30. Juli 2024
Ex-Labour Chef Jeremy Corbyn hat als Parteiloser sein Mandat verteidigt – trotz Angriffen des Establishments seiner ehemaligen Partei. Wie er die aktuelle Labour-Regierung von Keir Starmer unter Druck setzen will, erklärt er im Gespräch mit JACOBIN.
Jeremy Corbyn bei einer Demonstration gegen Rassismus, London, 16. März 2024.
Die jüngsten britischen Parlamentswahlen verliefen im Großen und Ganzen so, wie es sich schon länger abgezeichnet hatte: Premierminister Rishi Sunak wurde regelrecht aus der Downing Street gefegt. Auf ihn folgt nun der blass-bürokratische Keir Starmer. 175 Tory-Abgeordnete, darunter auch viele aus der Führungsspitze der Partei, verloren ihre Sitze, dafür rückt nun Grey Labour nach. An der Spitze der britischen Politik hat sich nach 14 Jahren konservativer Herrschaft somit alles verändert – aber irgendwie bleibt doch alles beim Alten.
Während die Regierungsverantwortung also wenig überraschend von der einen auf die andere traditionell etablierte Partei übertragen wurde, sorgten einige Außenseiter, die Labour links überholten, für unerwartete (und willkommene) Überraschungen. Mehrere designierte Labour-Minister – allen voran Thangam Debbonaire und Jonathan Ashworth – wurden von grünen und unabhängigen Oppositionellen besiegt. Diverse frühere Labour-Abgeordnete mussten mit ansehen, wie ihre sicher geglaubte Mehrheit von lokalen Vertreterinnen und Vertretern, die vor allem die Situation in Gaza zum Wahlkampfthema machten, zunichte gemacht wurde.
Die wohl prominenteste Entscheidung fiel im Londoner Wahlkreis Islington North. Hier kandidierte der frühere Labour-Chef Jeremy Corbyn als Unabhängiger in dem Wahlkreis, den er seit 1983 als sozialistischer Labour-Abgeordneter vertreten hatte. In der Wahlnacht erhielt der unabhängige sozialistische Mandatsinhaber 24.120 Stimmen gegenüber 16.873 Stimmen für den Labour-Kandidaten Praful Nargund.
Owen Dowling hat während des Wahlkampfes zweimal für Jacobin mit Corbyn gesprochen, sowohl beim Start der Kampagne als auch in den letzten hektischen Tagen. Nach der Wahl setzten die beiden sich noch einmal für ein ausführliches Interview zusammen, um über den erfolgreichen sechswöchigen Wahlkampf zu sprechen. Sie diskutieren Corbyns jahrzehntelange Tätigkeit in der Labour Party, die jüngsten Entwicklungen in Frankreich und darüber hinaus sowie darüber, wie Corbyn sich als parteiloser Kandidat inner- und außerhalb des Parlaments für Frieden, Antirassismus und ökonomische Gerechtigkeit einsetzen will.
Als wir uns das letzte Mal unterhalten haben, wolltest Du keine Wahlprognose abgeben. Du sagtest aber, dass Dein Wahlkampf gerade in den letzten Tagen vor der Wahl »bei den Menschen im ganzen Wahlkreis auf große Resonanz gestoßen« sei. Jetzt hast Du tatsächlich gewonnen, und zwar als unabhängiger Kandidat gegen den Vertreter der neuen Regierungspartei. Und das in einem Wahlkreis, in dem seit 1937 durchgängig Labour-Abgeordnete gewählt wurden.
Wie denkst Du über die Graswurzelkampagne, die für Dich in Islington North geworben und damit den Sieg gesichert hat – mit einer Mehrheit, die letztlich wohl größer war, als viele in Deinem Team erwartet hatten? Was bedeutet dieses Ergebnis für Dich?
Alles geschah unter großer Dringlichkeit: Zuvor hatte mir die Labour Party verboten, mich überhaupt als Kandidat zu bewerben, Sunak rief Neuwahlen aus, die Labour-Maschine setzte ihren Kandidaten durch und ich kündigte an, als Unabhängiger zu kandidieren. Damit hatten wir am ersten Tag erst einmal nichts außer unserer Entschlossenheit. Doch wir haben sehr schnell eine Organisation mit guten Freunden und Unterstützern aufgebaut. Wir mieteten ein Büro, konnten dort in kürzester Zeit arbeiten und hatten innerhalb weniger Tage ein Wahlkampfsystem in Gang gesetzt.
