15. Dezember 2020
Jeremy Corbyn startet eine neue Bewegung, um die Forderungen voranzutreiben, für die er sich als Labour-Vorsitzender stark gemacht hat. Im Gespräch mit JACOBIN erzählt er, was die Initiative vorhat, und warum er sich von den Angriffen gegen ihn nicht einschüchtern lässt.
Jeremy Corbyn auf einer Anti-Kriegsdemonstration im Januar dieses Jahres.
Der ehemalige Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn hat am vergangenen Wochenende das Project for Peace and Justice ins Leben gerufen, das Forschung und Aktivismus zu den Themen fördern soll, für die er sich sein Leben lang stark gemacht hat. Das Projekt, das für den 17. Januar eine globale Konferenz angekündigt hat, verspricht Kampagnen gegen Krieg sowie konzertierten internationalen Aktionen gegen Klimawandel und soziale Ungleichheit eine Plattform zu bieten.
Vor dem Start sprach Corbyn mit JACOBIN über die Krisen, denen sich die Menschheit gegenwärtig ausgesetzt sieht, über politische Hoffnungszeichen sowie darüber, wie sein Projekt die Anti-Kriegsbotschaft vorantreiben wird, für die er sich als Labour-Vorsitzender so vehement eingesetzt hat.
Am Anfang der Pandemie hofften viele, dass sie einen weitreichenden politischen Wandel auslösen und die internationale Zusammenarbeit fördern würde. Ein kürzlich erschienener Bericht bezeugt jedoch, dass eher der gegenteilige Fall eingetreten ist: Die reichsten Länder horten die Impfdosen, während in weiten Teilen der Welt wohl weniger als einer von zehn Menschen im Jahr 2021 eine Impfung erhalten wird. Wie ließe sich eine effektive internationale Reaktion auf die Pandemie erreichen?
Wie die Einführung des Impfstoffs abläuft, ist eine große Enttäuschung. Als die Weltgesundheitsorganisation Corona zu einer Pandemie erklärte, forderte sie alle Staaten dazu auf, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Einige taten das, andere nicht. Viele Menschen sind gestorben, weil das von der WHO vorgeschlagene Testsystem vielerorts nicht eingeführt wurde, mitunter auch in Großbritannien und den USA.
In der UN-Menschenrechtserklärung ist auch der Zugang zu medizinischer Versorgung verankert. Und die Suche nach einem Impfstoff hätte als eine Gelegenheit für internationale Zusammenarbeit und die gemeinsame Nutzung wissenschaftlicher Ressourcen begriffen werden sollen. Stattdessen ist sie zu einem Wettbewerb zwischen großen Pharmakonzernen verkommen – und ich vermute, dass Firmen wie Pfizer ein Vermögen damit machen werden.
Joe Biden hat angekündigt, dass während seiner ersten hundert Tage im Amt etwa ein Drittel der US-Bevölkerung eine Impfung erhalten wird. Großbritannien verspricht Ähnliches, wenn auch über einen etwas längeren Zeitraum. Pakistan, Nigeria und andere Länder in Südasien und Afrika werden hingegen nicht annähernd so viele Impfdosen erhalten.
Die Corona-Krise hat einmal mehr die Ungleichheiten in der Welt sichtbar gemacht. Und das wird nicht die letzte Pandemie gewesen sein. Es bleibt uns keine Wahl, als anzuerkennen, dass wir ein wirkliches Weltgesundheitsprogramm brauchen.
Die WHO spricht schon seit Jahren von der Notwendigkeit allgemeiner Gesundheitsversorgung. Wenn sich die Welt im Fall von Ebola zusammentut und Unterstützung bei der Bekämpfung des Virus leisten kann, dann müsste sie das auch bei Corona tun können. Viele scheinen jedoch mehr an Selbstschutz interessiert zu sein als an einer effektiven globalen Eindämmung von Covid-19. Aber letztendlich sitzen wir da alle in einem Boot – vor einer so ansteckenden Krankheit kann man sich nicht einfach verstecken.
