23. Oktober 2020
Wer ist Joe Biden und warum halten ihn so viele US-Demokraten für den Mann der Stunde? Ein Erklärungsversuch über eine Partei auf Identitätssuche und den Gemütszustand eines geschundenen Landes.
Joe Biden bei einer Wahlkampfveranstaltung am13. Januar 2020.
Wir schreiben den 27. Juni 2019 und das politische Amerika verfolgt die erste Fernsehdebatte der demokratischen Präsidentschaftskandidaten. Die Sender haben die Favoriten in der Mitte des Podiums platziert: Zwischen Ex-Vizepräsident Joe Biden und Senatorin Kamala Harris – beide Parteiinsider par excellence – steht Senator Bernie Sanders, der linke Herausforderer aus Vermont.
Joe Biden redet gerne und viel, wenn auch nicht unbedingt in zusammenhängenden Sätzen, dafür mit Charme und Enthusiasmus, so auch an diesem Abend. Er redet über sich selbst, über die hart arbeitenden Amerikanerinnen und Amerikaner, aber vor allem über seinen besten Kumpel Barack Obama – den ersten Schwarzen Präsidenten –, über die Erfolge der gemeinsamen Regierungszeit und das Übel des Rassismus, das man zusammen bekämpft habe, und das nun in hässlicher, fleischgewordener Form das Weiße Haus heimsuche.
Harris lässt ihm das nicht durchgehen. Die ehemalige Generalstaatsanwältin von Kalifornien wird in diesen Momenten ganz zur Star-Juristin und verwandelt die Debattenbühne in einen Gerichtssaal, mit Biden auf der Anklagebank.
»Ich glaube nicht, dass Sie ein Rassist sind«, unterbreitet sie Biden, »und doch hat es mich sehr verletzt, wie Sie über zwei Senatoren gesprochen haben, die sich als Befürworter der Rassentrennung einen Namen gemacht haben. Und nicht nur das. Sie haben mit diesen Leuten zusammengearbeitet, um die [Integration segregierter Schulen] zu verhindern. Es gab da dieses kleine Mädchen in Kalifornien, das Teil der zweiten integrierten Jahrgangsstufe war, und das jeden Tag mit dem Bus zu seiner [integrierten] Schule gefahren ist. Und dieses kleine Mädchen, das war ich.«
Noch am selben Abend gibt es im Webshop der Harris-Kampagne T-Shirts mit dem Slogan »That little girl was me« zu kaufen. Eine minutiös geplante Bloßstellung eines, nein, des alten weißen Mannes auf der Bühne.
Bidens Gesichtsausdruck spricht Bände; er wirkt erschrocken, etwas verdattert und offensichtlich persönlich berührt. Die zusammen gestammelte Antwort auf Harris, die er einigermaßen grantig in die Kameras schnauzt, ruht auf einer so lachhaft schlechten Ausrede, dass man in diesem Moment unweigerlich an der Ernsthaftigkeit seiner Kandidatur zweifeln muss. Er sei nur dagegen, dass die Bundesregierung vorschreibe, dass in Schulklassen Weiße und Minderheiten gemeinsam lernen – das liege im Entscheidungsbereich der Kommunen. Ein Argument, dass, gewollt oder nicht, direkt an die mehr als 150 Jahre alte Südstaatenrhetorik vom »Selbstbestimmungsrecht der Staaten« (bei der Entscheidung über die Zukunft der Sklaverei) anknüpft, und das man wortwörtlich genauso auch im Alabama der 1960er Jahre hätte hören können.
Acht Monate später, am 29. Februar 2020, betritt Biden am Vorwahlabend in South Carolina gut gelaunt eine Bühne – dieses Mal nicht mehr als peinliches Fossil, sondern als strahlender Sieger. Biden feiert das Überleben seiner politischen Karriere und glänzt mit einer Rede, die verloren geglaubtes politisches Talent wiedererkennen lässt. Neben ihm stehen seine Frau Jill, seine Schwester und Wahlkampfmanagerin Valerie Biden Owens sowie – an diesem Abend wohl am wichtigsten – Jim Clyburn, Kongressabgeordneter für South Carolinas sechsten Bezirk und eine der wichtigsten Führungs- und Identifikationsfiguren für Schwarze Demokratinnen und Demokraten in diesem erzkonservativen Bundesstaat, in dem eine weiße Mehrheit und mit ihr die Republikaner den Ton angeben.