Hunderte Freiwillige kamen dazu und engagierten sich. Wir haben es geschafft, im Laufe der Kampagne mit mehr als der Hälfte der Wählerinnen und Wähler persönlich zu sprechen, was nahezu beispiellos sein dürfte. Das geschah durch konsequenten Haustürwahlkampf und durch sogenannte dynamische Wahlwerbung, bei der auf der Straße oder bei Veranstaltungen mit den Leuten gesprochen wurde und wir dokumentierten, wenn sie uns wählen wollten.
»Dieser Sieg ist nicht das Ergebnis eines vierwöchigen Wahlkampfes. Er ist das Ergebnis von vierzig Jahren Arbeit.«
Am Wahltag selbst hatten wir ebenfalls eine sehr ausgeklügelte Strategie. In allen Wahlbezirken wurden Teams mit Wahlkampfmaterial eingesetzt; und wir haben tatsächlich fast 80 Prozent der versprochenen Stimmen erhalten. Natürlich haben auch viele Menschen, die wir zuvor nicht kontaktiert hatten, für uns gestimmt. Interessanterweise spiegelte die Wahlbeteiligung für uns aber ziemlich genau das Ergebnis wider, das wir vorher mit unserer Dokumentation errechnet hatten. Die Meinungsumfragen während des Wahlkampfes waren so gesehen irreführend. Wir hatten die Methodik dieser Sonntagsfragen ohnehin in Frage gestellt. Vermutlich war es so: Wenn wir in den Umfragen stets etwas weiter hinten lagen, dürfte das Leute ermutigt haben, zu kommen und zu helfen. Womöglich haben wir dadurch also mehr Unterstützung bekommen.
Das Besondere an der Kampagne waren aber nicht unbedingt die Methoden, die ich gerade beschrieben habe. Vielmehr war es die Botschaft, die wir vermittelten: eine einfache Botschaft über meine Position als Unabhängiger, der gewillt ist, die neue Regierung zur Rechenschaft zu ziehen; aber auch eine Botschaft, mit der die wirtschaftspolitischen Narrative der beiden großen Parteien in Frage gestellt werden, die ja im Wesentlichen ähnlich sind und vor Austerität nur so strotzen. Wir haben eine Alternative dazu aufgezeigt.
Wir haben auch viel Zeit damit verbracht, sicherzustellen, dass keine Community oder Gruppe außen vor gelassen wird. So haben wir zum Beispiel mit Obdachlosenorganisationen zusammengearbeitet, um die Menschen dazu zu bringen, sich zur Wahl anzumelden, was viele auch getan haben. Wir haben außerdem Flugblätter in acht verschiedenen Sprachen erstellt, die wir in Kirchen, Moscheen, Gemeindezentren, auf der Straße, in Geschäften et cetera verteilt haben. Auch das dürfte einen großen Unterschied gemacht haben. Dabei ging es nicht nur darum, mit den Flugblättern inhaltlich Einfluss zu nehmen, sondern vor allem die Botschaft zu vermitteln, dass wir die Menschen in allen Sprachen erreichen wollen.
Wir bekamen fast 50 Prozent der Stimmen. Das war nicht nur ein einzelnes Ergebnis, sondern das Resultat vieler, vieler Jahre Arbeit meines hervorragenden Wahlkreisbüros, das sich mit Tausenden von individuellen Problemen der Menschen in Bezug auf das Department of Work and Pensions, bei Wohnungsfragen, beim Flüchtlings- und Einwanderungsstatus, bei der Stadtplanung, bei Polizei und Kriminalitätsbekämpfung und bei Jugendfragen beschäftigt hat.
Und es lag an einer selbstbewussten, empowerten Lokalgemeinde: Wir hatten – allerdings schon vor einigen Jahren – erfolgreich verhindert, dass das Whittington Hospital seine Notaufnahme verliert, was letztlich die Schließung als Krankenhaus zur Folge gehabt hätte. Außerdem erinnerte ich im Wahlkampf daran, dass wir eine wichtige Kampagne zur Verhinderung großer Straßenbaumaßnahmen in der Gemeinde geführt haben, ebenso wie Kampagnen für mehr Parks und Freiflächen. Unser Wahlergebnis geht also auf eine Tradition der kommunalen Selbstbestimmung zurück. Ich denke, daraus kann man eine Menge mitnehmen und lernen.