Seitdem Biden die Präsidentschaftswahl für sich entschieden hat, spricht er davon, die »Führungsrolle« der USA in der Welt wiederherstellen zu wollen. Er hat angekündigt, dass er zum Pariser Klimaabkommen zurückkehren wird, doch er hat Trump auch dafür kritisiert, die NATO vernachlässigt zu haben und China gegenüber nicht hart genug gewesen zu sein. Glaubst Du, dass sich die Biden-Regierung ernsthaft der Bekämpfung von Corona-Krise und Klimawandel zuwenden wird, oder geht es ihr einfach um eine Wiederherstellung der US-Hegemonie?
Die Lage ist ziemlich widersprüchlich. Biden hat sich, auch noch nachdem er die Nominierung der Demokratischen Partei bereits gewonnen hatte, immer weiter von der Agenda von Bernie Sanders distanziert. Es ist zu begrüßen, dass er sich dem Pariser Abkommen wieder anschließen und sich stärker an den internationalen Bemühungen gegen den Klimawandel beteiligen will – ohne die enge Einbindung der USA sowie Chinas und Indiens ist es so gut wie unmöglich, sich dem Ziel der Klimaneutralität auch nur anzunähern.
Mir bereitet es Sorgen, dass Biden vorhat, die amerikanische Führungsrolle im asiatisch-pazifischen Raum und in der NATO zu bekräftigen. Er schlägt vor, den riesigen Verteidigungsetat der USA beizubehalten oder sogar noch zu erhöhen. Die britische Regierung hat bereits eine ganz erhebliche Erhöhung ihrer Rüstungsausgaben angekündigt – und zugleich ihren Entwicklungshilfeetat unter das gesetzlich vereinbarte Mindestmaß abgesenkt.
Die Covid-19-Krise hat gezeigt, dass echte Sicherheit nur dann zu gewährleisten ist, wenn wir die gesundheitlichen Anliegen der gesamten Welt ernst nehmen. Stattdessen hören wir auf beiden Seiten des Atlantiks zunehmend eine Rhetorik, die an den Kalten Krieg erinnert, weshalb ich eine weitere Konfrontation zwischen der NATO und Russland für wahrscheinlich halte. Ich habe einiges an der russischen Regierung zu kritisieren – ich sehe die Situation dort realistisch. Aber es gibt keine sichere Zukunft für niemanden, solange sich die USA und Russland oder China weiter anfeinden.
Stattdessen brauchen wir einen Prozess, der sich den drängendsten Problemen widmet, mit denen die Welt konfrontiert ist: die allgemeine Umweltkrise, die globale Armut und Ungleichheit, die systematischen Menschenrechtsverletzungen und die Kriege, die um Mineralien oder als Stellvertreterkriege zwischen den Großmächten geführt werden. Als der UN-Generalsekretär António Guterres im Januar zu einem globalen Waffenstillstand aufrief, sagten die Generalversammlung und der Sicherheitsrat: »Eine tolle Idee!« – und taten dann genau das Gegenteil. Das gilt vor allem für den Jemen: Die Waffengeschäfte mit Saudi-Arabien haben zugenommen, und die Abraham-Abkommen erhöhen auch den Verkauf an die Vereinigten Arabischen Emirate und Bahrain.
Was wir brauchen, ist eine starke und internationale Friedens-, Gerechtigkeits- und Fair-Globe-Bewegung. Ich finde es ermutigend, wie sich die US-Linke in den letzten zehn Jahren durch die beiden Sanders-Kampagnen, die sozialistische Gruppierung innerhalb der Demokraten und durch gewerkschaftliches Organizing behauptet hat. Wir stehen natürlich vor riesigen Problemen. Aber auch die Black-Lives-Matter-Bewegung ist ein Lichtblick und hat ein neues Bewusstsein sowohl für die Geschichte der USA als auch für den europäischen Kolonialismus geschaffen. Wenn die jüngere Generation ein besseres Verständnis der Vergangenheit hat als die ältere, dann habe ich Hoffnung für die Welt.
