20. November 2020
Jeremy Corbyn spricht im Interview über seine Zeit als Vorsitzender der Labour Party und weshalb er trotz aller Herausforderungen zuversichtlich auf dieses Kapitel zurückblickt.
Corbyn beim Wahlkampf in Bristol, Dezember 2019.
Im vergangenen April trat Jeremy Corbyn nach fast fünf Jahren als Vorsitzender der Labour Party zurück. Es war eine stürmische Periode für Labour gewesen: von seiner unerwarteten Wahl zum Parteivorsitz 2015 über einen versuchten Putschversuch in der Partei 2016 bis hin zum großen Comeback bei den Wahlen 2017, der erschütternden Niederlage 2019 und seiner kurzzeitigen Suspendierung von der Partei im vergangenen Oktober – vom Brexit und den Umbrüchen in Großbritanniens Politik ganz zu schweigen.
Im Interview spricht Corbyn über seine Amtszeit, ihre Kontroversen und die Lehren, die er daraus gezogen hat.
Der Versuch, die Labour Party zu einem Werkzeug für den Sozialismus zu machen, ist aussichtslos. Diese Aussage stammt von Deinem alten Freund Ralph Miliband. Haben die letzten fünf Jahre seine These bestätigt oder widerlegt?
Weder noch. Ich wurde 2015 gewählt, als die Zahl der Parteimitglieder und unserer Unterstützerinnen und Unterstützer rapide wuchs. Innerhalb kurzer Zeit verdoppelten wir die Mitgliedszahlen und ich wollte, dass die Partei einen Neubeginn wagt. Die Grundlage für unsere Kampagne war, dass wir in den Wahlen 2010 und 2015 verschiedene Formen von Austerität angeboten hatten. Dazu gehörten das Einfrieren der Gehälter und eine kontinuierliche Unterfinanzierung des öffentlichen Dienstes. Ich vertrat die Ansicht, dass das Land die Kurve kriegen und in seine Zukunft investieren muss. Es ging darum, eine entsprechende Politik zu entwickeln und vor allem den umweltpolitischen und internationalen Ansatz neu auszurichten.
Hinzu kam, dass ich eine sehr viel demokratischere und verantwortungsbewusste Partei wollte, die in den Wahlkreisen quer durch das Land präsent ist. Labour kann auf lange Sicht nicht gewinnen, wenn es das Spiel der Medien nicht mitspielt und eine Westminster-Strategie verfolgt. Um Menschen zu mobilisieren und sie zu überzeugen, dass Veränderung und Verbesserung möglich sind, müssen wir eine echte Nähe zur Basis aufbauen. Hier lag der größte Widerstand, den ich innerhalb der Parteibürokratie und den Strukturen spürte: gegen den Aufbau einer Gemeinschaftsorganisation. Sie wollten den alten Weg weitergehen. Ich halte das für einen großen Fehler.
Wie alle wissen, hatte ich von Beginn an mit einer massiven Opposition innerhalb der Parlamentarischen Labour Party [PLP] zu kämpfen. Im ersten Jahr ging es fast ausschließlich darum, mit dem Druck der PLP umzugehen. Bei den zweiten Wahlen zum Parteivorsitz 2016 gewannen wir dann mit noch größerer Mehrheit. An diesem Punkt hätte die Partei verstehen müssen, dass unsere Mitglieder Veränderung wollen.
Über das Verhältnis zwischen der PLP und der Partei wird schon diskutiert solange ich denken kann. Das reicht bis zur »Campaign for Labour Party Democracy« in den frühen 1970ern zurück. Damals ging es darum, die parlamentarische Partei zu transformieren, damit sie besser auf die Bewegung als Ganze reagieren kann. Die MPs [Members of Parliament] verdanken ihre Wahl der Unterstützung unserer Mitglieder und der Tatsache, dass die Wahlkreise, die sie repräsentieren, sie im Parlament haben wollen.
Wie bewertest Du Deine Zeit als Parteivorsitzender hinsichtlich der Reform der Partei? Ging sie weit genug?
