03. August 2024
Die deutsche Bundesregierung hat den Völkermord an den Jesidinnen und Jesiden im Jahr 2023 offiziell anerkannt. Nur wenige Monate später beginnt sie, Betroffene wieder in den Irak abzuschieben. Dabei wirkt der 3. August 2014 dort immer noch nach.
Eine Gruppe jesidischer Kurden, die vor dem Islamischen Staat fliehen, überqueren zu Fuß die Berge Nordkurdistans, 21. August 2014.
Weiße Zeltstädte säumen nahe der nordirakischen Stadt Dohuk den Horizont. Seit zehn Jahren wohnen Menschen hier in provisorischen Unterkünften. Im Sommer ist es zu heiß, im Winter zu kalt. Die Hygieneverhältnisse sind problematisch, medizinische Versorgung für die teils schwer traumatisierten Bewohnenden quasi nicht vorhanden. Etwa 30 dieser Camps für geflohene Jesidinnen und Jesiden gibt es im nordirakischen Kurdistan.
Dieser eine Tag, genau vor zehn Jahren, hat das Leben Hunderttausender Menschen bis heute verändert. Am Morgen des 3. August 2014 ist der sogenannte Islamische Staat (IS) in das Hauptsiedlungsgebiet der Jesidinnen und Jesiden Shingal im Nordirak eingefallen. Der IS hat bis zu 10.000 jesidische Männer getötet und etwa 7.000 Frauen entführt und dann systematisch über Jahre vergewaltigt und versklavt. Etwa 400.000 Jesidinnen und Jesiden mussten ihre Heimat verlassen.
Viele von ihnen sind nach Deutschland geflüchtet. Doch trotz der Anerkennung des Völkermords schiebt die Bundesregierung seit 2023 Jesidinnen und Jesiden wieder in das Land ab, in dem ihnen Schreckliches widerfahren ist. In das Land, in dem die Täter noch immer frei herumlaufen.
Eine, die diesen Tag hautnah erlebt hat, ist Berfin Hezil. Sie ist Jesidin, kam als junges Mädchen mit ihrer Familie nach Deutschland und wurde Journalistin beim kurdischen Fernsehen. 2012 entschied sich Berfin Hezil dazu, am Aufbau der kurdischen Selbstverwaltung Rojava mitzuarbeiten. Sie hat junge Journalistinnen ausgebildet. »Es war dieses Gefühl, dass ich etwas Bedeutungsvolles machen wollte. Ich wollte nah dabei sein, als die Kurdinnen und Kurden in Rojava ihre eigene Gesellschaft aufbauten«, Berfin Hezil war damals 31 Jahre alt. Doch nur zwei Jahre nach ihrer Ankunft in Nordsyrien kamen die Angriffe des IS näher. Anfang Juni 2014 hatte der IS die irakische Stadt Mossul erobert. Die liegt nur rund 100 km östlich von Shingal.
In Shingal lebten mehrere Hunderttausend Jesidinnen und Jesiden. Die Wurzeln ihrer Religion sollen bis zu 4.000 Jahre zurückreichen. Nur wer jesidische Eltern hat, ist jesidisch. Niemand kann bekehrt werden. Neben dem Hauptsiedlungsgebiet Shingal lebten sie bis 2014 vor allem in den restlichen südwestasiatischen Gebieten. Vor allem von Muslimen wurden Jesiden seit Jahrhunderten als Teufelsanbetende diffamiert, oft deshalb verfolgt und auch ermordet.
Als der IS Mossul eingenommen hat, kamen die Terroristen an modernste Waffen des irakischen Militärs. Sie schien unaufhaltbar auf dem Vormarsch. Berfin Hezil war sich sicher, dass bald etwas Schreckliches passieren würde. Sie hatte so eine Vorahnung. Alle zwei Wochen ist sie von Nordsyrien in den Irak gefahren und gab Menschen in Shingal ihre Telefonnummer. Sie sollten sich bei ihr melden, sobald sich die Situation weiter zuschärfe.