Als Labour-Vorsitzender hast Du die Debatten über Außenpolitik verschoben, insbesondere mit Deiner Rede in Reaktion auf den Terroranschlag in Manchester während des Wahlkampfs von 2017, in der Du die Außenpolitik mit dem Terrorismus in Verbindung gebracht hast. Daraufhin gab es einen Aufschrei in den Medien – obwohl Deine Aussagen mit der Meinung vieler Menschen übereinstimmten. Seit Deinem Rücktritt im April 2020 ist die Labour Party jedoch zu einer Haltung der Akzeptanz übergegangen, was den Militarismus und die »Großmacht«-Ambitionen von Boris Johnson angeht. Wie kann die kritische Betrachtungsweise aufrechterhalten werden, wenn die institutionelle Plattform fehlt, jetzt wo Du nicht mehr Parteivorsitzender bist?
Der Bombenanschlag in Manchester war entsetzlich – da wurde jungen Menschen auf absolut schreckliche und brutale Weise das Leben genommen. Das Attentat ereignete sich während des Wahlkampfs – und es wurde vereinbart, die Kampagnen für ein paar Tage auszusetzen, was meiner Meinung nach richtig war.
Als ich mich wieder dem Wahlkampf widmete, wollte ich ein Statement zur britischen Außenpolitik abgeben – und darüber, wie sich unsere Beteiligung an Kriegen auf unsere eigene Sicherheit auswirkt. Viele Leute rieten mir dringend davon ab: Sie sagten, es würde uns schaden und unsere Chancen bei der Wahl zunichte machen. Aber ich setzte mich durch. Wir müssen uns den realen Auswirkungen der Außenpolitik stellen, die wir über all diese Jahre verfolgt haben. Dabei geht es nicht darum, Bombenattentate, Morde und andere terroristische Akte zu rechtfertigen – natürlich nicht. Aber wir müssen der Wirklichkeit darüber ins Auge sehen, was die Strategie des Westens angerichtet hat.
Also habe ich meine Erklärung abgegeben. Unmittelbar danach gab es viele Einwände von prominenten Persönlichkeiten, wenn auch weniger, als ich erwartet hatte. Es sagten aber auch viele Leute, meine Worte seien maßvoll gewesen und eine vernünftige Darstellung der Sachverhalte. Ein paar Stunden später erstellte YouGov eine Umfrage, die einen Zustimmungswert von 60 Prozent für meine Aussagen ergab. Ich denke, das war ein Wendepunkt im Wahlkampf. Denn es zeugte von einem Umdenken in der Gesellschaft – von einer Bereitschaft, unsere Außenpolitik aus einer anderen Perspektive zu betrachten.
Ich hatte zu diesem Zeitpunkt bereits deutlich gemacht, dass wir einen anderen Kurs vorgeben würden. 2016 habe ich mich, wie versprochen, für die Rolle der Labour Party am Irakkrieg entschuldigt, und zwar vor Familien, die in diesem Krieg ihre Angehörigen verloren hatten. Am selben Tag erschien auch der Chilcot Report, der unter anderem das Fehlverhalten der Blair-Regierung in Bezug auf den Irakkrieg offenlegte. Und das war auch der Tag, an mich die Labour-Parlamentsfraktion am energischsten dazu drängte, vom Parteivorsitz zurückzutreten.
Sie hatte bereits einen Misstrauensantrag gestellt. Den ganzen Tag über forderten Leute meinen Rücktritt, weil sie verhindern wollten, dass ich mich für den Irakkrieg entschuldige und auf den Report reagiere. Sie waren sich sehr wohl bewusst, dass mein Vorsitz im Zeichen der Anti-Kriegsbewegung stand, insbesondere in Bezug auf den Irak. Aber diese Entschuldigung abzugeben, war einer der ergreifendsten Momente meines Lebens – es war absolute Stille im Raum und ich fühlte mit den Menschen, die vor mir saßen, und die geliebte Menschen im Irakkrieg verloren hatten.