Das Letzte, was ich noch ansprechen möchte, ist, dass ich bereits zehn Mal für die Labour Party für das britische Parlament kandidiert habe und davor drei Mal für den Stadtrat. Nun war es aber ein ganz anderer Wahlkampf, denn ich konnte nicht einfach an die Haustür gehen und sagen: »Hallo, ich bin der Kandidat der Labour Party« – worauf die Leute sagen würden: »Okay«, und dann für mich stimmen oder eben nicht. Wir mussten an jeder Türschwelle erklären, warum ich jetzt als unabhängiger Kandidat antrete und was meine eigene Politik ist. Das bedeutete, dass die Gespräche länger und intensiver waren, aber auch, dass unsere Unterstützung sehr konkret war. Nach der Wahl werden wir nun jeden Monat ein lokales Bürgerforum veranstalten. [Wir konzentrieren uns] auf meine Rechenschaftspflicht als unabhängiger Abgeordneter und auf die Stärkung von lokalen Gemeinde-Initiativen.
Bis vor Kurzem warst Du selbst Teil der Labour-Fraktion im Parlament. Du bist in den 1960er Jahren Mitglied der Partei geworden und wurdest 1983 Fraktionsmitglied. Ein wichtiger Einfluss auf Deine politische und intellektuelle Bildung – beispielsweise bei den Treffen der Independent Left Corresponding Society (ILCS) in den 1980er Jahren, die Du als Deine »Universitätsausbildung« bezeichnest – war neben Tony Benn auch Ralph Miliband. Du hast Miliband in den Medien gegen posthume Schmähungen verteidigt. Miliband hatte eine skeptische (und zeitweise pessimistische) Haltung in Bezug auf das Potenzial von Labour, ein wirklich tragfähiges Vehikel für sozialistische Veränderungen zu sein.
Mit Deiner langen persönlichen Erfahrung in der Labour Party kannst Du vielleicht besser als jeder andere einschätzen, ob die Partei ein guter Weg ist, um sozialistische Politik zu verfolgen. Das ist ein sehr heikles Thema, aber jetzt, wo Du persönlich von der Parteilinie befreit bist: Wie stehst Du zu der Frage, ob die Labour Party in ihrer jetzigen Zusammensetzung für Sozialistinnen und Sozialisten in Großbritannien noch ein lohnenswertes Betätigungsfeld darstellt, in dem man sich engagieren sollte? Ist die Idee eines parlamentarischen Weges zum Sozialismus mit Labour noch lebendig, oder haben sich die Hindernisse und Widerstände innerhalb der Partei als unüberwindbar erwiesen?
Ralph [Miliband] war tatsächlich etwas mehr als nur skeptisch – er war zu einigen Zeitpunkten geradezu verbittert über Labour. Die Diskussionen, die wir bei den ILCS-Treffen in den 1980er Jahren führten, waren sehr interessant: Unter anderem waren Tony Benn, Ralph Miliband und auch Hilary Wainwright dabei. Auch Tariq Ali war oft zugegen, ebenso wie Jim Mortimer, der Generalsekretär der Labour Party, der aber ursprünglich aus einer eher kommunistischen Tradition kam. Tony hatte seine Basis in einem komplizierten linksliberal-christlich-sozialistischen Ideal, Hilary kam aus der libertär-kommunistischen Linken. Tariq Ali hatte eine eher revolutionäre Perspektive.
Einige der Diskussionen waren daher ziemlich langatmig und umfangreich. Aber was für wunderbare Menschen sie alle waren, was für wunderbare Ideen sie hatten! Es war allerdings alles sehr informell – und ich glaube, das war ein Fehler. Wir hätten das alles aufzeichnen und ein Buch daraus machen sollen. Denn die Treffen waren faszinierend.
Damals, direkt nach dem Bergarbeiterstreik 1984/85, wurde darüber diskutiert, was Sozialisten in Großbritannien tun müssten. Schließlich hatte die Arbeiterbewegung bei dem Streik eine massive Niederlage erlitten. Tony war der festen Überzeugung, dass die Labour Party immer noch ein Vehikel für sozialistische Veränderungen sein könnte. Deshalb attackierte er 1988 die Führung von Neil Kinnock, wenn auch erfolglos.