Clyburn wird später eine entscheidende Rolle für Bidens überwältigenden Sieg in South Carolina zugeschrieben, wo er mit fast 49 Prozent der Stimmen vor allem bei Afroamerikanerinnen und Afroamerikanern dominierte, und der den Anfang vom Ende der Kampagne von Bernie Sanders bedeuten sollte, der nur eine Woche zuvor in Nevada mit ähnlich starkem Ergebnis gewonnen hatte.
Nach drei katastrophalen Vorwahlen war dieser Sieg für Biden von entscheidender Wichtigkeit und der in South Carolina bekannte und beliebte Clyburn hat mit seinem engagierten Werben sicherlich seinen Beitrag zur Wiederbelebung der Biden-Kampagne geleistet. Doch mit Clyburn allein ist Bidens Beliebtheit bei der afroamerikanischen Minderheit nicht zu erklären. Wie Matt Karp in seiner Wahlanalyse aufzeigt, sind ältere Afroamerikanerinnen dem Establishment der Demokratischen Partei sehr loyal geblieben, vor allem Dank der Präsidentschaft Barack Obamas, die von vielen Schwarzen Wählern der unteren Mittelklasse als historische Kulmination einer lebenslangen Emanzipation aufgefasst wird – ein Umstand, der für Bernie Sanders ein großes, letztlich unüberwindbares Hindernis darstellen sollte.
Es ist dennoch rätselhaft, warum diese Treue zum Establishment ausgerechnet einer so rückwärtsgewandten Figur wie Biden zugute kam. Obama selbst war, im Gegensatz zu Clyburn, anfangs alles andere als enthusiastisch was die Kandidatur seines ehemaligen Vize anging, und hielt sich vor South Carolina öffentlich aus dem Wahlkampf raus. »Joe, Du musst Dir das wirklich nicht antun«, ließ er ihn laut Presseberichten wissen, als ihm Biden seine Pläne eröffnete. Es hätte statt Biden eine ganze Reihe anderer Kandidatinnen und Kandidaten des rechten Parteiflügels gegeben, um die sich das Anti-Sanders-Lager hätte versammeln können, nicht zuletzt die frühe Favoritin Harris.
Wie kann ein Politiker im Jahr 2019 daherreden wie in klassischer, rassistischer Südstaatendemokrat aus der Zeit vor dem Civil Rights Act von 1964 und 2020 eine politisch überlebenswichtige Wahl in einem Südstaat mit den Stimmen Schwarzer Wählerinnen gewinnen? Biden hatte schon immer ein besonderes Talent dafür, die zahlreichen politischen Widersprüche der demokratischen Koalition auf die Ebene persönlicher Beziehungen herunterzubrechen und sie dadurch zeitweilig zu übertünchen. Und genauso hat er South Carolina gewonnen.
Die Republikaner waren, was man hierzulande gerne vergisst, ursprünglich die Partei Lincolns. Von Abolitionistinnen und Abolitionisten gegründet, vereinten sie anfangs eine Vielzahl progressiver Strömungen und entwickelten sich in der Ära nach dem Bürgerkrieg zu einer Bewegung des klassischen Liberalismus, gegen die Sklaverei, für Gleichberechtigung und einen schlanken, aber funktionalen Staat – allesamt politische Ziele, die verschiedentlich »radikal« ausgelegt wurden.
In den 1870er Jahren setzte sich der linke Parteiflügel durchaus ernsthaft für die politischen Rechte der befreiten Sklaven ein (soziale Rechte waren der Partei mit wenigen Ausnahmen schon damals ziemlich egal) und eine Reihe Schwarzer Politiker aus den Südstaaten schlossen sich ihnen an. Andere Republikaner waren hingegen der Meinung, man sollte die ehemaligen Sklaven doch lieber nach Afrika zurückschicken, wo Gott sie geschaffen habe, und wo sie »von Natur aus« hingehörten.
