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06. August 2025

Corbyns neue Partei könnte zum Desaster für Labour werden

Die angekündigte Parteigründung von Jeremy Corbyn und Zarah Sultana macht deutlich: Gaza ist zur zentralen Konfliktlinie der britischen Politik geworden. Die Labour Party schafft es nicht mehr, die Linke zum Schweigen zu bringen.

Jeremy Corbyn auf einer pro-palästinensischen Demonstration in London, 11. September 2024.

Jeremy Corbyn auf einer pro-palästinensischen Demonstration in London, 11. September 2024.

IMAGO / NurPhoto

In der vergangenen Woche hat der britische Premierminister Keir Starmer angekündigt, das Vereinigte Königreich werde im September einen palästinensischen Staat anerkennen, sofern Israel bis dahin keiner Waffenruhe zustimmt. Starmer legte dabei eine besondere Arroganz an den Tag, indem er erklärte, die Ex-Kolonialmacht könnte unter gewissen Umständen das Selbstbestimmungsrecht des palästinensischen Volkes anerkennen. Darüber hinaus ist seine Ankündigung vage: Während London Israel weiterhin mit Waffenlieferungen bei der Zerstörung des Gazastreifens unterstützt, vermied Starmer jegliche Aussage darüber, wie ein palästinensischer Staat entstehen soll oder wo seine rechtmäßigen Grenzen verlaufen würden. Insgesamt kann man von einem PR-Stunt sprechen, der lediglich dazu dient, sich halbherzig von Israel zu distanzieren. Das ist in seinem Zynismus atemberaubend.

Während gewisse rechte Medien über Starmer spotteten, er sei unter der Kritik einzelner Labour-Abgeordneter eingeknickt, deuten seine Äußerungen kaum auf einen Sinneswandel hin: Er entschuldigte sich nicht für die Rolle seiner Regierung bei der Bewaffnung Israels; er versäumte es, die kriminellen Handlungen der israelischen Regierung zu kritisieren; und er baute stattdessen auf nichtssagende Phrasen wie »katastrophales Versagen bei Hilfslieferungen«.

In ihrem ersten Regierungsjahr hat die Labour Party unter Starmer die Wut über die Verbrechen Israels in der britischen Bevölkerung eindeutig unterschätzt. Unter dem Druck der propalästinensischen Bewegung (und einer verspäteten Empörungswelle in den Medien) ändert sie nun opportunistisch ihren Ton. Doch nur wenige dürften Starmer seine vorherige Haltung verzeihen.

Gaza und die britische Politik

Gaza wird mit Sicherheit Auswirkungen auf die britische Politik haben. Man fühlt sich an die illegale Invasion des Irak im Jahr 2003 erinnert. Tony Blairs unerschütterliches Seite-an-Seite mit George W. Bush stand ebenfalls für eine unehrliche Regierung, die ihre Kritiker verteufelte, bis sie letztendlich ein halbgares Eingeständnis offizieller »Fehler« machen musste. Doch selbst dieses damalige Blutbad hatte wenig Auswirkungen auf die Parteipolitik; alternative linke Kräfte erzielten nur vereinzelte lokale Erfolge. Dennoch wurde damals das Vertrauen in New Labour zutiefst untergraben. Die Erben der Antikriegsbewegung spielten eine entscheidende Rolle dabei, Jeremy Corbyn 2015 an die Spitze der Labour Party zu bringen.

Gaza dürfte weitaus unmittelbarere Auswirkungen haben: Die Wählerinnen und Wähler sind heute weniger parteitreu als noch 2003 – und Starmer hatte nie wirklich starke Zustimmungswerte. Zwar konnte Labour bei den Wahlen im Juli 2024 eine deutliche Mehrheit im Parlament gegenüber den diskreditierten Tories erringen (411 von 650 Sitzen im Unterhaus). Das Gesamtergebnis war trotzdem enttäuschend: So holte Labour nur 33,7 Prozent der Stimmen – bei einer niedrigen Wahlbeteiligung von unter 60 Prozent. Im Laufe des vergangenen Jahres sind die Umfragewerte weiter gesunken. Nun dürfte die Ankündigung von Jeremy Corbyn und Zarah Sultana, eine neue linke Partei gründen zu wollen, die Unterstützung für Labour weiter schwächen. Der starrköpfige Autoritarismus der Regierung Starmer – sei es in Migrationsfragen, bei Erwerbsunfähigkeitsleistungen oder im Umgang mit aufmüpfigen Abgeordneten aus den eigenen Reihen – hat zu einer organisierten Gegenbewegung geführt.