Im Nachhinein sprach Tony oft darüber, wie frustriert er von Labour während der Tony Blair-Jahre war. Er sagte einmal eher scherzhaft zu mir: »Genosse, denkst du, wir sollten aus der Labour Party austreten und etwas anderes gründen?« Ich fragte: »Meinst du das ernst?« Und er antwortete: »Ich weiß nicht; vielleicht auch nicht. Ich habe so ein schreckliches Gefühl, wenn ich an einen Gründungsparteitag denke und daran, wie es sein würde, wenn alle um Posten und Positionen wetteifern und tausende Punkte zur Ordnung und zum Verfahren besprochen werden müssen.« Er verwies immer wieder auf das Beispiel der Independent Labour Party (ILP) Anfang des 20. Jahrhunderts und was daraus geworden war. Insgesamt kann man sagen, dass Tony Benn sehr am Kampf innerhalb der Labour Party interessiert war.
Allerdings stellst Du die Frage so, als ginge es um eine Art Entweder-Oder. Aber weder Tony Benn noch ich haben es jemals als ein Entweder-Oder gesehen. Du hast sicherlich von seinem Wahlkampf als stellvertretender Parteivorsitzender im Jahr 1981 gelesen. Das war das erste Mal, dass jemand einen echten Wahlkampf innerhalb der Labour Party führte, indem er ihn nach außen, aus der Labour-Fraktion im Parlament heraus, getragen hat. Alle anderen Wahlen waren entweder Wahlen für den Landesvorstand, die eindeutig von den Parteigruppen und Gewerkschaften in den jeweiligen Wahlkreisen beeinflusst wurden, oder Wahlen zum Parteivorsitz, die ausschließlich der Parlamentsfraktion vorbehalten waren.
Als Tony 1981 für das Amt des stellvertretenden Parteivorsitzenden kandidierte, wurde somit eine Art neues Wahlsystem in der Labour Party [also die Einbeziehung einer breiteren Wählerschaft, nicht nur der Abgeordneten] ausgetestet. Das bedeutete, dass der Wahlkampf nach draußen ging: Tony veranstaltete im ganzen Land Kundgebungen und Massenversammlungen, an denen ich oft teilnahm. Ich habe sogar einige von ihnen organisiert und war ein wichtiges Bindeglied dieser Kampagne. Tony versuchte, einen genuin populären Wahlkampf beim Wahlvolk für eine parteiinterne Wahl zu führen. Das haben wir viele Jahre später erneut bei der Wahl zur Labour-Führung 2015 nachgeahmt.
»Ich denke, um eine sozialistische Gesellschaft zu erreichen, muss man auch für Mandate kämpfen. Gleichzeitig muss man einen volksnahen Wahlkampf führen, damit die Menschen verstehen, wie man diesen Wandel herbeiführen will.«
Keiner von uns beiden hat das Parlament je als alleiniges Forum für unsere Politik gesehen. 1991 brachte Tony im House of Commons seine Commonwealth of Britain Bill ein (die von mir unterstützt wurde). Dabei ging es um die Demokratisierung des Vereinigten Königreichs – das in vielerlei Hinsicht eine äußerst eingeschränkte Demokratie ist, siehe das House of Lords, die Sonderrechte des Königs, das Wahlsystem und die enorm weitgehenden Befugnisse des Premierministers.
