12. April 2022
Jean-Luc Mélenchon hat den Einzug in die Stichwahl um die Präsidentschaft knapp verpasst. Trotz dieser Niederlage könnte die französische Linke gestärkt aus der Wahl hervorgehen.
Jean-Luc Mélenchon kurz nach Bekanntgabe der Wahlergebnisse, 10. April 2022.
Ja, es gab genug optimistische Kommentare über knappe Wahlniederlagen und heldenhafte Misserfolge. Das Ergebnis ist schlecht: Jean-Luc Mélenchon kandidierte ein drittes Mal für das Präsidentenamt und hat es auch dieses Mal nicht geschafft. Selbst mit einer energiegeladenen Kampagne und einer wahrscheinlich beträchtlichen taktischen Abstimmung zu seinen Gunsten – die dem linken Kandidaten 22 Prozent einbrachte, was sogar seine besten Umfragewerte übertraf – konnte sich Mélenchon nicht unter die ersten beiden Plätze schieben. Wie schon 2017 wurde er von der rechtsextremen Marine Le Pen (23,4 Prozent) verdrängt, während Emmanuel Macron weiter in Führung geht (27,6 Prozent).
Da die Umfragen für die zweite Runde ein enges Rennen vorhersagen, werden sowohl Macron als auch Le Pen bei Mélenchons Anhängerschaft auf Wählerfang gehen. Während er 2017 hinter dem konservativen François Fillon noch den vierten Platz belegte, war der drittplatzierte Mélenchon diesmal der einzige andere Kandidat, der ein zweistelliges Ergebnis erzielte. Seine Basis – und ihre Bereitschaft zur Wahl zu gehen – wird das Gesamtergebnis entscheidend beeinflussen.
Dennoch sollte man offen zugeben, dass das politische Feld ein weitaus schlechteres Bild abgibt, als es der Fall wäre, wenn ein linker Kandidat in die Stichwahl eingezogen wäre. Das liegt zum einen daran, dass Le Pen tatsächliche Chancen auf den Wahlsieg hat. In der Debatte werden sich ihre bevorzugten Themen entsprechend widerspiegeln. Es stimmt, dass unter Macrons Regierungen verstärkt Proteste unterdrückt und aktivistische Gruppen zerschlagen wurden, darunter das Kollektiv gegen Islamophobie in Frankreich (Collectif contre l'islamophobie en France, CCIF). Während seiner Regierungszeit haben sich Politikerinnen und Politiker aus dem gesamten politischen Spektrum (einschließlich der Grünen, Sozialisten und Kommunisten) mit den Polizeigewerkschaften verbündet und eine unheilvolle reaktionäre Wende eingeleitet.
Aber Macrons Innenminister hat Unrecht: Le Pen ist nicht »nachgiebig gegenüber dem Islam«. Selbst wenn sie bei den Parlamentswahlen im Juni keine parlamentarische Mehrheit erlangen sollte, würde Le Pen alle möglichen autoritären und rechtsextremen Kräfte im Staatsapparat massiv stärken. Zwar hat sie ihr Image abgemildert und verkündet, ihre Partei habe sich verändert (so es wie fast alle europäischen Parteien mit faschistischen Wurzeln seit den 1990er Jahren getan haben). Der gescheiterte rechtsextreme Kandidat Éric Zemmour, ein Vertreter der Theorie des »großen Austauschs«, bekundete sofort, er werde Le Pen in der zweiten Runde unterstützen. Und das liegt daran, dass Rassistinnen und Rassisten die unterschwellige Botschaft von Le Pen immer noch erkennen können. Le Pen könnte auf bestehende antidemokratische Anteile des französischen Staatsapparats und auf bestehende repressive Gesetze zurückgreifen, die während des anti-terroristischen »Ausnahmezustands« eingeführt wurden. Nur wäre es unter ihr noch weitaus schlimmer.