Wir sind nicht weit genug gegangen und wir waren nicht schnell genug. Was wir getan haben, war das Regelwerk zu verändern, das bestimmt, wer für Positionen und für die Wahl zum Vorsitz aufgestellt wird. In diesen Bereichen gab es also kleinere Verbesserungen. Es gelang uns, die Constituency Labour Parties [CLP, Labour-Organisationen auf Wahlkreisebene], die sogenannten »Special Measures«-unterzogen wurden [»Special Measures« sehen die Aufsicht von CLPs durch die Parteizentrale vor, wodurch insbesondere die Mitgliedschaften einer Überprüfung unterzogen werden], aus diesen Maßnahmen herauszubekommen. In ein oder zwei Fällen von CLPs, in denen die »Special Measures« weiterliefen, stellten die Maßnahmen keine wirkliche Einschränkung dar – diese CLPs konnten also ganz normal ihre Arbeit machen.
Ich hätte mir weitere Fortschritte in der Kultur, in der diese lokalen Parteien arbeiten, gewünscht. Dieser Wandel muss früher oder später sowieso kommen. Die lokalen Parteien müssen viel mehr auf ihre Gemeinden eingehen. Ich wurde unzählige Male von Menschen darauf angesprochen, dass sie nach der Wahl 2015 in unsere Partei eingetreten sind, zu einem Treffen der lokalen Partei gingen und dieses Treffen kalt, langweilig und wenig einladend fanden. Diese Menschen kamen dann kein zweites Mal. Sie fühlten sich nicht im Geringsten in der Partei willkommen, obwohl sie unsere politische Richtung in der Umwelt- und Wirtschaftspolitik, bei der sozialen Gerechtigkeit und andere Themen unterstützten.
Die Labour Partei muss einsehen, dass die Feindseligkeit der Medien uns und der Labour-Bewegung gegenüber nicht verschwinden wird. Es gibt einige reiche und einflussreiche Menschen, die nicht aufhören werden, Labour zu attackieren. Sie stören sich nicht an einzelnen politischen Positionen, sondern daran, dass die Partei überhaupt existiert. Darauf gibt es nur eine Antwort: Wir müssen untereinander kommunizieren, über die sozialen Medien und aber auch durch die tagtägliche Arbeit in den Gemeinden.
Wie tragfähig ist eine Kampagne für eine sozialistische Regierung, ganz zu schweigen vom Regieren selbst, wenn es innerhalb der Partei eine substanzielle Opposition dagegen gibt?
Nun ja, es macht das Leben nicht einfacher, wenn es Kräfte vor allem in der PLP gibt, die gegen so gut wie alles sind, was man tut und einen dauernd untergraben. Hinsichtlich der großen Mehrheit der Parteimitglieder und sicherlich auch innerhalb der Gewerkschaften war das aber nicht der Fall.
Ich war oft bei den Treffen, Konferenzen und Events der Gewerkschaften. Jedes Mal wurde ich dort herzlich empfangen. Ich möchte der Gewerkschaftsbewegung für ihre Unterstützung danken und sagen, dass ich sehr stolz auf die Verbindung zwischen der Labour Partei und den Gewerkschaften bin. Es ist ein grundlegender und wesentlicher Teil unserer Bewegung.
Ich habe mal gesagt, dass man eine Parlamentswahl nicht im Büro gewinnt. Also verbrachte ich die fünf Jahre als Parteivorsitzender damit, durch das Land zu reisen und hunderte von Besuchen zu machen – in Fabriken, Schulen, Colleges, Universitäten, auf Treffen der Partei, der Gewerkschaften und von Mieterinnen und Mietern. Dadurch konnte ich den Menschen zuhören und diejenigen mobilisieren, denen der Klimawandel oder das Ende des Narrativs der »Schnorrer-Gesellschaft«, das von beiden Parteien bedient wurde, wichtig waren. Dieses Narrativ muss weg, wir müssen eine inklusive Gesellschaft aufbauen.
All das haben wir gemacht und ja, die Opposition in der Partei war falsch. Diejenigen in der Partei, die persönliche Attacken gegen andere gefahren haben, sollten darüber nachdenken, was sie da tun und warum sie es tun. Sie sind nur im Parlament, weil sie von ihrer Partei und ihrer Gemeinschaft aufgestellt wurden.