Ich denke, um eine sozialistische Gesellschaft zu erreichen, muss man auch für Mandate kämpfen. Damit zeigt man, wie stark die Unterstützung für die eigenen Positionen ist. Gleichzeitig muss man einen populären, volksnahen Wahlkampf führen, damit die Menschen verstehen, wie man den sozialistischen Wandel herbeiführen will. Ich erinnere mich an die vorherige Parlamentswahl im Dezember 2019. Ich sprach etwas später bei einer Protestkundgebung in Manchester bei grässlichem Wetter. Jemand sagte zu mir: »Ich wünschte, du hättest die Wahl gewonnen.« Ich sagte: »Ich auch, aber warum sagst du das gerade hier und jetzt?« Die Person antwortete: »Dann müssten wir nicht hier draußen in der Kälte und im Regen stehen und den NHS [National Health Service] verteidigen. Denn der wäre schon gerettet.«
Ich sagte: »Stimmt schon, dann müsstet ihr nicht für den NHS kämpfen. Aber ihr müsstet trotzdem hier draußen sein, um die Regierung und ihre Ziele zu verteidigen. Du würdest zum ersten Mal in deinem Leben auf eine Demo gehen, um eine Regierung zu unterstützen. Denn wir müssten sicherlich harte Schlachten gegen das Finanz-, Polit- und Militär-Establishment schlagen, um die von uns geforderten Veränderungen wirklich durchzusetzen.«
Ich denke, dass die Frage nach der Partei und nach Posten keine binäre Entweder-Oder-Frage ist. Man setzt sich dafür ein, Mandate und gewisse Positionen zu erkämpfen, um dann von dort zu versuchen, Veränderungen zu erreichen. Und wenn dabei Steine in den Weg gelegt werden, muss man die Menschen mobilisieren, um diese Widerstände zu überwinden.
Am Wahltag traf meine Wahlkampfgruppe zufällig auf einige Aktivistinnen und Aktivisten, die bei französischen Menschen in London für die Nouveau Front Populaire (NFP) warben. Das war ein schöner, internationalistischer Moment. Kurz nach dem positiven Wahlausgang in Islington North kamen dann tatsächlich die guten Nachrichten von den französischen Wahlen: Die NFP – und mit ihr die linke La France Insoumise von Jean-Luc Mélenchon – hatte sehr gut abgeschnitten.
Wie schätzt Du die jüngsten Entwicklungen in Frankreich ein? Du selbst hast Mélenchon ja ein paar Mal getroffen, darunter kürzlich beim Internationalen Gerichtshof, wo die südafrikanische Klage gegen Israel verhandelt wurde. Willst Du diese internationale Beziehung weiter kultivieren und intensivieren?
Dieses Ergebnis der vereinigten Linken in Frankreich war wirklich überragend, eine ganz besondere Sache. Aber um es mit Shakespeare zu sagen: »Verwundet ward die Schlange, nicht getötet.«
Der Rassemblement National, die rechtsradikale Partei von Marine Le Pen, ist nach wie vor eine sehr starke Kraft in der französischen Nationalversammlung und in der französischen Gesellschaft. Der endemische Rassismus im ganzen Land hat ihr eine starke Position verschafft. Immerhin konnte verhindert werden, dass die Rechten die neue Regierung Frankreichs stellen, aber der RN hat seine grundsätzliche Stärke bewiesen – und das gilt es weiterhin zu bekämpfen.
»Der Widerstand gegen die Rechte muss gestärkt werden. Antirassistische Kampagnen müssen ein fester Bestandteil des großen Ganzen sein.«
Deshalb begrüße ich den Erfolg von Jean-Luc Mélenchon und allen Gruppen der Linken in Frankreich und werde mit ihnen zusammenarbeiten. Die Ergebnisse der Europawahlen sind ohnehin interessant: In Belgien und Finnland hat die Linke sehr gut abgeschnitten, in anderen Ländern hingegen deutlich weniger gut. Ich denke, wir müssen daraus die Lehre ziehen, dass wir die Menschen über die Themen Löhne, Lebensstandard und Arbeitsbedingungen mobilisieren müssen, um den vorherrschenden, toxischen Diskurs zu durchbrechen. In letzterem werden Migrantinnen und Geflüchtete für sinkende Lebensstandards und -bedingungen verantwortlich gemacht; das propagiert die Rechte in Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und anderswo. Dieses Hetzen gegen Asylsuchende ist in so vielen Fällen absolut unsäglich; und in Frankreich ist es mindestens genauso schlimm, wenn nicht sogar noch schlimmer als bei uns im UK.