Ich hoffe, dass das, was wir während der Wahlkämpfe 2017 und 2019 vorgelegt haben, auch Parteilinie bleiben wird – das wäre wichtig. Aber die Richtung, in die uns die britische Regierung führt, indem sie die Rüstungsausgaben erhöht und die Entwicklungshilfe reduziert, und die Tatsache, dass die derzeitige Labour-Schattenregierung zumindest die Erhöhung des Verteidigungsetats akzeptiert, lassen leider anderes vermuten.
Beim Project for Peace and Justice geht es darum, eine kritische Perspektive auf außenpolitische Angelegenheiten in die öffentlichen Debatte, in die Forschung und in den Aktivismus zu holen. Dabei geht es zugleich aber auch um die Auswirkungen auf das Leben und die Wirtschaft im Inland. Wenn wir immer mehr Geld für die Rüstung ausgeben, wenn wir nach wie vor die Steuern für die reichsten Menschen nicht erhöhen und eine Wirtschaftsstrategie verfolgen, die darauf zielt, die während der Corona-Pandemie gemachten Schulden zurückzuzahlen, dann gibt es für diese Regierung nur einen Weg nach vorne: ein Einfrieren der Löhne, Kürzungen im öffentlichen Gesundheits-, Bildungs- und Wohnungswesen sowie bei allen anderen wichtigen Etats, und eine noch härtere Sparpolitik als nach der Finanzkrise.
Dieses Projekt ist keine neue politische Partei, sondern will eher einen Rahmen bieten, in dem Menschen zusammenkommen können. Am 17. Januar werden wir eine große virtuelle globale Konferenz abhalten. Es wird Rednerinnen und Redner aus den USA, Lateinamerika und Südasien geben, aber auch aus Gemeinden in Großbritannien, die schwer unter Arbeitsplatzverlusten und Deindustrialisierung gelitten haben – und auch junge Leute, die entschlossen sind, für die Grüne Industrielle Revolution zu kämpfen.
Während Du Parteivorsitzender warst spotteten einige: »Jeremy interessiert sich nur dafür, was in West Papua passiert, aber nicht für die Sorgen der einfachen Leute.« Für viele Menschen meiner Generation war hingegen gerade der Irakkrieg ein politisches Erwachen. Wie lassen sich diese verschiedenen Themenbereiche miteinander vereinen?
Manche der Einschätzungen habe ich durchaus mit Interesse gelesen, andere hingegen sind extrem herablassend und scheinen nicht gerade in der Lebensrealität der Menschen in diesem Land verwurzelt zu sein. Die Armut und die sozialen Verwerfungen sind immens, die Zahl der Menschen, die auf Lebensmittelbanken angewiesen sind, wächst, ebenso wie die Zahl derer, die in unsicheren Wohnverhältnissen leben.
Alles in unseren Manifesten zielte darauf ab, Macht und Reichtum umzuverteilen, unsere Wirtschaft zu demokratisieren und die Notwendigkeit einer Grünen Industriellen Revolution zu betonen, um Arbeitsplätze zu schaffen und die ökologische Nachhaltigkeit zu erreichen, die wir brauchen. Unsere Manifeste waren also darauf ausgerichtet, den Bedürfnissen der einfachen Leute zu begegnen.
Wie ich schon im Wahlkampf 2017 gesagt habe, lässt sich die Sicherheit unserer Leben nicht von unserer Außenpolitik abkoppeln. Machen Atomwaffen und höhere Rüstungsausgaben unser Leben sicherer oder eher riskanter? Sind die weltweiten Auswirkungen der Pandemie, der Umweltzerstörung, der massiven globalen Kapitalströme und der Macht internationaler Konzerne nicht gefährlich für uns?