Selbst wenn Le Pen die zweite Runde verlieren sollte – was nach wie vor wahrscheinlich ist –, könnte sie eine beträchtliche Basis unter Arbeiterinnen und Arbeitern konsolidieren, da sie nun gegen einen Präsidenten antritt, der das Renteneintrittsalter anheben will und der den Wohlfahrtsstaates bereits massiv abgebaut hat. Die Bedrohung durch die extreme Rechte wird wiederum von einem siegreichen Macron genutzt werden, um weitere reaktionäre Gesetze durchzusetzen.
Nach der ersten Schätzung Sonntagabend um 20 Uhr kündigten die meisten der anderen nominell linken Kandidierenden sofort ihre Unterstützung für Macron in der zweiten Runde an: Die Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo von der neoliberal ausgerichteten Parti Socialiste (PS) tat dies in Sekundenschnelle, offenbar erpicht auf einen Auftritt im Fernsehen, der ihr angesichts ihres schwachen Ergebnisses sonst verwehrt worden wäre. Sie holte 1,7 Prozent – ein eindeutiges Zeugnis der Zerstörung historischer Arbeiterparteien durch marktwirtschaftliche Führungspersonen, die »Reformen« vorantrieben, die die Arbeitsplätze der Menschen unsicherer und ihre Renten niedriger machten. Während Mélenchon oft als Spalter bezeichnet wird, hat die PS die gesamte französische Arbeiterklasse zusammengeführt – und zwar durch ihre vereinte Ablehnung der PS.
Aufrufe zu einer »pragmatischen Stimme« wurden von Parteien wie der PS oft benutzt, um zögernde junge Wählerinnen und Wähler aus der Arbeiterklasse dazu zu bringen, sich gegen die (extreme) Rechte zu entscheiden – mit immer kleinerem Erfolg. Diesmal haben die schwachen linksliberalen Kräfte und die liberalen Medien die Wahlkampfsaison damit verbracht, einen »Einheitskandidaten« zu suchen: Sie stellten mehrere mittelmäßige Progressive auf, die weder vergangene Erfolge vorweisen konnten noch Aussichten darauf hatten, die arbeitende Klasse zu mobilisieren.
Auch wenn einige derjenigen, die diesen Aufruf machten, naive und gute Absichten haben mochten, zielten diese Bemühungen doch darauf ab, Mélenchon dazu zu bringen, auf seine Kandidatur zu verzichten. Letztendlich hatte er aber eine weitaus größere soziale Basis. In den Tagen vor der Wahl war er es, der zu einer »effektiven Abstimmung« aufrief. Diejenigen, die für die Grünen (4 Prozent) oder vor allem für die postkommunistische PCF (2 Prozent) gestimmt haben, sollten sich fragen, ob sich das gelohnt hat; die Ergebnisse für Zemmour und den rechtsextremen Nicolas Dupont-Aignan (insgesamt 9 Prozent) machten im Vergleich ein kleineres Reservoir an »verschwendeten Stimmen« aus, die sonst für Le Pen gestimmt hätten, als die kleinen linken Parteien (10 Prozent).
Sicher wird es in den nächsten Tagen weitere Schuldzuweisungen wegen der geteilten Stimmen geben, vor allem weil genau diese Parteien Mélenchon vorwerfen, Macron in der Stichwahl nicht zu unterstützen. Wie schon 2017 hatte dieser angekündigt, seine Basis zu befragen und danach gegebenenfalls dazu aufzurufen, für das geringere Übel zu stimmen, während er gleichzeitig darauf bestand, Le Pen keine Stimme zu geben. Natürlich hatten diese kleineren Parteien ein eigenes Interesse daran, an der Präsidentschaftswahl teilzunehmen, vor allem mit Blick auf die Parlamentswahlen im Juni.
In den Stunden nach der Wahl in Großbritannien im Jahr 2019 schrieb ich, dass die politische Linke trotz der Niederlage nun besser organisiert war als zu der Zeit, bevor Jeremy Corbyn Vorsitzender der Labour Party wurde. Es kamen eine Menge neuer und junger aktivistischer Mitglieder dazu, die selbst unter institutionellen Bedingungen höhere Erwartungen hatten, als ich oder andere, die in der Blair-Ära aufgewachsen waren. In jenem Artikel vom Wahlabend habe ich linksliberalen Kräften zwar die Schuld dafür gegeben, Corbyns Führung sabotiert haben. Doch ich hatte nicht erwartet, dass sie sein Erbe in so kurzer Zeit und mit so wenig Widerstand so vollständig zerstören würden.