Der Widerstand gegen die rassistische Rechte muss gestärkt und effektiver gestaltet werden. Antirassistische Kampagnen dürfen nicht als etwas betrachtet werden, das von unseren anderen Aktivitäten getrennt geschieht. Sie müssen ein fester Bestandteil des Großen und Ganzen sein. Das bedeutet auch, dass wir einzelne Communities zusammenbringen und gemeinsam arbeiten müssen. Das hat man bei unserem Wahlkampf in Islington North gesehen: Das Gefühl, dass alle Communities zusammenkommen und an einem Strang ziehen, hat uns den Sieg beschert. Dieser Sieg ist nicht das Ergebnis eines vierwöchigen Wahlkampfes. Er ist das Ergebnis von vierzig Jahren Arbeit, in denen wir versucht haben, die Menschen zusammenzubringen und ihnen zu sagen: »Im Grunde habt ihr alle dieselben Interessen: Wohnen, Gesundheit, Bildung.«
Wie würdest Du im weiteren Sinne, über Europa hinaus, die internationale Linke aktuell einschätzen? Ich meine, Du wolltest demnächst nach Mexiko reisen, um bei der Amtseinführung von Claudia Sheinbaum dabei zu sein, richtig?
Genau, ich werde nach Mexiko reisen. Ich glaube, dass Claudia Sheinbaum eine sehr gute Präsidentin sein wird. Sie ist unglaublich gut vorbereitet, sehr intelligent, sehr analytisch und sehr entschlossen. Ich habe viel Respekt für sie. Gleiches gilt auch für meinen guten Freund AMLO, den sie beerbt.
Ich habe außerdem diverse linke Kampagnen in Lateinamerika unterstützt: in Bolivien, Kolumbien, Brasilien, Chile und anderswo. Der jüngste Coup-Versuch gegen die Regierung in Bolivien ist ein Zeichen dafür, dass die vereinten Kräfte der Finanz-, Bergbau- und Militärinteressen nicht verschwunden sind und eine Bedrohung für jede progressive Regierung in Lateinamerika, ja überall auf der Welt darstellen. Deswegen ist die Progressive Internationale sehr wichtig.
Am 17. September wird das Peace & Justice Project unsere zweite internationale Konferenz in London veranstalten. Dabei kommen internationale Lohn-, Umwelt-, Flüchtlings-, Menschenrechts- und Friedensinitiativen zusammen. Ziel ist es, Arbeiter- und Solidaritätsorganisationen unter dem Dach der Progressiven Internationale zu vereinen. Meiner Meinung nach ist internationale Solidarität sehr wichtig und ihre Bedeutung nimmt sogar noch zu.
Zurzeit toben überall auf der Welt große Kriege: in der Ukraine, im Sudan, im Jemen, im Kongo, in Palästina und anderswo. Sie alle haben Tausende von Menschenleben gekostet. Die Rüstungsindustrie hat in all diesen Kriegen Unmengen an Geld verdient und übt weiterhin enormen Druck für eine bellizistische Politik aus. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es mehr Internationalismus für Frieden als heute. Von den großen Friedensbewegungen vor 1914 – mit Führungspersonen wie Jean Jaurès, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Keir Hardie, die sich in ganz Europa zusammenschlossen, um den Ersten Weltkrieg zu verhindern beziehungsweise ihn dann zu beenden – müssen wir lernen. Wir müssen dieses Gefühl eines Internationalismus für den Frieden wieder kultivieren.
Angesichts der Schrecken in Gaza, die in jeder Hinsicht abscheulich und widerwärtig sind, ist eine einfache Botschaft international angekommen: Es muss einen Waffenstillstand geben, der durch ein Ende der Waffenlieferungen an Israel erreicht werden kann. Ich bin optimistisch, dass all die Menschen, die für Unterstützung für Gaza protestiert und demonstriert haben, als amorphe, aber dennoch geeinte Stimme für den Frieden und für soziale Gerechtigkeit zusammenbleiben werden.
Die Wahl von mir selbst und von vier weiteren Unabhängigen, und insbesondere von Kandidaten wie Leanne Mohamad und Andrew Feinstein, die einen sehr starken Wahlkampf geführt haben, zeigt, dass es eine populäre Kraft in unserer Gesellschaft gibt, die noch weiter wachsen kann. Der Xenophobie und dem Hass, die während des Wahlkampfs geschürt wurden, muss entgegengewirkt werden, und unsere starke Bewegung wird dies tun.
Kommen wir von der globalen zurück auf die persönliche Ebene: Freust Du Dich auf die neue Freiheit, die Du als parteiloser Abgeordneter nun haben wirst? Wie willst Du im Parlament mit anderen progressiven Abgeordneten zusammenarbeiten: mit den Unabhängigen, den Grünen und den progressiven Elementen in anderen Parteien, einschließlich Deiner ehemaligen Kolleginnen und Kollegen von der Labour Party?