Die Vorstellung, dass wir uns gegen das, was in der Welt passiert, abschotten können, ist völliger Unsinn. Das muss jetzt selbst Boris Johnson einsehen, der bis zum 31. Dezember irgendeine Art von Handelsabkommen mit der EU abschließen und auf einen lohnenden Freundschaftsdeal mit den USA hoffen muss, auch wenn sein Verbündeter Donald Trump jetzt nicht mehr im Weißen Haus ist – und ich habe das Gefühl, dass ihm das nicht gelingen wird.
Aber in alledem steckt auch eine wichtige moralische Lehre. Der Irakkrieg hat Hunderttausende von Menschen das Leben gekostet. Dabei basierte er auf einer absoluten Lüge. Und die Menschen in Großbritannien und überall auf der Welt konnten diesen Krieg als das erkennen, was er war. Bei den Protesten im Londoner Hyde Park im Jahr 2003 sagte ich: »Wenn es zum Irakkrieg kommt, dann werden ihm die Kriege von morgen, der Terrorismus von morgen und die Flüchtlingsströme von morgen folgen.« Lag ich etwa falsch?
Heute gibt es mehr Geflüchtete auf der Welt als jemals zuvor in der Geschichte – über 70 Millionen Menschen, Tendenz steigend. Das sind alles Menschen, die leben wollen, die etwas bewegen wollen, die einen Beitrag zur Gesellschaft leisten wollen. Werden wir uns zu einem Hochsicherheitsstaat entwickeln, der die Marine losschickt, um Geflüchtete an den Außengrenzen zurückzudrängen, oder werden wir politisch, wirtschaftlich und ökologisch etwas bewegen, um das Kernproblem der globalen Ungleichheit und Ungerechtigkeit zu lösen?
Ich bin bereit, mich für Letzteres einzusetzen, ganz egal wo. Und auch die junge Generation aus der Arbeiterklasse, ist sich dieser Dinge bewusst. Black Lives Matter hat sich deswegen so schnell in der Welt verbreitet, weil viele in dem Verhalten der Polizei gegenüber Schwarzen in den USA etwas von ihrer eigenen Situation wiedererkennen konnten.
Dein Leben wurde insbesondere von der lateinamerikanischen Linken geprägt: Vor kurzem sprachst Du mit JACOBIN über Deine Reise nach Chile im Jahr 1969, kurz vor der Wahl von Salvador Allende, wobei Du im Anschluss auch Bolivien besuchtest. Ein Lichtblick im ansonsten von düsteren Verhältnissen und üblen Niederlagen geprägten Jahr 2020 war, dass die Movimiento al Socialismo (MAS) die Wahlen in Bolivien gewann. Glaubst Du, dass die jüngsten Erfahrungen in Lateinamerika auch Lehren die Politik hier bereithalten?
Ja, denn sie zeugen davon, dass die Botschaft der sozialen Gerechtigkeit auch den widrigsten Umständen trotzen kann.
Ich war 1969 in Chile, zu der Zeit, als die Unidad Popular gerade gegründet worden war. Ich war 19 und beobachtete einfach, was geschah, hörte wundervolle Volksmusik, sah, wie Menschen aus verschiedenen politischen Zusammenhängen zusammenkamen, so auch die indigenen Mapuche und die chilenischen Linken.
Das führte 1970 zum Sieg der Unidad Popular, wenn auch mit weniger als 40 Prozent der Stimmen. Die Regierung unter Allende, hatte so viel unternommen, um die Lebensbedingungen, die Wohnverhältnisse und die Bildungsmöglichkeiten der Armen zu verbessern und ihre kulturelle Teilhabe zu erweitern. Und dann wurde Allende von der CIA in Zusammenarbeit mit dem chilenischen Militär in einem brutalen Putsch gestürzt. Aber sein Geist lebt weiter.