Ich führte in vielen Landesteilen Umfragen durch und was sich dabei zeigte, war, dass Labour ein Programm hatte, welches das Leben von Millionen Menschen in der Arbeiterklasse radikal verändert hätte, aber viele Menschen das Gefühl hatten, keinen Anteil daran zu haben – vor allem in den Regionen, die so ein Programm am meisten gebraucht hätten. Klingt das für Dich nach einer treffenden Charakterisierung?
Das ist mir ein bisschen zu simpel. 2019 verloren wir etwa 300.000 Labour-Stimmen an die Tories. Zudem verloren wir einige an die Liberaldemokraten, ein paar an die Grünen und ziemlich viele Menschen gingen schlichtweg gar nicht wählen. Aber in den Wahlkreisen, in denen wir verloren haben, bestand dieser Trend schon lange. Die großen Mehrheiten der 1980er und 90er Jahre verschwanden im Jahr 2019 nach einem langen Niedergang. Im ganzen Land findet eine Neugewichtung statt, nicht immer zu unserem Vorteil.
Um ein Beispiel zu nennen: Ich wurde in meinem Wahlkreis 1983 zum ersten Mal ins Parlament gewählt. Wir hatten damals 5000 Stimmen Vorsprung, das waren nicht mal 15 Prozent. Zur selben Zeit betrug der Vorsprung in den meisten Wahlbezirken des Nordostens und im Süden von Wales an die 20.000 Stimmen. 2019 hatte ich dann 26.000 Stimmen Vorsprung, während wir in den Wahlbezirken, in denen wir Niederlagen einstecken mussten, ungefähr dieselbe Menge verloren haben.
In städtischen Wahlkreisen, zum Beispiel in London, wurde Labour immer stärker. In ehemaligen Industriestädten in den Midlands oder im Norden, die stark von einem einzigen Sektor abhingen, wurden wir hingegen schwächer. Für mich hängt das von vielen Faktoren ab. Zum einen ziehen junge Menschen wegen der Deindustrialisierung und schlechteren Jobperspektiven weg. Außerdem sind die Gewerkschaften in diesen Städten weniger präsent. Während die Mitglieder früher hauptsächlich in der produzierenden Industrie und im privaten Sektor arbeiteten, sind sie heute vor allem im öffentlichen Dienst tätig.
Natürlich gibt es auch andere Faktoren: die schlechte Finanzierung lokaler Behörden und öffentlicher Angebote. Und in vielen Fällen zeigt die Partei keinerlei Präsenz. Es gibt viel zu viele Gegenden, in denen es schlichtweg keine lebendige Bewegung für Themen wie Gesundheit oder Investitionen in öffentlichen Wohnraum gab. Die Lehre daraus muss sein, dass die Linke nicht gewinnen kann, wenn sie nicht in allen Gemeinden aktiv und effektiv ist. Mit einer opportunistischen Politik kann man keine Wahlen gewinnen.
Für die Labour Party warst Du ein ungewöhnlicher Anführer – als Sozialist an der Spitze einer sozialdemokratischen Partei vielleicht nur mit George Lansbury oder Michael Foot vergleichbar. Wie schwierig war das im Tagesgeschäft und welchen Herausforderungen musstest Du Dich stellen?
Im Tagesgeschäft gibt es einen enormen Druck durch die Zeitknappheit und auch durch die Ziele, die man sich gesetzt hat – das gilt für jede Führungsperson in der Partei. Wenn man nicht aufpasst, sieht man nur noch Westminster und was dort gerade passiert. Während die meisten politisch aktiven Menschen verfolgen, was im Parlament passiert, gilt das für die breite Öffentlichkeit nicht. Die interessiert das nicht und sie finden den dortigen Sprachduktus und den Stil ziemlich unverständlich.
Man muss das Parlament dazu nutzen, um für die eigene Sache einzustehen und die Regierung herauszufordern. Dafür ist es da. Aber die Politik, die man selbst vertritt, muss auch außerhalb des Parlaments stattfinden. Ich musste also abwägen, wieviel Zeit ich für die parlamentarische Sphäre und wieviel ich für Reisen durch das Land aufbringen würde. Hinzu kam noch die Zeit, die ich in meinem Wahlkreis verbrachte. Um alles unter einen Hut zu bekommen, hatten wir uns eine Struktur überlegt: Wenn das Parlament tagte, war ich bis spätestens Mittwochabend dort. Donnerstag, Freitag, Samstag und der Sonntagmorgen waren für meinen Wahlkreis und Reisen durch das Land reserviert. Die heftigsten Diskussionen gab es über die Verteilung der Zeit. Ich bestand immer darauf, in meinen Wahlkreis zu fahren, weil ich überzeugt bin, dass man als MP seine Pflichten erledigen muss.