Eine neue Partei

Details über die neue Partei sind noch spärlich gesät. Online wurde sie als »Your Party« angekündigt; der endgültige Name soll in einem noch nicht näher definierten demokratischen Prozess festgelegt werden. Innerhalb weniger Tage haben sich 600.000 Menschen für den E-Mail-Verteiler angemeldet. Diese sind freilich noch keine Mitglieder, aber das große Interesse steht den Versuchen selbsternannter »vernünftiger Zentristen« entgegen, die Partei lächerlich zu machen: Tatsächlich zeigen die Zahlen, dass sehr viele Menschen (tatsächlich mehr als die Mitgliederzahlen von Labour) eine solche Partei für notwendig halten. Sie erscheint nicht wie eine Wiederholung früherer »radikal linker Parteiprojekte«, die auf kleinen revolutionären Gruppen basierten. Vielmehr baut sie auf eine große und breite Basis aus Menschen, die sich offenbar als potenzielle Aktivisten verstehen.

Alle politischen Parteien sind Zusammenschlüsse auf Basis gewisser sozialer Interessen und Ideen. Die Gruppe aus Abgeordneten, die mit der neuen Partei in Verbindung steht, ist zwar weitgehend linksgerichtet, aber vor allem durch das Thema Gaza vereint. Mit Fokus auf dieses Thema konnten im Juli 2024 fünf unabhängige Kandidatinnen und Kandidaten Wahlkreise erobern, was angesichts der Natur des britischen Wahlsystems eine ungewöhnlich hohe Zahl ist. Palästina ist darüber hinaus sicherlich kein reines »Einzelthema«: Es geht ebenso um die Wahrnehmung von Millionen Menschen hinsichtlich der Rolle Großbritanniens in der Welt, der Grenzen der politischen Diskussion – und auch um die polizeilichen Ansätze und Überwachung von Muslimen. Derweil hätte die neue Partei kaum so schnell so bekannt werden können ohne Jeremy Corbyn, dessen Bekanntheitsgrad zu den höchsten aller britischen Politiker zählt. Nur eine Minderheit der britischen Bevölkerung mag ihn und seine Politik, aber zumindest wissen die meisten Menschen, wofür er steht.

Dennoch bleiben grundlegende Fragen offen, was die Partei bezwecken und wie sie vorgehen soll. In vielen Online-Debatten werden potenzielle Wahlbündnisse mit den Grünen nahegelegt, deren möglicher nächster Vorsitzender der progressive Zack Polanski ist. Aber wäre die neue Partei gewillt, nach den nächsten Parlamentswahlen die britische Regierung zu führen? Will sie Labour »ersetzen«, so etwas wie eine gewerkschaftsbasierte Partei mit einem besseren Programm werden? Oder will man sich möglicherweise als ewige Oppositionspartei positionieren, die sich lokal eine Basis aufbaut, mit der die Arbeiterklasse vor Ort gestärkt und die Politik aus Westminster heraus verlagert wird? Ohne eine Einigung über die längerfristige Agenda – also eine nach außen dargestellte massentaugliche Ausrichtung – besteht die Gefahr, dass die heutigen Anhänger sich aufgrund unterschiedlicher Standpunkte zu diversen Themen wieder spalten.

Es braucht andere Ansätze

Als Corbyn noch Vorsitzender von Labour war, mag er eine bessere Politik als seine Vorgänger betrieben haben, aber die Partei konnte ihre Macht nie über Westminster hinaus tragen und verfestigen. Ihr Versäumnis, stärker verwurzelte Strukturen zu schaffen, und ihre Angst vor potenziell konfliktreicher Politik bei Fragen von großer Reichweite – beispielsweise in der hitzigen Brexit-Diskussion – führten dazu, dass sie ständig von Medienangriffen aus der Bahn geworfen wurde und lediglich versuchte, sich diesen anzupassen. Während das britische Parlament in den vergangenen Jahrzehnten immer mehr von Fachleuten dominiert wurde, verkümmerten die lokalen Strukturen der Arbeiterbewegung. Auch dem »Corbynismus« von 2015 bis 2020 gelang es nicht, dieses Ungleichgewicht zu verändern. Nun mag eingewandt werden, dass Corbyn an der Spitze einer ihm größtenteils feindlich gesinnten Labour-Parteimaschinerie stand – doch dies hätte vielmehr ein Aufruf zum Umdenken sein müssen als nur ein Alibi.