Der Anruf kam am 3. August um 3:00 Uhr nachts. »Mein Telefon lag nachts immer direkt neben meinem Kopf«, erzählt sie. »Im Kriegsgebiet ziehst du keinen Schlafanzug an, da bist du immer bereit.« Der Anrufer sagt nur: Shingal ist gestürzt, der IS ist hier eingefallen. Berfin Hezil weckt ihren Kameramann. Sie rufen ein Taxi und fahren direkt los. Um 8:00 Uhr morgens kommen sie in Rabia, einer Stadt in der Region Shingal an. Menschenmassen kommen ihnen entgegen. Sie wollen alle raus. Raus aus Shingal. Raus aus der Falle der Terroristen. Berfin Hezil geht auf die Menschen zu, bittet sie um Interviews. »Ich habe gefragt, was passiert ist und sie meinten, der IS sei gekommen und die Peshmerga habe sie verlassen«, erinnert sich Berfin Hezil.
»Als der IS am 3. August 2014 in Shingal einfiel, war die Bevölkerung unbewaffnet. Innerhalb kürzester Zeit errichtete der IS provisorische Checkpoints. Große Teile der jesidischen Bevölkerung saßen dadurch in der Falle.«
Die Peshmerga ist die bewaffnete Miliz der konservativen Regierungspartei KDP in der nordirakischen Autonomie Kurdistan. Seit 2003, seit dem Einmarsch der USA in den Irak gibt es diese Autonomie mit der Regierungspartei KDP. An ihrer Spitze steht die Barzani-Familie. Sie regieren im Nordirak fast schon feudal. Barzani prahlte in der Vergangenheit zum Beispiel damit, dass ihm 80 Prozent der nordirakischen Wirtschaft gehöre.
Die Barzanis im Nordirak hatten vielleicht nie die Absicht, das jesidische Hauptsiedlungsgebiet Shingal gegen den IS zu verteidigen. Obwohl sie selbst kurdisch sind, vermeiden sie meist kurdische Allianzen und arbeiten dafür mit der Türkei zusammen, von dieser Beziehung profitieren sie wirtschaftlich. Aber es gab im Sommer 2014 öffentlichen Druck, Shingal gegen die Bedrohung des IS zu schützen. Besonders religiöse Minderheiten wie die jesidische oder christlich-armenische Bevölkerung würden zum Ziel der islamistischen Terroristen werden. Das war allen klar. Auch den Barzanis, die schließlich ihre Peshmerga nach Shingal schickten. Vor laufenden Kameras wurden Waffen an die Menschen in Shingal verteilt – die ihnen offenbar kurz danach wieder abgenommen wurden, wie Berfin Hezil erzählt.
Als der IS am 3. August 2014 in Shingal einfiel, war die Bevölkerung unbewaffnet. Innerhalb kürzester Zeit errichtete der IS provisorische Checkpoints. Große Teile der jesidischen Bevölkerung saßen dadurch in der Falle. Jihan Alomar war an diesem Tag gerade mal zehn Jahre alt. Sie ist in Shingal aufgewachsen. Ihre Familie hatte einen Bauernhof, dort haben sich regelmäßig all die Verwandten getroffen. »Ich hatte eine schöne Kindheit«, sagt die junge Frau. Sie erinnert sich, dass sie in der Nacht auf den 3. August gemeinsam mit ihrem engen Familienkreis zu Hause auf dem Bauernhof war. Mitten in der Nacht wurde Jihan Alomar von den lauten Bomben geweckt. Ihre Familie versammelte sich auf dem Hof, um anschließend gemeinsam in die Berge zu fliehen. Doch es war bereits zu spät. Die Terroristen halten das Auto an einer Straßensperrung an. »Der IS hat mich gemeinsam mit 30 Familienmitgliedern gefangen genommen«, erzählt Jihan Alomar. Ihre Familie wurde von den Terroristen nach Geschlechtern getrennt. Seither hat sie weder ihren Vater noch ihren Bruder gesehen.