Die Frage ist letztlich, wie man seine Prioritäten setzt, denn man kann nicht alles selbst erledigen. Das gilt etwa für die Entwicklung von politischen Strategien. Es geht nicht nur darum, den Klimawandel abzulehnen, man braucht auch einen Plan für eine grüne industrielle Revolution. Ich denke, das war ein riesiger politischer Erfolg, an dem insbesondere Rebecca Long-Bailey hart gearbeitet hat. Man darf die Umwelt nicht als Nischenthema angehen, dass nur vor Umweltaktivistinnen und Umweltaktivisten angesprochen wird. Wir müssen Umweltpolitik mit der breiten Mehrheit der Menschen diskutieren.
Unser Credo sollte sein: »Wir wollen eine grüne industrielle Revolution. Anders als in anderen industriellen Revolutionen, verteilen wir tatsächlich die Macht um, schützen die Umwelt und geben den Menschen Vertrauen in ihre Zukunft.« Man kann nicht einfach zu denjenigen gehen, die in umweltschädigenden Industrien arbeiten und sagen: »Sorry, Deine Industrie ist für Umweltverschmutzung verantwortlich. Wir schließen sie.« Es braucht neue Industrien und neue Jobs. Wir müssen insgesamt nachhaltiger werden.
Diesem Thema musste ich mich 2015 während des Wahlkampfes in Dublin stellen, als ich mit der Gewerkschaft General, Municipal, Boilermakers and Allied Trade Union [GMB] sprach. Es ging ums Fracking, das die GMB mit Beschluss vom Tag zuvor unterstützen wollte, da es Jobs versprach. Und es stimmt natürlich, dass sowohl beim Aufbau der Frackinginfrastruktur als auch bei deren Betrieb und der Herstellung neue Jobs entstehen. Ich sagte zu ihnen: »Es tut mir leid, aber ich bin anderer Meinung. Fracking zerstört den Grundwasserleiter, verschmutzt das Wasser und führt zu CO2-Emissionen. Ich bin für massive Investitionen in Wind-, Wellen-, Solar- und Geothermalenergie. Diese Bereiche sind nachhaltig, Fracking ist es nicht. Und wir können dort sogar noch mehr Jobs schaffen.«
Mit der sozialen Gerechtigkeit war es ähnlich. Einer der Wendepunkte der Wahlen zum Vorsitzenden 2015 war, dass die Partei sich bei der Abstimmung über den Vorschlag der Tories zur Reform der Sozialhilfe enthalten wollte. Begründet wurde das damit, dass wir gerade eine Parlamentswahl verloren hatten und diese Niederlage zeigen würde, dass die Menschen die Kürzungen wollten. Ich sah das anders.
Also stimmte ich gegen das Gesetz und ich bin heute noch überzeugt, dass das die richtige Entscheidung war. Wir dürfen Menschen, die von Sozialhilfe abhängen, niemals als Sozialschmarotzer diffamieren. Denn wenn wir an eine inklusive Gesellschaft glauben, brauchen wir ein soziales Sicherungssystem, das für jede und jeden sorgt. Im heutigen Großbritannien ist das leider nicht so. Es gibt viele Menschen, die davon ausgeschlossen sind. Wie sich auch während der Corona-Krise wieder zeigte, leben viele Menschen am Rande des Existenzminimums.
Keine fünf Minuten von meinem Haus entfernt, hängen Menschen im Finsbury Park herum, die keinen Anspruch auf Unterstützung und kein Einkommen haben. Durch die Krise verlieren sie auch diejenigen Aushilfsjobs, die sie bisher hatten. Sie sind verzweifelt, ohne Kirche oder Moschee hätten sie nichts zu essen. So sieht das moderne Großbritannien aus. Für mich bedeutete das, dass wir Entscheidungen, wie die von 2015, überdenken mussten.
