14. September 2020
Arbeitslosigkeit ist ein Versagen der Wirtschaftspolitik. Für Betroffene und für die gesamte Gesellschaft ist sie mit hohen Kosten verbunden. Eine staatliche Jobgarantie kann dies verhindern und dauerhaft Vollbeschäftigung sichern.
Das »Recht auf Arbeit« wird sich nur mit einer Jobgarantie erfüllen lassen.
In Deutschland liegt die Arbeitslosenquote derzeit bei 6,4 Prozent. Dazu sind noch immer über 5 Millionen Menschen zur Kurzarbeit verdonnert. Schaut man auf die Arbeitslosenzahlen in der Eurozone, etwa nach Griechenland oder Italien, kann man seit Jahren gar nur noch von Massenarbeitslosigkeit sprechen. Teilweise findet jeder Dritte Jugendliche unter 25 Jahren keine Beschäftigung. Diese Zustände müssen schnellstmöglich angegangen werden. Massenarbeitslosigkeit führt bei den Betroffenen zu leeren Geldbeuteln, sozialem Ausschluss und Perspektivlosigkeit – eine Zumutung für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie.
Artikel 23 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte beinhaltet das »Recht auf Arbeit«. Ein Blick in den Rückspiegel zeigt, dass davon in den letzten 40 Jahren – durch die zunehmende Dominanz des Neoliberalismus – nicht die Rede sein kann. Progressive Vollbeschäftigung, die ermöglicht, dass es für jede Arbeitsuchende eine in ihrem örtlichen Umkreis verfügbare, vernünftig bezahlte, auf die individuelle Motivation und Fähigkeiten zugeschnittene Arbeitsstelle gibt, ist eine entfernte Utopie. Stattdessen existiert permanent unfreiwillige Arbeitslosigkeit – mit all ihren negativen Folgen.
Die Bedeutung, die der Einzelne seiner Arbeit zuschreibt, hängt nicht nur vom Einkommen ab, sondern auch von der sozialen Einbindung in die Gemeinschaft, der Möglichkeit etwas zur Gesellschaft beizutragen, der Befriedigung der intrinsischen Motivation, dem Fördern des Selbstwertgefühls und dem Raum zur Selbstverwirklichung. Wer arbeiten möchte, aber keine vernünftige Stelle findet, dem bleibt all dies verwehrt. Dazu sind ausbleibende Wertschätzung, Ausgrenzung, Diskriminierung, Unsicherheit und Zukunftsängste eine große psychologische Last für die Betroffenen.
Ironischerweise schieben wirtschaftsliberale Politiker, Ökonominnen und Medien den einzelnen Betroffenen die Schuldkarte zu. Spätestens die Corona-Krise sollte aber gezeigt haben, dass unfreiwillige Arbeitslosigkeit vor allem ein makroökonomisches Problem ist. Weil die Wirtschaft pandemiebedingt heruntergefahren wurde, sind Menschen in Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit gefallen. Wer vorher schon arbeitslos war, der sah nun erst recht alt aus. Dieser Umstand lässt sich aber verallgemeinern: Wenn der Privatsektor keine Aussicht auf eine bessere Auftragslage hat, wird er keine zusätzlichen Arbeitskräfte nachfragen. Dann herrscht ein Mangel an Stellen. Dafür ist nicht die Einzelperson, sondern die Wirtschaftspolitik verantwortlich. Unter den Arbeitssuchenden führt dies zu einem frustrierenden Verdrängungswettbewerb um die verfügbaren Stellen – die Arbeitsplatzssuche gleicht dem Kindergeburtstagsklassiker »Reise nach Jerusalem«, bei dem immer zu wenig Stühle zur Verfügung stehen. Der aussichtslose Konkurrenzdruck mündet in Ellbogenmentalität und Frustration, was wiederum den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährdet.
