13. Oktober 2023
Nach den entsetzlichen Terrorangriffen der Hamas auf die israelische Zivilbevölkerung eskaliert die Situation im Nahen Osten. Israels Streitkräfte drohen nun, ganze Stadtviertel in Gaza dem Erdboden gleich zu machen. Es braucht einen sofortigen Waffenstillstand, um weiteres Leid zu verhindern.
Luftanschläge Israels in Gaza hinterlassen weiteres Leid.
Im Juli 2023 habe ich im Parlament gesprochen, nachdem die israelischen Verteidigungskräfte ihre größte Militäroperation im Westjordanland seit 2002 durchgeführt hatten. Ziel der Aktion war das Flüchtlingslager Dschenin, in dem mehr als 14.000 Menschen auf weniger als einem halben Quadratkilometer Fläche leben. In einem so dicht besiedelten Gebiet kann es keine sogenannten gezielten Angriffe auf einzelne Personen geben. Zwölf Palästinenser wurden getötet, darunter fünf Kinder, mehr als 100 wurden verletzt. Ich habe die britischen Abgeordneten auf allen politischen Seiten gebeten, nicht nur die unmittelbaren menschlichen Verluste dieses Angriffs zu bedenken, sondern auch die Kettenreaktion von Elend und Terror, die dies auslösen würde.
Am vergangenen Samstag sind nun Hunderte unschuldige Menschen im Süden Israels bei Anschlägen der Hamas brutal ermordet worden. Dutzende wurden als Geiseln genommen. Heute und für den Rest ihres Lebens werden Familien in ganz Israel um ihre Angehörigen trauern, die in einem abscheulichen Blutbad niedergemetzelt wurden. Die Angst, die sie empfunden haben müssen, ist unvorstellbar – ebenso wie der Schmerz und das Trauma, die nun folgen.
Als Reaktion hat die israelische Regierung ganze Stadtviertel in Gaza zerstört. Die Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser, Strom und Gas wurde unterbrochen. Es wurden Krankenhäuser angegriffen, Krankenwagen zerstört und Kindergärten beschädigt. Außerdem wurde der Grenzübergang Rafah bombardiert und damit der einzige Fluchtweg blockiert. Das palästinensische Volk ist in Gaza in einem riesigen Freiluftgefängnis gefangen. Diese Menschen können nirgendwo hin fliehen, sich nirgendwo in Sicherheit bringen, sich nirgendwo verstecken.
Das Entsetzen über den Verlust von Menschenleben – beim Angriff auf junge Menschen in der Negev-Wüste und jetzt durch die Bombardierung des Gazastreifens – muss in unseren Gedanken absolut im Vordergrund stehen. Ich verurteile die Angriffe auf Zivilisten, israelische sowie palästinensische, auf das Schärfste. Ich appelliere an Politikerinnen und Politiker auf der ganzen Welt, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um weitere Opfer zu verhindern. Unsere politischen Führer müssen erkennen, dass ohne ein entschlossenes politisches Eingreifen eine Tragödie auf die nächste folgen wird und sich der Kreislauf des Hasses und der Verzweiflung immer weiter fortsetzen wird. Unmittelbar nach diesem Grauen brauchen wir jetzt vor allem Stimmen, die Frieden und Deeskalation fordern. Im Vereinigten Königreich geben die beiden großen politischen Parteien unfassbarer Weise aber weiterhin grünes Licht für eine sich entfaltende humanitäre Katastrophe.
Sowohl der britische Außenminister als auch der Schattenaußenminister haben bekräftigt, Israel habe das »Recht auf Selbstverteidigung«. Allerdings machen sie dabei nicht ausreichend klar, was dies genau bedeutet, geschweige denn, wie es innerhalb der Grenzen des Völkerrechts ausgeübt werden sollte. Etwas klarer wurde indes der Vorsitzende der Labour Party vorgestern: In einem Interview mit LBC war Keir Starmer gefragt worden, ob es angemessen sei, zwei Millionen Menschen, von denen die Hälfte Kinder sind, »von der Strom- und Wasserversorgung abzuschneiden«. Er antwortete, Israel habe tatsächlich dieses Recht. Wo bleibt sein Mitgefühl für die Palästinenserinnen und Palästinenser, die ihre Angehörigen, ihre Häuser und ihre Zukunft verloren haben? Was ist mit der universellen Gültigkeit des Völkerrechts?