Ich hatte ja oftmals ein recht angespanntes Verhältnis zur Labour-Führungsriege. Ich denke, dass unser parlamentarisches System in vielerlei Hinsicht verbessert werden muss. Die neue Labour-Regierung hat eine große Parlamentsmehrheit. Sie könnte diese Mehrheit nutzen, um die Begrenzung des Kindergeldes auf zwei Kinder abzuschaffen, um den Waspi-Frauen [Opfer einer Änderung beim Rentenalter] Gerechtigkeit zu verschaffen, um Sozialwohnungen zu bauen... Es gibt eine ganze Reihe von Dingen, die sie tun könnten, ohne dafür die wirtschaftliche Grundlage unserer Gesellschaft fundamental verändern zu müssen. Mir scheint es aber, als hätten sie sich von Anfang an absichtlich selbst in eine finanzpolitische Zwangsjacke gesteckt.
Ich werde mich im Parlament für Frieden und für die Themen Wohnen und soziale Gerechtigkeit einsetzen, so wie ich es immer getan habe. Wenn ich das alleine tun würde, wäre das natürlich nur eine einzige Stimme. Man muss also Allianzen aufbauen. Ich habe mich bereits mit den anderen vier Unabhängigen getroffen. Ich habe auch Gespräche mit den Führern der Scottish National Party (SNP) und Plaid Cymru geführt, die ich sehr gut kenne. Einige der neuen grünen Abgeordneten kenne ich besser als andere, aber natürlich werde ich mich bemühen, auch zu letzteren Beziehungen aufzubauen. Solche Allianzen müssen auch mit Leuten in der Labour Party aufgebaut werden, die trotz allem sehr ähnliche Ansichten haben wie ich.
Es wird also eine ganze Menge zu tun geben. Doch das Wichtigste muss außerhalb des Parlaments geschehen und gefordert werden: in Bezug auf Gaza, auf den Wohnungsbau, auf die Umwelt, auf all die brennenden Fragen, denen sich die Menschen gegenübersehen.
Labour hat eine deutliche Mehrheit der Parlamentssitze gewonnen, allerdings mit dem niedrigsten Stimmenanteil einer Regierungspartei jemals – nur 33 Prozent. Das ist deutlich weniger, als Labour unter meiner Führung 2017 erreicht hat; und es sind auch weniger Stimmen als 2019 erreicht wurden. Es ist also eine sehr prekäre Situation, auch wenn dies durch die riesige parlamentarische Mehrheit kaschiert wird.
Ich denke, dass besonnene Menschen in der Labour Party darüber nachdenken sollten. Ein radikaleres Angebot könnte deutlich mehr Unterstützung und viel mehr Vertrauen bei den ärmsten Wählergruppen in diesem Land gewinnen. Wenn die neue Regierung nichts gegen die Armut in den Innenstädten, die Kinderarmut, die Verschuldung der Studierenden, die niedrigen Löhne und vor allem gegen die Wohnungskrise unternimmt (was übrigens bedeutet, dass man Sozialwohnungen bauen muss, nicht nur private Luxuswohnungen), dann wird die Bevölkerung gegenüber Labour in ein paar Jahren enttäuscht und unversöhnlich sein.
Unser Wahlkampf fand verstärkt im Freien und unter betont inklusiven Bedingungen statt. Wir hatten acht oder neun Kundgebungen unter freiem Himmel, die mit einer großen Kundgebung am Vorabend des Wahltages auf den Highbury Fields endeten. Ende Juli werden wir das erste unserer bereits erwähnten, monatlich stattfindenden Bürgerforen im Wahlkreis abhalten, um über die neuesten Entwicklungen zu berichten. Dabei werde ich über die Themen informieren, die im Parlament zur Sprache gekommen sind, und darüber, was ich diesbezüglich tue. Bei der ersten Versammlung wird es einen Schwerpunkt auf dem Thema Wohnungsbau geben.
Das wird eine andere, neue Form der Politik: Sie ist inklusiv, volksnah und offen. Diese Aktionen wird man auch im Rest des Landes kopieren; da bin ich sehr zuversichtlich. Habt also ein Auge darauf – es wird sicherlich großartig!