Wer denkt gern an Pinochet zurück und wer an Allende? Ich denke, wir kennen die Antwort. Allendes Erbe ist weitreichend, das zeigten zuletzt erst wieder die jüngsten Proteste in Chile, die das Referendum und die öffentliche Debatte über eine neue Verfassung herbeiführten. Auf welche Figuren beriefen sich da die Demonstrierenden? Es waren Allende, Victor Jara, Pablo Neruda …
In Brasilien war es ähnlich: Lula war maßgeblich an der Gründung der Partido dos Trabalhadores (PT) beteiligt, sie wuchs zu einer immer stärkeren politischen Kraft an und gewann Wahlen – aber dann wurde Lula als Präsident abgesetzt, und nach ihm Dilma Rousseff, in einem Prozess, den man als »Lawfare« bezeichnen muss: Kriegsführung mit juristischen Mitteln. Aber heute kehrt die PT langsam wieder zu ihrer Stärke zurück, und das liegt an den Maßnahmen, die sie damals ergriffen hat, um die schlimmsten Ausprägungen der Armut zu lindern. Die Beständigkeit dieser Botschaft ist enorm.
Und zu Bolivien: Die MAS beruht unter anderem auf einer sehr langen Tradition radikaler Politik, die viele, viele Jahrzehnte zurückreicht. Außerdem hat Bolivien im Vergleich zu anderen lateinamerikanischen Ländern einen viel stärkeren Sinn für nicht-spanische Hegemonie und die größte sprachliche Vielfalt. Der Widerstand gegen die Wasserprivatisierung nährte das Wachstum einer Bewegung, die schließlich Evo Morales zum Präsidenten machte. Er wurde abgesetzt – und ging erst nach Mexiko, dann nach Argentinien und nun zurück nach Bolivien. Sein Platz in der Geschichte ist auf jeden Fall sicher. Ich wünsche Boliviens neuer Regierung alles Gute – und ich hoffe, dass sie die Umverteilung von Macht und Reichtum fortsetzen kann, die von Evos Regierung begonnen wurde.
Du hast Dich fünf Jahrzehnte lang der internationalen Solidaritätsarbeit gewidmet, meistens in direkter Opposition zu den jeweiligen britischen Regierungen. Ich will jetzt nicht im Detail auf die Umstände Deiner Suspendierung eingehen – jedoch haben mich diese letzten Monate in gewisser Weise an die Verfolgung der US-amerikanischen Linken während der McCarthy-Ära erinnert. Sind diese jüngsten Vorgänge etwas Neues? Inwiefern unterscheiden sie sich von dem Angriff auf britische Linke in den 1980er Jahren unter Thatcher?
Auf Leute, die unbequeme Meinungen vertreten, wird immer Druck ausgeübt. Gestern Abend hatten wir eine Diskussionsveranstaltung über Tony Benn, der in den 1970er und 80er Jahren den linken Flügel der Labour Party anführte. Seine Tochter Melissa hielt eine schöne Rede über ihren Vater und sprach auch über die Anfeindungen, denen ihre Familie vonseiten der rechten Medien ausgesetzt war. Die Feindseligkeit sehr mächtiger, sehr rechter Medien gegenüber Linken ist nicht neu.
Im Jahr 1907 machte Keir Hardie, Mitgründer der Labour Party, eine Weltreise – in die USA, nach Australien, Indien und Südafrika – und berichtete hinterher auf einer riesigen Kundgebung in der Albert Hall in London von seinen Erfahrungen. Seine Reise wurde von der Daily Mail verfolgt, die ihn dafür verurteilte, dass er sich hinter die indische Bevölkerung anstatt die britische Kolonialherrschaft stellte und sich in Südafrika gegen den Rassismus aussprach. Er wurde heftig angefeindet. Die Linke in den 1930er Jahren, als George Lansbury Labour-Vorsitzender war, wurde angefeindet. Nye Bevan, der als britischer Gesundheitsminister in der Nachkriegszeit das öffentliche Gesundheitssystem NHS durchsetzte, wurde dafür ebenfalls angefeindet.
So ist es nunmal: Wenn man es schafft, eine Botschaft rüberzubringen, die die Ungleichheit und Ungerechtigkeit unserer Gesellschaft und die undemokratische Macht bestimmter Medien herausfordert, dann folgt ein Gegenangriff. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Ich habe diesen ganzen Unsinn eine ganze Weile lang ertragen und werde das zweifellos auch weiterhin tun.