Von Berfin Hezil sind am 3. August Bilder entstanden, die um die Welt gingen. Die Peshmerga sind in ihren Autos an ihr vorbeigefahren. Auf der Flucht vor dem IS. Also die bewaffnete Miliz, die die unbewaffnete Zivilgesellschaft von Shingal schützen hätte sollen. Berfin Hezil schrie ihnen vor laufender Kamera hinterher: »Wie könnt ihr einfach abhauen? Wie könnt ihr die Menschen allein lassen? Warum schützt ihr Shingal nicht?«
Jene Jesidinnen und Jesiden, die dem IS entkommen konnten, sind in die Berge geflohen. Die PKK-Guerilla, in der Türkei und in Deutschland gelten sie als terroristische Vereinigung, und die SDF, also die Miliz der kurdisch geprägten Selbstverwaltung in Nord- und Ostsyrien, eilten ihnen zur Hilfe und kämpften einen Rettungskorridor frei. So konnten viele Menschen über die Berge nach Syrien, und somit in Sicherheit fliehen.
Aber diese Flucht war alles andere als leicht. Im August ist es im Irak sehr heiß. Bei etwa 50 Grad Hitze mussten die Menschen zu Fuß durch die Berge. Sie hatten weder etwas zu essen noch zu trinken. Viele Menschen wurden gerettet – aber viele haben es auch nicht geschafft.
»Kleine Kinder wurden ohne Grund geschlagen, ältere Frauen wurden weggebracht und es wurde gesagt, dass sie sie umbringen, weil sie nicht mehr zu gebrauchen seien. Junge Frauen haben sie vergewaltigt, missbraucht und traumatisiert. Kleine Jungs haben sie mitgenommen und als Kindersoldaten ausgebildet.«
Währenddessen richtete der IS in Shingal ein Blutbad an. Jihan Alomar war mitten in diesem Massaker. »Es war grauenvoll und man wünscht sich nur zu sterben, damit man diese schlimmen Dinge nicht miterleben muss. Kleine Kinder wurden ohne Grund geschlagen, ältere Frauen wurden weggebracht und es wurde gesagt, dass sie sie umbringen, weil sie nicht mehr zu gebrauchen seien«, erzählt sie. »Junge Frauen haben sie vergewaltigt, missbraucht und traumatisiert. Kleine Jungs haben sie mitgenommen und als Kindersoldaten ausgebildet.«
Jihan Alomar musste als zehnjährige mitansehen, wie Menschen vor ihren Augen ermordet wurden. Viele der entführten Frauen wurden als Sexsklavinnen über Jahre weiterverkauft. Als Jesidinnen sind sie aus der Sicht des IS minderwertig.
Schon vor dem IS-Massaker waren jesidische und muslimische Gesellschaften im Irak eher separiert. Jesidinnen haben Berfin Hezil erzählt, dass die Peshmerga von ihnen nicht mal Wasser annehmen wollten, weil alles jesidische »haram«, also unrein sei. »Da ist es doch kein Wunder, dass die gleichen Soldaten Shingal nicht schützen, oder?«, ihre Frage klingt eher wie eine Aussage in energischem Ton.
Während die Welt beim Anblick der grausamen Bilder aus Shingal zu erstarren schien, packte Berfin Hezil vor Ort an. »Wir haben den ganzen Tag Essen verteilt. Am Ende habe ich nur noch 43 Kilo gewogen, es musste ja alles Essen geteilt werden und es gab nie genug. Da war ich nicht mehr Journalistin, sondern habe einfach nur geholfen«, erzählt sie. Die Bilder von damals beschäftigen sie bis heute. Schwangere Frauen, alte Menschen und Kinder hatten auf der beschwerlichen Flucht besonders zu kämpfen. »Die Leute denken immer, ich bin eine starke Frau, der kann das nichts antun. Aber ich bin auch nur ein Mensch. Ich kann mir die Bilder von damals nicht mehr anschauen.«
Jihan Alomar lebte zehn Monate in IS-Gefangenschaft, bis sie ein Verwandter aus den Fängen der Terroristen »freikaufen« konnte. Im Rahmen eines Sonderkontingents für jesidische Frauen und Kinder kam sie mit einem kleinen Teil ihrer Familie nach Deutschland, ins schwäbische Tübingen. Sie ist froh, ihre Mutter und fünf Geschwister bei sich zu haben. Eine ihrer Schwestern wurde erst 2022 aus den Händen des IS befreit. Ihren Vater, ihren Bruder und weitere Familienmitglieder vermisst sie bis heute. Sie weiß nicht mal, ob sie noch leben.