Selbst auf dem für seinen angeblichen Erfolg bejubelten deutschen Arbeitsmarkt kamen 2019 auf jede offene Stelle drei Arbeitssuchende. In Griechenland lag die Zahl Ende 2019 bei 60 Arbeitssuchenden pro offener Stelle. Aufgrund des Stellenmangels findet aber nicht jeder, der arbeiten möchte, auch eine passende Anstellung. Um die Situation beispielhaft zu verbildlichen: 100 Hunde werden zur Suche auf ein Feld mit 90 Knochen geschickt. Am Ende bleiben 10 Hunde ohne Knochen. Wirtschaftsliberale empfehlen dann, diese 10 sollten sich doch besser ausbilden oder flexibler werden, um beim nächsten Mal bessere Chancen zu haben. Das mag für den Einzelnen hilfreich sein. Doch selbst wenn diese 10 Hunde dann beim nächsten Versuch tatsächlich Knochen finden, werden letztlich 10 andere Hunde ohne Knochen bleiben. Wir müssen BWL- und VWL-Denken, Mikro- und Makrologik, trennen. Der Mangel an Knochen (Makroebene) kann nicht durch individuelle »Wettbewerbsfähigkeit« (Mikroebene) behoben werden.
Hier kommt die Wirtschaftspolitik ins Spiel. Ziel der Wirtschaftspolitik muss sein, die vorhandenen Ressourcen bestmöglich auszunutzen, sodass – unter sozialen und ökologischen Gesichtspunkten – für alle der größtmögliche Wohlstand entsteht. Unfreiwillige Arbeitslosigkeit ist der Beweis dafür, dass die Wirtschaft unterhalb ihres eigentlichen Potenzials operiert. Wenn also Arbeitsbereiche, die uns einen höheren Lebensstandard ermöglichen, unter- oder unbesetzt bleiben – ob im Gesundheitssektor, im Kultursektor oder im Handwerk –, beschneiden wir uns selbst. Arbeit lässt sich halt nicht sparen. Wer ein Jahr gar nicht arbeitet, der kann nicht im nächsten Jahr doppelt so viel arbeiten und damit die »aufgesparte« Arbeit wieder »entsparen«.
Um mehr Menschen in Beschäftigung zu bringen und einen höheren Lebensstandard zu ermöglichen, gibt es wirtschaftspolitisch zwei Wege: Zum einen kann der Staat die Wirtschaft ankurbeln (indem er Steuern senkt und/oder Staatsausgaben erhöht) und darauf hoffen, dass der Privatsektor aufgrund verbesserter Auftragslage mehr Personen anstellt. Zum anderen kann der Staat die Personen eigenständig anstellen und damit die öffentliche Daseinsvorsorge ausweiten.
Dabei schließen sich beide Wege einander gewiss nicht aus. Allerdings ist es unrealistisch, zu erwarten, dass der Privatsektor allein dafür sorgen kann, geschweige denn in der Lage wäre, vernünftig bezahlte, auf die Fähigkeiten ausgerichtete und im örtlichen Umkreis verfügbare Stellen zu jeder Zeit in ausreichender Anzahl anzubieten – auch dann nicht, wenn der Staat mit klassischem »Pump Priming«, also einer Ankurbelung der Wirtschaft über expansive Fiskalpolitik, kräftig auf das Gaspedal drückt. Das »Pump Priming« basiert auf der Idee, dass der Staat die Wirtschaft über Mehrausgaben oder Steuersenkungen anschiebt, damit der Privatsektor mit Investitionen und Konsum auf den Zug aufspringt und so Wirtschaftswachstum anregt. Man kann sich das wie eine Art Initialzündung für den Motor der Wirtschaft vorstellen. Üblicherweise kommt eine solche Wirtschaftspolitik allerdings bei den Personen, die – bildlich gesprochen – als letzte in der Schlange vorm Arbeitsamt stehen, nicht an. Diese Menschen werden im Aufschwung als letzte angestellt und beim Abschwung als erste wieder entlassen.
