlohns wurde zum ersten Mal seit 2006 eingefroren.
Im Laufe des vergangenen Jahres verloren in Bolivien 400.000 Menschen ihren Arbeitsplatz, die Einnahmen aus Geldsendungen gingen fast um die Hälfte zurück und Armut und Ungleichheit stiegen mit dem Inkrafttreten der rigorosen Sparmaßnahmen sprunghaft an. Die Auslandsverschuldung stieg unter anderem durch die Aufnahme eines Darlehens des IWF in Höhe von 300 Millionen Dollar auf 11,2 Milliarden Dollar an, zugleich wurden in Staatsbesitz befindliche Unternehmen zur Privatisierung freigegeben oder an Putschisten verschenkt.
Doch die MAS und ein breites Bündnis aus Gewerkschafts-, Bauern- und indigenen Bewegungen sowie Nachbarschaftsorganisationen und Gewerkschaften informeller Beschäftigter leisteten heldenhaften Widerstand gegen die Repression und forderten Neuwahlen. Als diese im Oktober 2020 schließlich stattfanden, errang der MAS-Kandidat Luis Arce mit 55 Prozent der Stimmen einen klaren Sieg über seinen nächsten Herausforderer, den ehemaligen Präsidenten Carlos Mesa, der 29 Prozent erzielte. Auch behielt die MAS die Kontrolle über beide Kammern des Parlaments. Wenn wir im Angesicht eigener Niederlagen sagen, »nicht schmollen, sondern sich organisieren«, dann kann uns der Erfolg dieser von den Menschen getragenen Politik in Bolivien ein inspirierendes Beispiel sein.
Wie sind Präsident Arce und die MAS das schwere Erbe des Putschregimes angegangen?
Um die verheerenden Folgen einer der schlimmsten Wirtschaftskrisen in der jüngeren Geschichte des Landes für die Einkommen der Menschen abzufangen, bestand eine der ersten Amtshandlungen von Arce darin, die Initiative »Bono contra el Hambre« (Bonus gegen den Hunger) zu unterzeichnen. Diese hatte die von der MAS-geführte Nationalversammlung schon unter dem Putschregime vorgelegt, war dieser Zeit aber von Áñez blockiert worden.
Ab Dezember erreichten diese Zahlungen mehr als 4 Millionen Menschen und halfen so, die Auswirkungen der Pandemie auf die ärmsten Familien zu verringern und die Wirtschaft des Landes zu beleben. Zusammen mit anderen Maßnahmen wie einer Erhöhung der Renten und der Erhebung einer Steuer für Personen mit Vermögen über 4,3 Millionen US-Dollar hat dies der bolivianischen Wirtschaft in den ersten vier Monaten des Jahres 2021 zu einem Wachstum von 5,3 Prozent verholfen.
Auf die längere Sicht entwickelt die Regierung eine nachhaltige Industriestrategie und hat in diesem Zusammenhang bereits einen Fonds im Umfang von 214 Millionen US-Dollar eingerichtet, um Initiativen von Kommunalverwaltungen und indigenen Gemeinschaften zu finanzieren – insbesondere solche, die sich der produktiven Infrastruktur und sozialen Anliegen annehmen.
Im Gesundheitsbereich hat das Putschregime von Áñez während der Covid-19-Pandemie vollkommen versagt, inklusive eines korrupten Deals zum Kauf überteuerter Beatmungsgeräte, die für die Intensivpflege überhaupt nicht geeignet sind. Auch rechte Parteien anderer Länder haben in der Pandemiebekämpfung auf Outsourcing, Privatisierung und Vetternwirtschaft gesetzt – aber das Beispiel Boliviens unter der neuen MAS-Regierung zeigt, dass es auch anders geht.
Die Regierung Arce hat eine dreigleisige Strategie zur Bekämpfung der Pandemie vorgelegt: erstens umfassende Testprogramme in den Gemeinden und Koordination zwischen den Regierungen der Gemeinden und Regionen; zweitens die Bereitstellung der erforderlichen Tests, der medizinischen Hilfsmittel und des Personals auf nationaler Ebene; und drittens der Kauf von Impfstoffen. Bis Oktober hatten mehr als 60 Prozent der volljährigen Bevölkerung Boliviens eine erste Impfdosis erhalten und 47 Prozent bereits ihre zweite.