»Wer den Völkermord überlebte, es bis nach Deutschland schaffte, sich hier ein Leben aufgebaut hat, bei dem könnte die Polizei mit einem Abschiebebescheid in der Hand jeden Morgen an der Tür klingeln.«
»Die Erinnerungen von damals werde ich wohl nie vergessen. Ich denke jeden Tag beim Aufwachen und beim Einschlafen daran«, sagt Jihan Alomar heute. Sie hat über ihre Geschichte ein Buch geschrieben, geht in Schulklassen und spricht über das, was vor zehn Jahren geschehen ist. Außerdem ist sie als Botschafterin bei der NGO Háwar Help aktiv. »Es gibt immer noch Menschen, die in Gefangenschaft sind und ich finde, es sollte mehr über die Jesidinnen und Jesiden geredet werden«, sagt Jihan Alomar und fügt noch hinzu, dass die Suizidrate in den jesidischen Flüchtlingscamps im Nordirak steige. Zu groß die Hoffnungslosigkeit, zu tiefsitzend die Traumata, zu wenig an Unterstützung.
Im Januar 2023 hat der Deutsche Bundestag das IS-Massaker an der jesidischen Bevölkerung offiziell als Genozid anerkannt. Jihan Alomar war mit kurdischen und jesidischen Aktivistinnen und Menschenrechtlern in Berlin auf den Besucherbänken des Reichtages. Diese offizielle Anerkennung war wichtig für sie. Wichtig für die größte jesidische Gesellschaft außerhalb des Iraks. Denn von den rund eine Million Jesidinnen und Jesiden leben heute etwa 200.000 in Deutschland. »Die Anerkennung als Genozid ist wichtig, aber warum hat das so lange gedauert?«, fragt Berfin Hezil. »Und warum gibt es keine Unterstützung für den Wiederaufbau von Shingal?« Der Aufbau von Shingal läuft in der Tat schleppend. Der Schaden ist enorm. Dreiviertel der Häuser soll der IS zerstört haben.
Die Bundesregierung erklärte noch im März 2023: »Für jesidische Religionszugehörige aus dem Irak (…) ist es - ungeachtet veränderter Verhältnisse - nicht zumutbar, in den früheren Verfolgerstaat zurückzukehren.« – nur um das Versprechen noch im selben Jahr zu brechen.
Und das Auswärtige Amt warnt vor Sicherheitsrisiken in der Region. Unter anderem in Shingal »muss weiterhin mit schweren Anschlägen und offenen bewaffneten Auseinandersetzungen zwischen dem IS und irakischen Sicherheitskräften gerechnet werden«, steht auf deren Webseite des AA. Das müsste auch der Bundesregierung bekannt sein. De facto gilt aber: Wer den Völkermord überlebte, es bis nach Deutschland schaffte, sich hier ein Leben aufgebaut hat, bei dem könnte die Polizei mit einem Abschiebebescheid in der Hand jeden Morgen an der Tür klingeln.
Linda Peikert arbeitet als freie Journalistin und Reporterin und berichtet vor allem aus Nahost, von der EU-Grenze oder aus Lateinamerika. Sie beschäftigt sich mit Themen rund um Krisen, soziale Gerechtigkeit und Feminismus. Außerdem hostet sie gemeinsam mit Jan van Aken den Podcast dis:arm über Frieden, Krisen und Kriege.