Auch in den USA haben die Kampagnen von Bernie Sanders und die Ablehnung der Rechten zu einer stärken sozialistischen Organisierung geführt, doch die Democratic Socialist of America sind weit davon entfernt, eine Massenpartei zu werden, die sich regelmäßig in die landesweite Politik einmischt und Grenzen zu den anderen Parteien zieht. Es gibt eine breitere und diffuse Sympathie für den Sozialismus, aber im Allgemeinen fehlt es an einer Organisation, wie sie für historische sozialistische oder kommunistische Parteien typisch ist.
Der späte Anstieg der Wahlbeteiligung für Mélenchon zeigt auch in Frankreich eine gewisse Limitierung an. Im Allgemeinen schnitt La France Insoumise bei den Kommunal- und Regionalwahlen während der gesamten Amtszeit Macrons schlecht ab, wobei sich linksliberale Kandidaten vielleicht als widerstandsfähiger erwiesen, als man erwartet hatte. Bei den Parlamentswahlen in zwei Monaten gibt es jedoch einen gewissen Unterschied zu 2017: Damals war klar, dass die sozialistische Partei (PS) nach der miserablen Präsidentschaft von François Hollande und ihrem Ergebnis von 6 Prozent bei den Präsidentschaftswahlen an Rückhalt verlieren würde. Aber die PS hatte rund 330 amtierende Abgeordnete (mit den dazugehörigen Aktivistinnen und Aktivisten und Organisationen) und konnte trotzdem 45 von ihnen halten, bei einer Unterstützung von rund 10 Prozent. Diesmal hat La France Insoumise (die ohne amtierende Abgeordnete antrat) eine kleine, aber schlagkräftige Gruppe im Parlament und ist eindeutig die dominierende »soziale« Alternative zu Macrons Regierung.
Aber der Wahlkampf war auch besser als beim letzten Mal, was ebenso auf einen positiven Wandel in La France Insoumise hindeutet. Mélenchon ist ein brillanter Redner, der in der französischen Politik seinesgleichen sucht. Doch bei dieser Wahl wurde die Kampagne weniger um seine Person herum zentriert – und das, obwohl dieses Rennen per Definition von Einzelpersonen dominiert wird. Er hat zudem auch in bestimmten Fragestellungen (insbesondere zur Islamophobie) klügere Positionen präsentiert. Auch die Überlegungen für eine stärker formalisierte Parteistruktur von La France Insoumise (oder das Kampagnenmotto »L’union populaire«, deutsch etwa »Volksunion«) sind ermutigend, da die Partei dadurch zu einem dauerhaften Teil der politischen Landschaft werden könnte und sich über dies Zeit besser organisieren und verankern kann. Sanders’ Strategie bei den Vorwahlen und Corbyns eher schwache Führung der Labour Party haben ihnen das nie ermöglicht.
Selbst in Frankreich, wo La France Insoumise den Liberalen »auf der eigenen Seite« nicht so verpflichtet ist wie im Falle von Sanders oder Corbyn, sind die Widerstände immens. Trotz einiger bemerkenswerter sozialer Proteste in den letzten Jahren, wie denen der Gelbwesten, ist die politische Beteiligung der arbeitenden Menschen und sogar der linken Medien langfristig zurückgegangen. Der Aufbau einer starken Opposition würde unter Macron schwierig sein und wäre unter einer Präsidentschaft von Le Pen vermutlich enormen Repressionen ausgesetzt.
Das Ergebnis vom Sonntag war ohne Frage eine Niederlage. Aber es gibt Grund für ein wenig Optimismus – sowohl des Verstandes als auch des politischen Willens. Mit dieser Kampagne hat La France Insoumise eine Wahlschlappe abgewendet, sich als mobilisierende Kraft erwiesen und sich das Recht auf Hoffnung verdient.
David Broder ist Europa-Redakteur von JACOBIN und Autor von Mussolini’s Grandchildren: Fascism in Contemporary Italy (Pluto Press, 2023).