»Die Weltgemeinschaft hat die Verantwortung, die aktuelle katastrophale Lage zu deeskalieren.«
Möglicherweise stehen wir gerade am Beginn der absoluten Zerstörung Gazas – und seiner Bevölkerung. Es ist kein Krieg zwischen zwei Staaten. Der Kampf wird als israelische Antwort auf einen nichtstaatlichen Akteur dargestellt, aber er ist auch eine Reaktion gegen das palästinensische Volk an sich. Was sich jetzt abspielt, ist kein Konflikt unter Gleichen, sondern das systematische Aushungern, die Unterdrückung und Zerstörung einer unbewaffneten Zivilbevölkerung.
Ich frage mich: Sollte Gaza tatsächlich zerstört werden, würden unsere Politikerinnen und Politiker dann mit Reue auf ihre unbedingte Unterstützung für Israel zurückblicken und diese überdenken? Wenn sie einen Funken Anstand hätten, würden sie in jedem Fall die unschuldigen palästinensischen Opfer betrauern, die im Namen der israelischen Selbstverteidigung getötet worden sind. Sie sollten sich für ihre Feigheit schämen – denn sie wissen, dass andere den Preis zahlen für Kriegsverbrechen, die sie selbst nicht kritisieren wollen.
Wir müssen Angriffe auf die Zivilbevölkerung grundsätzlich kritisieren und zurückweisen – egal, ob es palästinensische oder israelische Zivilisten sind und egal, wer sie angreift. Dass eine solche Haltung offenbar als kontrovers wahrgenommen wird, zeugt von der Bosheit einer medialen und politischen Klasse, die jegliche Aufrufe zum Frieden ignoriert, verdreht oder verurteilt. Die Angriffe der Hamas auf Zivilisten in Israel sind zutiefst verabscheuungswürdig. Sie können aber nicht das willkürliche Töten von Palästinensern rechtfertigen, die nun den Preis für Verbrechen zahlen, die sie nicht begangen haben. Alle menschlichen Leben sind gleichwertig. Warum fällt es unseren Politikerinnen und Politikern so schwer, dieses grundlegende moralische Prinzip konsequent zu vertreten?
Genau diese Frage stellen Menschen, wenn sie ihre Solidarität mit dem palästinensischen Volk ausdrücken. Das bedeutet nicht, dass sie die Hamas unterstützen oder gutheißen. Die absichtliche Vermischung der beiden Aspekte ist ein widerlicher, zynischer und beängstigender Versuch, demokratische Rechte weiter auszuhöhlen. Darüber hinaus wird bei einer solchen Vermischung vorsätzlich eine grundsätzliche Forderung ignoriert, nämlich die nach einem Ende des Tötens von unschuldigen Menschen.
Die Weltgemeinschaft hat die Verantwortung, die aktuelle katastrophale Lage zu deeskalieren. Das beinhaltet die unbedingte Forderung nach einem sofortigen Waffenstillstand. Das beinhaltet die Freilassung aller israelischer Geiseln. Das beinhaltet ein Ende der Belagerung des Gazastreifens. Das beinhaltet auch, die tieferen Ursachen dieses traurigen Gewalt-Kreislaufs anzuerkennen: die anhaltende Besetzung Palästinas.
Denn neben der Besetzung des Gazastreifens gibt es mehr als 140 Siedlungen im Westjordanland – eine Realität, die Amnesty International, Human Rights Watch, B‘Tselem und die Vereinten Nationen als ein Apartheidsystem bezeichnet haben. Der einzige Weg zu einem gerechten und dauerhaften Frieden ist ein Ende der Besatzung. Solange dies nicht erreicht ist, werden wir weiterhin den Verlust von israelischen und palästinensischen Menschenleben beklagen müssen.
»In Gaza gibt es Opfer… Mütter, die um ihre Kinder trauern. Lasst uns diese Emotionen nutzen. Wir sind zwei Nationen, aber mit einem gemeinsamen Ursprung. Lasst uns Frieden schaffen, echten Frieden.«
Dies waren die Worte eines israelischen Vaters, dessen Tochter von der Hamas als Geisel genommen wurde. Ich kann mir die Qualen, die dieser Mann durchleiden muss, nicht ausmalen. Und dennoch fand er in dieser unvorstellbaren Situation den Mut, zum Frieden aufzurufen. Warum schaffen wir das nicht?