Daher bleiben Arbeitssuchende weiterhin abhängig davon, ob und wo der Privatsektor passende Arbeitsstellen anbietet. Von einer Realisierung des »Rechts auf Arbeit« kann keine Rede sein. Dauerhafte Vollbeschäftigung kann sich der Privatsektor, der nach Profitmotiven und Solvenzerwägungen handelt, nicht leisten. Ferner besteht beim »Pump Priming« immer die Gefahr, dass die Wirtschaft beim Versuch auf diesem Weg Vollbeschäftigung zu erreichen, in ausgelasteten Branchen – an den sogenannten Bottlenecks – überhitzt und dadurch übermäßiger Inflationsdruck erzeugt wird. Im Vergleich zum klassischen »Pump Priming«, bei dem der Staat mit seinen Ausgaben um Güter und Dienstleistungen zu Marktpreisen konkurriert, werden die Ausgaben bei der Schaffung staatlicher Jobs für Arbeitssuche unmittelbar dorthin gelenkt, wo es derzeit keine Nachfrage des Privatsektors nach verfügbaren Arbeitskräften gibt. Dadurch können durch Wettbieten ausgelöste Preisanstiege eher vermieden werden.
Die Schlussfolgerung: Um dauerhafte Vollbeschäftigung zu erreichen, bedarf es neben aktiver Wirtschaftspolitik auch einer direkten Schaffung von Arbeitsplätzen durch den Staat. Genauer gesagt: Es braucht ein staatliches Jobgarantie-Programm. Hierzu macht der Staat ein bedingungsloses Jobangebot an jeden und jede, der oder die in einem aufs Gemeinwohl ausgerichteten Job zu einem sozialverträglichen Lohn inklusive Sozialleistungen arbeiten möchte.
Eine Jobgarantie könnte auf Ebene der Bundesregierung finanziert und von unteren Regierungsebenen, etwa auf der Stadt- oder Gemeindeebene, verwaltet werden. Dadurch würde der individuelle Wunsch nach kontinuierlicher Beschäftigung mit den Bedürfnissen von Städten und Gemeinden kombiniert. Da das Programm das Ziel verfolgt, dass die Teilnehmenden möglichst schnell wieder eine Anstellung im besser bezahlten Privatsektor finden, wären die Jobs temporär ausgelegt und würden weder mit Arbeitsbereichen des Privatsektors noch mit regulärer öffentlicher Beschäftigung konkurrieren. Diejenigen im Jobgarantie-Programm wären also keine Beamten, sondern würden eher vernünftig bezahlten Zivildienstleistenden auf Zeit gleichen.
Passende Arbeitsbereiche für die Jobgarantie wären gemeinwohlorientierte Beschäftigungen, die auf die Verbesserung des Zustands der Stadt beziehungsweise der Gemeinde ausgerichtet sind, sowie jene, die vom Privatsektor nur unzureichend abgedeckt werden. Konkret könnte die Jobgarantie Projekte aus den Bereichen Bildung, Ausbildung, Pflege, Kunst, Umweltmanagement, Stadtpflege, lokale Lebensmittelproduktion oder Sicherheit beinhalten. Die Art der Beschäftigungsverhältnisse wäre nicht auf Vollzeitstellen begrenzt, sondern könnte auch Teilzeitstellen sowie flexible Arbeitsverhältnisse umfassen, um möglichst vielen Lebenssituationen zu entsprechen – vom Studierenden bis zum Elternteil. Dazu würden die Arbeitsplätze, ähnlich wie im Privatsektor, selbstverständlich Leistungskontrollen sowie Trainings- und Weiterbildungsmaßnahmen beinhalten.
