21. April 2021
Das Kapital hat eine Politik der Vollbeschäftigung schon immer abgelehnt, weil sie die Verhandlungsmacht der Arbeiterschaft stärkt. Umso wichtiger ist heute die Forderung nach einer Jobgarantie.
Arbeitslose Frauen forderten während der Großen Depression von 1933 Arbeitsplätze für sich ein.
Schon Martin Luther King erkannte, dass eine staatliche Jobgarantie die soziale und ökonomische Lage der afroamerikanischen Gesellschaft bedeutend verbessern würde. Nicht umsonst trug der berühmte Protest-Marsch vom 28. August 1963 den Namen »March on Washington for Jobs and Freedom«. Auch Artikel 23 der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte fordert ein Recht auf Arbeit für alle Menschen. Das emanzipatorische Potenzial eines universellen Rechts auf Arbeit lässt sich kaum bestreiten. So stellt sich die Frage, weshalb an der Vollbeschäftigung so wenig politisches Interesse besteht.
In seinem Aufsatz »Politische Aspekte der Vollbeschäftigung« ging der Ökonom Michał Kalecki genau dieser Frage nach. Für ihn war klar: Das mangelnde Interesse seitens der Politik hat seine Wurzeln in der Wirtschaft. Dort sträubt man sich gegen staatliche Eingriffe, die eine Vollbeschäftigung bewirken könnten, selbst wenn diese gesamtwirtschaftlich auch den Unternehmen zugute kommen würde. Schließlich bedeutet mehr Kaufkraft auch mehr Gewinne.
In seinem Aufsatz arbeitet Kalecki mögliche Antworten heraus, von denen drei auch für die Jobgarantie Gültigkeit haben. Erstens befürchtet die Wirtschaft, dass durch staatliche Eingriffe das »Vertrauen in die Wirtschaft« verloren gehe. Die wirtschaftliche Lage eines Landes wäre plötzlich nicht mehr nur von den Unternehmen, sondern nun in hohem Maße von der Politik abhängig, die durch ihre Eingriffe Menschen in Beschäftigung bringen und Armut verringern könnte – und zwar weitgehend unabhängig von der wirtschaftlichen Verfasstheit des Privatsektors.
Zweitens befürchten Unternehmen durch eine staatliche Jobgarantie Einbußen. Sie haben die Sorge, der Staat könne die Aktivitäten einer solchen Beschäftigungspolitik auf Felder des privaten Sektors ausweiten und somit ihr Ziel der Profitmaximierung gefährden.
Drittens würde mit einer Jobgarantie eine angedrohte Kündigung kein probates Mittel mehr darstellen, um die Arbeiterinnen und Arbeiter einzuschüchtern und Forderungen nach besseren Löhnen oder Arbeitsbedingungen zu disziplinieren.
Spätestens an diesem Punkt zeigt sich das Klassenbewusstsein der Unternehmen in aller Deutlichkeit. Denn obwohl es ihre Profiten nur zuträglich wäre, wenn die Kaufkraft aller anstiege, fürchten sie um die »politische Stabilität«. Gäbe es keine unfreiwillige Arbeitslosigkeit mehr, gäbe es für die Menschen auch keinerlei Anlass sich den Forderungen und Diktaten der Unternehmen bedingungslos zu beugen und jede noch so schlecht bezahlte und unwürdige Arbeit anzunehmen. Konstante Arbeitslosigkeit ist ein wesentlicher Bestandteil des Kapitalismus.
Um seine klassenpolitische These zu stützen, verweist Kalecki auf den deutschen Faschismus. Hier sei es gelungen, sämtliche Bedenken gegen staatliche Eingriffe zur Vollbeschäftigung beiseite zu schieben: Um die politische Stabilität war in der Wirtschaft niemand besorgt, da der Faschismus selbst sämtliche Bestrebungen unterdrückte, die diese hätten gefährden können, sei es das Zerschlagen der Gewerkschaften oder die Inhaftierung und Ermordung von Sozialdemokratinnen, Sozialisten und Kommunistinnen in den Konzentrationslagern. Selbst im Falle einer möglichen Vollbeschäftigung war den Unternehmen während des NS-Faschismus die Disziplin ihrer Arbeiter sicher.
Zwar werden während einer Depression Unmengen an Geld aufgewendet, um ausufernde Arbeitslosigkeit einzudämmen – aber diese Investitionen und Maßnahmen sollen wieder unterlassen werden, sobald sich die Wirtschaft erholt hat. Genügend Ökonominnen und Ökonomen folgen dieser Maßgabe und halten eine Politik der Vollbeschäftigung und die damit verbundenen Staatsausgaben für schädlich.
Kalecki ging noch davon aus, dass ein Staat diese Ausgaben über Kredite finanzieren müsse. Allerdings zeigt die Modern Monetary Theory (MMT), dass ein Staat sein eigenes Geld schöpfen kann – und zwar so viel er will. Das Argument der »Nicht-Finanzierbarkeit« ist somit hinfällig.
Die Jobgarantie würde die Verhandlungsmacht der Arbeiterinnen und Arbeiter enorm stärken. Sie würde eine effektive Untergrenze für Löhne und Arbeitsbedingungen ziehen: Sollte der Job im privaten Sektor zu schlecht bezahlt sein oder unwürdige Bedingungen bieten, stünde es nun allen frei, in solch einem Fall eine Anstellung über die Jobgarantie zu finden.