Es ist uns auch gelungen, den Diskurs über öffentliches Eigentum und internationale Themen zu verändern. Die Privatisierung des Schienennetzes war in meinen Augen schon immer falsch. Wir stecken Unsummen in die Firmen, die die Züge betreiben. Einige Leute verdienen daran sehr gut. Letztlich ist es doch so, dass die öffentliche Hand in die Infrastruktur investiert hat und die Gewinne dann privatisiert wurden. Für mich gehört diese Infrastruktur schon immer in öffentliches Eigentum überführt. Deswegen war ich auch sehr stolz auf Andy McDonalds Ausarbeitungen zu »GB Rail«, einem Schienenverkehr in öffentlicher Hand.
Für mich stand aber auch fest, dass die Art von öffentlichem Eigentum, für die wir kämpften, nicht das Modell der 1940er ist, bei dem die Regierung Ausschüsse für die verstaatlichte Industrie bestimmt, und diese dann doch privatwirtschaftlich geführt werden. Ich wollte eine sehr viel demokratischere Form von Eigentum. Wir versuchten das bei der Wasserversorgung. Es ging um mehr Einfluss der Gemeinschaften und lokalen Behörden und um Ansätze, die die Einzugsgebiete der Flüsse als Umweltfaktoren berücksichtigten. Dafür gab es viel Unterstützung. Gegenwind kam, wie nicht anders zu erwarten, von den Hedgefonds, denen viele unserer Wasserfirmen gehören.
Eine weitere Baustelle war die internationale Politik. Ich bin überzeugt, dass ökonomische Gleichheit, Respekt für Menschenrechte und Gerechtigkeit zu einer friedlichereren Welt führen. In meiner Rede gegen den Irakkrieg 2003 im Hyde Park warnte ich davor, dass dieser Krieg in der Zukunft zu unvorhersehbaren Konflikten, Flucht und Vertreibung und Terrorismus führen wird.
Als Vorsitzender war ich entschlossen, unsere Politik zu ändern und uns für den Krieg im Irak zu entschuldigen. Den stärksten Widerstand von der PLP gab es, als ich für den Chilcot-Bericht aussagte und diejenigen Familien um Entschuldigung bat, die Angehörige im Krieg verloren hatten. In den ganzen fünf Jahren war das der ergreifendste Moment, vor diesen Menschen zu stehen, die im Irakkrieg ihre Familienmitglieder verloren hatten und wissen wollten warum.
Neben den Fragen zur Parteiführung gab es auch breitere politische Fragestellungen, die in Deine Zeit als Vorsitzender fielen – allen voran vermutlich der Brexit. Wie findest Du, war der Umgang damit?
Ich möchte in einer sozialistischen Gesellschaft leben und ich möchte einen Weg dorthin finden, bei dem niemand auf der Strecke bleibt. Alles was man macht, sollte man auf das eigene Ziel ausrichten. Die Europäische Union und der gemeinsame Binnenmarkt waren in meinem ganzen erwachsenen Leben ein wichtiger Faktor in der Politik. Ich habe sogar jetzt, in diesem Büro, noch die Flyer und Broschüren vom Referendum 1975. Die werfe ich nicht weg, da kannst Du beruhigt sein!
Meine damalige Ablehnung des Binnenmarkts rührte daher, dass es nur um einen gemeinsamen Markt ging, daran waren keine Forderungen nach einem sozialen Europa gekoppelt. Diese Kampagne war eine ungute Koalition zwischen nationalistischen Kräften und denjenigen Linken, die gegen den Binnenmarkt waren, weil sie davon ausgingen, dass eine Politik der freien Märkte die soziale Infrastruktur des Landes beschädigen würde. Innerhalb des Lagers der Ablehnenden gab es 1975 Spannungen, innerhalb des Lagers der Zustimmenden vermutlich auch.
Letztlich sprach sich im Referendum eine Mehrheit für einen Verbleib im Binnenmarkt aus. Nur die Bedingungen wurden etwas angepasst. Der Binnenmarkt wurde zur EU und entwickelte ein sehr viel stärkeres soziales Element. So betrachtet war es vermutlich Margarete Thatchers Ablehnung, die zu einer Mobilisierung der linken Mitte führte. Aktuell gibt es unbestreitbar ein starkes soziales Element in vielen Teilen der europäischen Rechtspolitik sowie im Umwelt- und Verbraucherschutz. Das gilt interessanterweise auch für die Rolle der Menschenrechte in europäischen Handelsverträgen, wobei man sagen muss, dass die Durchsetzung dieser Klauseln ineffizient ist. Jedenfalls wuchs die Zahl derjenigen, die in der EU bleiben wollten und auch innerhalb der Partei wurde das zur vorherrschenden Meinung.