Die Vorteile der Jobgarantie gehen dabei weit über die bloße Schaffung von Arbeitsplätzen hinaus. Da sich die Zahl der Teilnehmenden des Job-Programms im Aufschwung verringert und im Abschwung erhöht, würde die Wirtschaft stabilisiert und übermäßigen Ab- und Aufschwüngen entgegengewirkt. Der im Jobgarantie-Programm gezahlte Lohn würde zum effektiven nationalen Mindestlohn werden. »Effektiv« wäre er deshalb, weil der derzeitige Mindestlohn nur für Beschäftigte gilt. Wer Arbeit sucht und Arbeitslosengeld erhält, landet häufig früher oder später unterhalb eines Mindestlohneinkommens. Es würde mit dem Programm keine Armut in der Arbeitslosigkeit oder im Niedriglohnsektor mehr geben, da alle die Möglichkeit hätten, in einen sinnvollen Job mit sozialverträglichen Arbeitsbedingungen zu wechseln.
Die Glättung der Konjunkturdellen und die Festlegung eines für alle geltenden Mindestlohns würden zudem das Preisniveau stabilisieren und der Vermeidung von Inflation und Deflation dienlich sein. Dazu würde das bestehende Kräfteungleichgewicht zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite zugunsten der Arbeitnehmer und deren gewerkschaftlicher Vertretung korrigiert. Die Arbeitsbedingungen, die ein Jobgarantie-Programm vorsieht, würden die Untergrenze der akzeptablen Arbeitsbedingungen markieren – angefangen vom Lohn, über die Arbeitszeiten und den Arbeitsschutz bis hin zu demokratischer Mitbestimmung im Betrieb. Da diese Bedingungen für jeden zugänglich wären, würden sie Druck auf schlechtere Verhältnisse auf dem privaten Arbeitsmarkt ausüben. Darüber hinaus hat das Jobgarantie-Programm das Potenzial, den gemeinschaftlichen Zusammenhalt zu fördern und die Demokratie nahbarer zu machen, da die Menschen durch lokal ausgerichtete Jobs ihr direktes örtliches Umfeld nach ihren Vorstellungen beeinflussen könnten.
Die Jobgarantie ist explizit ein universelles Angebot und keine Verpflichtung oder gar ein Arbeitszwang. Genau dieser universelle Charakter und die ökonomischen Vorteile, die damit einhergehen, unterscheiden die Jobgarantie von halbherzigen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Das Jobgarantie-Programm würde an die Personen, deren Motivation, deren Fähigkeiten und deren örtliches Umfeld angepasst – nicht andersherum. Damit verfolgt die Jobgarantie eine progressive Vollbeschäftigungspolitik, die das Wohl der Gesellschaft sowie die unmittelbare Verbesserung der Lebensumstände derjenigen, die bisher von neoliberaler Wirtschaftspolitik und übermäßiger kultureller Individualisierung am meisten benachteiligt wurden, konsequent in den Vordergrund stellt.
Ohne Jobgarantie bleiben Arbeitssuchende davon abhängig, welche Jobs wo und zu welchen Arbeitsbedingungen vom Privatsektor geschaffen werden. Das heißt, das Recht auf Arbeit bleibt letztlich abhängig von den Profitinteressen des Privatsektors. Die Jobgarantie ist dem »Pump Priming« zudem in mehreren Punkt überlegen: Sie sorgt dafür, dass die Ausgaben zielgerichtet bei der letzten Person in der Schlange vorm Arbeitsamt ankommen, sie enthält einen Anti-Inflations-Mechanismus, sie adressiert regionale Entwicklungsdisparitäten und sie stellt eine ausdrückliche Orientierung am Gemeinwohl sicher.
Wir haben die Wahl zwischen zwei Optionen: Entweder wir garantieren Vollbeschäftigung oder wir garantieren, dass es unfreiwillige Arbeitslosigkeit geben wird – mit all den negativen Folgen für die Betroffenen und die Gesellschaft. Jetzt müssen wir uns bloß noch entscheiden.
Maurice Höfgen ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter für Finanzpolitik im Bundestag und Autor des Buches »Mythos Geldknappheit«. Zudem betreibt er den YouTube-Kanal »Geld für die Welt«.