Aber es lohnt, diese Attacken durchzustehen, wenn man dafür die Botschaft der sozialen Gerechtigkeit verbreiten kann, die den Menschen Hoffnung und Zuversicht gibt. Auf den Treffen, die ich abhalte, sage ich immer: Macht ist an vielen verschiedenen Orten zu finden. Einerseits geht es darum, politische Ämter zu besetzen. Aber es geht immer auch um die Macht der Gemeinden, Dinge zu verändern, Fabrikschließungen zu verhindern, Schulen und Kindergärten, Parks und Gemeindezentren einzurichten, aus schmutziger Luft saubere Luft und aus verunreinigtem Wasser sauberes Wasser zu machen. Das alles vergrößert die Macht der Menschen. Und das ist es, worum es bei unserer politischen Mission gehen muss: die Ermächtigung der Menschen gegenüber den Eliten, die diese Ermächtigung verhindern wollen.
Was meine Suspendierung angeht, so bedauere ich sie natürlich zutiefst und bin sehr dankbar für all die Unterstützung, die ich innerhalb und außerhalb der Partei erfahren habe. Und ich fordere die Leute auf, sich nicht unterkriegen zu lassen – denn die Arbeiterbewegung gehört uns allen.
Kommen wir abschließend noch einmal zum Project for Peace and Justice – wie kann man sich dafür engagieren?
Es handelt sich um ein neues und aufregendes Projekt – das ist Neuland für uns alle.
Es geht uns darum, Probleme zu analysieren, uns mit bereits existierenden Gruppen zu vernetzen und sie zu stärken, und damit große Kampagnen für den Wandel zu befördern. Wir wollen mit diesen anderen Organisationen kooperieren, nicht konkurrieren. So haben wir bereits zum Start Unterstützung unter anderem von der Orgreave Truth and Justice Campaign in Yorkshire sowie von Gewerkschaften in Bolivien und den USA erhalten. Und diese Organisationen in Verbindung zu setzen, das Klein-Klein und das große Ganze zugleich zu sehen, ist ungemein wichtig.
Wir werden mit Gewerkschaften und sozialen Bewegungen zusammenarbeiten, um ein Netzwerk von Wahlkämpferinnen, Basisaktivisten, Denkerinnen und Führungspersönlichkeiten aufzubauen, darüber Erfahrungen auszutauschen und Lösungskonzepte für unsere gemeinsamen Probleme zu entwickeln. Ob es die Beschäftigten bei Rolls-Royce sind, die ihre Arbeitsplätze in Barnoldswick verteidigen, oder die weitreichenden Proteste, die wir gegenwärtig in Indien sehen; ob es die Kinder sind, die in einem der reichsten Länder der Welt hungern müssen, oder jene, die vor Krieg und Krisen fliehen müssen.
Das Project for Peace and Justice wird Forschung und Analyse mit Kampagnenarbeit und Organizing verbinden. Dabei können wir auf der populären sozialistischen Politik aufbauen, die wir in den letzten fünf Jahren in der Labour Party entwickelt haben.
Ich hoffe es gelingt uns, gemeinsam etwas aufzubauen, das von Bedeutung ist. Angesichts der Kräfte, die sich unserer Kontrolle entziehen, haben sich viele von uns in diesem Jahr sehr machtlos gefühlt. Aber das muss nicht so bleiben.
Wir werden am 17. Januar mit einer globalen Konferenz an den Start gehen, wobei wir hoffentlich ein großes, internationales Publikum haben werden. Es werden Menschen aus der ganzen Welt und über alle Generationen hinweg vertreten sein. Ich bin sehr vorfreudig und enthusiastisch und ich hoffe, dass auch Ihr dabei sein werdet.
Ihr könnt Euch hier für die Konferenz anmelden und dem Project for Peace and Justice auf Twitter und auf Facebook folgen.