Was eine jahrzehntelange liberale Hegemonie hätte werde können, wurde durch die zahlreichen Korruptionsskandale unter der Präsidentschaft von Ulysses S. Grant verspielt. Nach der äußerst knappen Wahl von 1876 verrieten der Republikaner ihre afroamerikanischen Anhänger im Süden, indem sie als Teil eines politische Kompromisses die Bundestruppen aus dem Süden zurückzogen und der jahrzehntelangen Schreckensherrschaft der weißen Lynchmobs den Weg ebneten.
Seither sind die Demokraten ein komplexes Gebilde. Im Vergleich zu den Republikanern fehlt ihnen eine Leitideologie, weshalb die Partei seit mehr als 150 Jahren vor allem ein Sammelbecken für Nicht-Republikaner bildet. In Europa werden die Demokraten oft als abgeschwächte Variante der Sozialdemokratie dargestellt, doch diese Vorstellung ist grundfalsch. Nach dem Bürgerkrieg schlossen sich arme wie reiche Rassisten, vor allem aus dem Süden, mit dem Großkapital und katholischen Einwanderern aus dem Norden zu einer eher klassisch konservativen Partei zusammen.
Die Demokraten durchliefen in der Folge eine Vielzahl von Transformationen. Ihr kultureller Konservatismus wurde schwächer und ihr wirtschaftspolitisches Profil schärfer, was vor allem dem Zuwachs der Arbeiterklasse in den eigenen Reihen zuzuschreiben ist. Die Kandidatur des Linkspopulisten William Jennings Bryan im Jahr 1896 markierte einen Wendepunkt von dem aus sich die Partei schrittweise zur Koalition rund um die Umverteilungspolitik des New Deal unter Franklin D. Roosevelt entwickeln sollte.
In der organisierten Arbeiterinnenklasse waren die Demokraten jedoch nie verankert gewesen, ihre Beziehungen zu den Gewerkschaften waren selbst zu den Hochzeiten des New Deal rein zweckmäßig. Mit jeder ideologischen Wandlung der Partei verblieb ein Rest des alten Konservatismus wie auch des fast vergessenen populistisches Geistes der Demokraten, an den zuletzt Bernie Sanders appellieren konnte, und der der trotz der Hinwendung zum Neoliberalismus unter Jimmy Carter, Bill Clinton und Barack Obama immer noch an der Parteibasis schlummerte.
Zusammengenommen bilden die zahlreichen Evolutionsschritte des US-Parteiensystems, die sich in verschiedenen Regionen des Landes zu verschiedenen Zeitpunkten vollzogen, eine vollständige, fast perfekte Inversion. Die rassistischen, erzkonservativen Republikaner von heute sind auf bestimmte Weise wesensverwandt mit den Demokraten von einst, und der blauäugige Liberalismus der Mainstream-Demokraten von heute, welcher redistributive Fragen lieber ausklammert, gleicht dem eines bestimmten Flügels der Republikaner der Ära nach dem Bürgerkrieg.
Biden lebt diese bis heute fortdauernde innere Widersprüchlichkeit der Demokratischen Partei wie kein zweiter. Schon seinen ersten Wahlkampf um einen der Senatssitze des winzigen Ostküstenstaats Delaware gewann er 1972 gegen einen liberalen republikanischen Amtsinhaber, der damals unter anderem von der afroamerikanischen Bürgerrechtsorganisation National Association for the Advancement of Colored People (NAACP) unterstützt wurde, mit einem eklektischen Mix aus rechts- und linkspopulistischen Positionen.
Biden machte sich sowohl für den Bau von mehr Sozialwohnungen für die (zu signifikanten Teilen afroamerikanische) Arbeiterinnenklasse des Bundesstaats stark, verspottete seinen Gegner gleichzeitig aber wegen dessen ostentativem Einsatz für die Bürgerrechtsbewegung (heute würden wir wohl den Begriff »Identitätspolitik« bemühen). Obwohl Biden der oberen Mittelklasse entstammt, galt seine Herkunft in der bis heute im wesentlichen dynastischen US-Politik als bescheiden und Biden pflegte über seine ganze Karriere sein Image des »Scranton Joe«, des Arbeiterjungen aus der Bergbaustadt in Pennsylvania.