Viele Zweifel an der neuen Partei beziehen sich auf ihre noch undurchsichtigen Prozesse: Wer entscheidet, wie es weitergeht? Sicherlich soll keine Labour-ähnliche Struktur geschaffen werden, die von bürokratischen Manövrierern mit glattgebügelter Polit-Rhetorik dominiert ist. Doch nicht alles aus der Geschichte der Labour-Partei sollte über Bord geworfen werden: Ihre Wurzeln in den Gewerkschaften, so verkümmert sie heute auch sein mögen, sorgen für eine verbleibende aktivistische Basis, die für ein breites Spektrum der Arbeiterklasse steht, nicht nur für den linken Flügel. Labour hat viele dieser Verbindungen zu Pflegepersonal oder Ex-Bergarbeitern in ihren Gemeinden auf dem Land verloren. Eine Partei mit einem progressiven Image wie die Grünen dürfte diese Verbindungen kaum wiederherstellen können. Doch genau diese Massenbasis ist das, was eine Partei, die sich an der gesellschaftlichen Mehrheit orientieren will, unbedingt braucht.

Können derartige Verbindungen neu geschaffen werden, oder besser, in einer Weise, die besser zu diesem Jahrhundert passt als zum letzten? Ein Ansatz besteht darin, Institutionen wie Vereine oder Beratungszentren aufzubauen, die nicht auf eng gefasste Wählerinteressen oder wahlpolitische Kampagnen ausgerichtet sind. Der Gedanke dahinter: Wer kollektiven Wandel will, wird es sicherlich schwer haben, seine Ideen in einer atomisierten Gesellschaft allein mit den »richtigen« Botschaften im Fernsehen oder auf Social Media zu »verkaufen«. Die neue Partei sollte darüber hinaus in Erwägung ziehen, ihre öffentlich sichtbaren Gesichter zu diversifizieren, auch in Bezug auf Klassen- und Bildungshintergrund. Sie könnte sich als eine Partei präsentieren, die ausnahmsweise nicht von Politikwissenschaftlern, NGO-Mitarbeiterinnen oder Selbstdarstellern geführt wird, sondern auch von Leuten mit Stimmen, die derzeit in der Politik kaum zu vernehmen sind.

Labour auf dem absteigenden Ast

Aktuelle Umfragen deuten darauf hin, dass die rechte Partei Reform UK trotz ihrer chaotischen internen Zustände eine reale Chance hat, die nächsten Parlamentswahlen zu gewinnen. Ihr Vorsitzender Nigel Farage verfügt über eine charismatische Autorität, die ihn zum Sprachrohr macht, der Missstände anspricht. Corbyn, Sultana oder andere linke Persönlichkeiten wären in dieser Form dazu nicht in der Lage – und das nicht nur aufgrund ihrer eigenen Unzulänglichkeiten. Denn sozialistischer Wandel bedeutet vielmehr eine grundlegende Veränderung der Machtverhältnisse in der Gesellschaft: Er beruht auf der Mobilisierung der Menschen durch moralische Empörung, aber auch auf der entschlossenen Verteidigung ihrer eigenen Interessen. Linke Parteien brauchen einen aktivistischen Kern. Dieser mag heute eher bei den besser gebildeten sowie von sozialem Abstieg bedrohten Menschen zu finden sein, aber das allein kann nicht ausreichen.

Angesichts einer Labour Party unter einem einfältigen imperialen Bürokraten wie Starmer bietet sich für eine linke Partei die Chance, in kürzester Zeit zehn oder gar 15 Prozent der Wählerschaft hinter sich zu versammeln. Dies würde insbesondere Labour Stimmen kosten – und Starmer dürfte sich nicht beschweren. Verzweifelte Versuche, vor Farage zu warnen und eine Einheitsfront zu beschwören, sind ebenso zynische Manöver wie die verspätete »Anerkennung« Palästinas. Noch vor zwei Jahren hatte Starmer seinen parteiinternen Kritikern gesagt: »Wenn euch unsere Veränderungen nicht gefallen, könnt ihr gehen.« Viele tun dies nun.

Die Labour Party wird nicht ewig bestehen, und Starmer bringt sie stetig näher an die früheren Erfahrungen sozialdemokratischer Parteien in Frankreich oder Italien heran. Ungewiss bleibt, ob eine neue Partei auf den Trümmern von Labour etwas Stärkeres aufbauen kann.

David Broder ist Europa-Redakteur von JACOBIN und Autor von Mussolini’s Grandchildren: Fascism in Contemporary Italy (Pluto Press, 2023).