Denen, die in der Hierarchie des Arbeitsmarktes ganz unten stehen, würde das besonders helfen: den prekär Beschäftigten, den Arbeitenden aus dem Niedriglohnsektor und den Langzeitarbeitslosen. Diesen Menschen würden durch eine Jobgarantie neue Chancen auf ein besseres Leben eröffnet – auch die Wahrscheinlichkeit, im Privatsektor bessere Arbeit zu finden, würde sich für sie erhöhen. Denn Unternehmen stellen nur sehr ungern arbeitslose Menschen ein. So wird arbeitslosen Menschen etwa unterstellt, sie wollten oder könnten nur geringere Leistungen erbringen oder seien weniger teamfähig und schlechter ausgebildet. So ergibt sich ein Teufelskreis: Je länger man arbeitslos ist, desto unwahrscheinlicher wird es, dass man Arbeit findest. Eine Jobgarantie kann aus dieser Ausweglosigkeit herausführen.
Auch würde eine Jobgarantie jenen helfen, die gesellschaftlich wertvolle Arbeit leisten, die jedoch nicht entsprechend wertgeschätzt und entlohnt wird. Die Erziehung von Kindern und die Pflege von Angehörigen könnte man unter das Programm einer Jobgarantie stellen und somit jenen, die diese wichtigen Tätigkeiten übernehmen – überwiegend Frauen – finanzielle Sicherheit und Wertschätzung gewähren.
Die derzeitige Wirtschaftspolitik erachtet einen gewissen Bestand an unfreiwilliger Arbeitslosigkeit als notwendig an, um die Verhandlungsmacht der Arbeiterinnen und Arbeiter klein zu halten. Sie ist also politisch gewollt. Dahinter steht auch die Angst, dass die Vollbeschäftigung die Arbeitenden in die Lage versetzen könnte, immer höhere Löhne zu fordern, woraufhin die Unternehmen mit immer höheren Preisen reagieren müssten: Die Sorge um eine Inflation soll durch Arbeitslosigkeit also ebenso gedämmt werden.
Doch auch hier könnte die Jobgarantie Abhilfe schaffen: Sollte im Privatsektor tatsächlich Inflationsdruck entstehen, könnte der Staat wirtschaftspolitisch die Bremse ziehen und dafür sorgen, dass einige Arbeiterinnen und Arbeiter von dem privaten Sektor in die Jobgarantie fallen. Dort könnten sie so lange beschäftigt bleiben, bis sie eine neue, geeignete Anstellung im Privatsektor gefunden haben. Durch die Jobgarantie wären sie nicht dazu gezwungen, die erstbeste Stelle anzunehmen, um nicht Hartz IV beziehen zu müssen – auch das Problem der Unterbeschäftigung würde sich so erübrigen und die Jobgarantie könnte den Inflationsdruck hemmen, ohne dass Menschen unfreiwillig arbeitslos würden.
Das klassenpolitische Potenzial einer Jobgarantie ist enorm. Sie könnte das Machtgefälle in der Wirtschaft zugunsten der Arbeiterinnen und Arbeiter verschieben. Sie wären nicht länger der Willkür der Unternehmen ausgeliefert, sondern würden neue Verhandlungsmacht gewinnen, die sie in wieder erstarkenden Gewerkschaften bündeln könnten.
Als Franklin D. Roosevelt die USA in den 1930er Jahren mit seinem New Deal aus der bis zu diesem Zeitpunkt schwersten Wirtschaftskrise der Geschichte führte, gelang ihm das nicht zuletzt auch dank der »Works Progress Administration«, die zahllose Stellen schuf. Diese kam auch der Öffentlichkeit zugute, denn die Infrastruktur, die im Rahmen dieses Programms entstand, war für den Boom der Nachkriegszeit maßgeblich mitverantwortlich. In ähnlicher Weise könnte eine Jobgarantie einen wichtigen Beitrag zur Klimapolitik leisten und als Teil eines umfassenden ökologischen Umbaus unserer Wirtschaft den Strukturwandel direkt vor Ort begleiten. So könnten wir unfreiwillige Arbeitslosigkeit abschaffen und gleichzeitig eine progressive Klimapolitik vorantragen und den Wohlstand für alle vergrößern.
Die Jobgarantie ist ein erster Schritt hin zu einer Gesellschaft, in der die Arbeit und ihre Gestaltung in den Händen derer liegt, die sie ausüben. In ihrem Plädoyer für eine Jobgarantie schreibt die Ökonomin Pavlina Tcherneva: »Im Grunde genommen ist die Jobgarantie eine Politik der Fürsorge, die den Gedanken ablehnt, dass Menschen in wirtschaftlicher Not, zerrüttete Gemeinschaften und eine bedrohte Umwelt die beklagenswerten, aber unvermeidlichen Kollateralschäden einer Marktwirtschaft darstellen.«
Für die politisch Linke kann die Jobgarantie Teil einer neuen Erzählung sein: Einer Erzählung, in der die Menschen ihren Glauben an die Demokratie und an einen Staat, der für die Menschen da ist, wiederfinden. Wir täten gut daran dieses Potenzial wahrzunehmen und zu zeigen: stagnierende Löhne, unfreiwillige Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung, unwürdige Arbeitsbedingungen und wachsende Erwerbsarmut sind nicht alternativlos.
Julien Niemann ist Historiker und spezialisiert sich im Bereich der neueren und neuesten Wirtschafts- und Sozialgeschichte.