Dann lies die Partei sich auf ein Referendum ein, wahrscheinlich im Glauben, dass es leicht zu gewinnen wäre und Nigel Farage den Wind aus den Segeln nehmen würde. Es kam leider anders. Ich kämpfte für einen »Remain-and-Reform«-Ansatz mit Verbelib in der EU. Dabei wollte ich vermeiden, den Fehler eines Bündnisses mit den Tories zu wiederholen, den »Better Together« in Schottland begangen hat. Also führten wir einen »Remain-and-Reform«-Wahlkampf und reisten durch das ganze Land.
Im Referendum stimmten die Gemeinden, die durch die Deindustrialisierung unter Thatcher die höchsten Arbeitslosenquoten hatten, mit Nein. Städtische Wahlkreise wie mein eigener, die ebenfalls unter der Thatcher-Politik litten, stimmten hingegen mit Ja. Ich argumentierte oft, dass Menschen, die den Mindestlohn verdienen, prekär beschäftigt sind oder einen Null-Stunden-Vertrag haben und in privaten Mietwohnungen im Londoner Norden oder in Mansfield wohnen, ähnliche Interessen haben. Vielleicht haben sie verschiedene Ansichten über den Verbleib in der EU. Aber was man von der Gesellschaft möchte, in der man lebt, ist dasselbe.
Diese Botschaft versuchte ich auch nach der Wahl noch zu verbreiten, als das Thema wieder Aufmerksamkeit bekam. Aber das war schwierig. In der Partei gab es viele interne Debatten – vor allem in der PLP und im Schattenkabinett. In dem Beschluss, den wir auf der Konferenz 2019 einstimmig fassten, sah ich eine Möglichkeit, um voranzukommen. Dieser sah vor, dass wir mit der EU ein Zoll- und Handelsabkommen aushandeln würden und die Bevölkerung sechs Monate später darüber abstimmen sollte. Was auch immer dabei herauskam, so sollte es dann sein.
Das war das Ergebnis unzähliger, langer Diskussionen. Leider gab es auch nach der Einigung viele Leute, die sagten: »Ok, dann ist das eben so. Wir gehen aber unseren eigenen Weg und führen die Debatte genauso fort wie bisher.« Für Boris Johnson war das eine Steilvorlage, die er im Wahlkampf zynisch ausnutzen konnte, um sich als Macher darzustellen. Alles was die Tories hatten, war diese unglaublich vereinfachte Botschaft und die Medien kauften es ihnen ab.
Hätten alle hinter der Einigung gestanden, die wir auf der Konferenz 2019 gefasst haben, hätten wir die Debatte und die Agenda in Richtung sozialer Gerechtigkeit verschieben können. Aber so war es nicht. Ständig wurde der Streit befeuert. Ich erinnere mich an eine Kundgebung in Newcastle, bei der Ian Lavery eine wirklich gute Rede hielt. Er sagte: »Ich will in keiner Remain-Partei sein und ich will in keiner Leave-Partei sein. Ich will in einer sozialistischen Partei sein.«
Nun ja, wir können es nicht ändern. Jetzt ist eine inkompetente und gefährliche Tory-Regierung an der Macht. Sie müssen zu irgendeiner Art von Abkommen mit der EU kommen, auch wenn das sehr schwer wird. Wir hätten es viel leichter haben können. Gab es einen besseren Weg? Nun, die Partei hätte einfach die Politik von 2017 wiederholen, das Resultat des Referendums anerkennen und an einer zukünftigen Beziehung mit der EU arbeiten können. Aber innerhalb der Partei gab es massive Unterstützung für ein zweites Referendum – das sah man auch an der Konferenz 2018. Deren Ergebnis war der Kompromiss, den wir 2019 erreichten.
Hat Dir die Herausforderung gefallen?
Ja, jeder einzelne Moment war großartig.