Auf internationaler Ebene hat Bolivien damit begonnen, die durch das Putschregime gekappten Beziehungen zu seinen Verbündeten und Partnern wiederherzustellen. Die Regierung hat ihre Unterstützung für die regionale Integration in Lateinamerika erneuert, indem sie ihre Mitarbeit an drei der wichtigsten Organisationen für Handel, Dialog und Sicherheit – ALBA, CELAC und UNASUR – wieder aufgenommen hat. Die diplomatischen Beziehungen zu Venezuela und Kuba wurden wieder hergestellt und ein umfangreiches Abkommen mit Mexiko unterzeichnet.
Bolivien ist von den Auswirkungen des Klimawandels besonders stark betroffen – bei der bevorstehenden UN-Klimakonferenz in Glasgow wird das Land wieder eine der federführenden Kräfte sein, die den Kampf gegen die Klimakatastrophe aufnehmen und sich für wirkungsvolle Gegenmaßnahmen und internationale Zusammenarbeit einsetzen.
Die neue Regierung ist entschlossen, die Verantwortlichen für eine Reihe von Verbrechen und Vergehen unter dem Putschregime zur Rechenschaft zu ziehen. Gegen den bolivianischen Polizeichef läuft derzeit ein Strafverfahren wegen seiner Rolle bei den Massakern an den Demonstrierenden in Sacaba und Senkata. Gleiches gilt für Áñez, die wegen systematischer Menschenrechtsverletzungen, Aufwiegelung und Verschwörung gegen die Regierung Morales sowie Korruption angeklagt ist.
Da das Militär den Putsch und das Putschregime in weiten Teilen unterstützte, hat Präsident Arce zügig Änderungen auf der Führungsebene der Streitkräfte vorgenommen, um die Wahrscheinlichkeit zu verringern, dass sie sich erneut reaktionären Bewegungen gegen eine demokratisch gewählte Regierung anschließen.
Die Regierung und ihre internationalen Unterstützer müssen sich jedoch weiterhin vor Versuchen der politischen Destabilisierung durch antidemokratische rechte Kräfte in Acht nehmen. Oppositionsorganisationen, die von den Hauptakteuren des Staatsstreichs von 2019 wie Luis Fernando Camacho und Carlos Mesa angeführt werden, haben kürzlich zu einem »Bürgerstreik« gegen die Regierung Arce aufgerufen. Sie forderten unter anderem die Wiedereinstellung der am Putsch beteiligten Polizeibeamten und die Einstellung der Ermittlungen gegen die Resistencia Juvenil Cochala (eine paramilitärische Gruppe, die an destabilisierenden Aktivitäten beteiligt war). Mesa und Camacho forderten zudem die Freilassung von Añez. Daraufhin gingen jedoch Tausende von Menschen in verschiedenen Teilen des Landes auf die Straße, um die Regierung zu unterstützen.
Es gibt vieles, das wir von den Erfolgen der bolivianischen Linken an der Regierung lernen können – von der Verankerung des Naturschutzes in der Verfassung über die Förderung des Multikulturalismus bis hin zur politischen Organisierung von Menschen in den Gemeinden und am Arbeitsplatz, um einen wirklichen Wandel herbeizuführen.
Als Internationalistinnen und Internationalisten müssen wir die MAS, die sozialen Bewegungen und die Regierung Arce auch weiterhin gegen die Attacken reaktionärer Kräfte – innerhalb und außerhalb des Landes – unterstützen. Denn sie werden versuchen, das Rad der Zeit zurückzudrehen und mit Gewalt ein rechtes Regime wiederherzustellen, das die Bemühungen der MAS um Demokratie, Menschenrechte, Gleichheit und sozialen Fortschritt in Bolivien untergräbt.
Jeremy Corbyn ist Abgeordneter der Labour Party für Islington North im britischen Unterhaus.