Einmal im Senat angekommen, konzentrierte sich Biden darauf, ein weites Netz aus persönlichen Beziehungen aufzubauen und zu pflegen, das explizit weder vor parteilichen noch ideologischen Grenzen halte machte. Biden wurde durch Händeschütteln und Hinterzimmerdeals zu einer Instanz im Senat und knüpfte Kontakte zu engen Vertrauten in allen Flügeln der eigenen Partei und den Republikanern.
Einen besonders engen Draht hatte er zum dahinsiechenden, konservativen Südstaatenlager der Demokraten, welches der Rassentrennung nachhing und den Civil Rights Act, wie viele weiße Wählerinnen und Wähler im Süden, nie akzeptiert hatte. Legendär war vor allem sein gutes Verhältnis zu Strom Thurmond, einem Befürworter der Rassentrennung, der bereits 1964 zu den Republikanern übergelaufen war, und ausgerechnet South Carolina im Senat vertrat. Auch mit Robert Byrd aus West Virginia, der anders als Thurmond bei den Demokraten blieb, obwohl er in den 1940er Jahren dem Ku Klux Klan angehört hatte, kam Biden gut aus.
Das hielt ihn jedoch nicht davon ab, auch mit einer neuen Generation afro-amerikanischer Politiker, die wie Clyburn in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren nach Washington kamen, enge Beziehungen zu pflegen. Für die Demokraten, für welche die Rassenfrage damals eine echte Zerreißprobe darstelle, erfüllte Biden so eine wichtige Scharnierfunktion, was auch seiner Karriere durchaus Auftrieb verschaffte. In Bidens Weltsicht ist vor allem eines wichtig: Man muss mit den Leuten reden und sie an einen Tisch bringen. Laut seines Politikverständnisses lassen sich so die scheinbar unversöhnlichsten Konflikte und unmenschlichsten Ideologien wie der Rassenhass der weißen Mehrheit in den Südstaaten entschärfen, ausgleichen und befrieden. Zu den Ergebnissen dieses Lösungsansatzes fragt man am besten die Millionen Obdachlosen und die Familien von George Floyd, Breonna Taylor und tausenden anderen.
Warum hat sich also unter allen wirtschaftsnahen Kandidaten ausgerechnet Biden gegen Sanders durchgesetzt? Ein Grund dafür ist, dass er als jahrzehntealte parteiinterne Ausgleichsfigur sowohl die afroamerikanische Parteibasis in den Südstaaten als auch das afroamerikanische politische Establishment für sich gewinnen konnte. Für Minderheiten war es in der US-Politik jahrzehntelang vor allem entscheidend, überhaupt einen institutionellen Zugang zu haben, oft über persönliche Beziehungen. Empathie war hier nicht das entscheidende Kriterium, sondern die Chance, im politischen Prozess überhaupt gehört zu werden. Bei Leuten wie Biden fand man immerhin ein offenes Ohr und auch wenn inhaltlich oft wenig herauszuholen war, so konnte man doch ab und an das Schlimmste verhindern.
Um diese ausgleichende Funktion einnehmen zu können positionierte sich Biden meistens in der ideologischen Mitte der Demokraten. Dies bedeutete aber auch, dass von seinem Linkspopulismus schnell nicht mehr viel übrig blieb, und dass er durch seine enge Bindung an die Parteiführung zu einem frühen Verfechter des Neoliberalismus wurde, der unter Carter langsam in die Partei einzog, sich in der Opposition unter Reagan und Bush ausbreitete, und unter Clinton zur politischen Linie wurde.
Delaware ist so etwas wie das Luxemburg der USA, ein Steuerparadies voller Briefkastenfirmen und den Konzernzentralen großer Banken, Versicherungs- und Pharmaunternehmen. Diesen Charakter nahm es mehr oder weniger unter Bidens Amtszeit im Senat an, während die industrielle Basis verschwand und Arbeiterviertel verelendeten.
Biden lernte im Senat schnell, dass der Weg des geringsten Widerstands den wirtschaftlichen Interessen des aufstrebenden Dienstleistungssektors seines Bundesstaats folgte. Seither kann er sich jederzeit auf großzügige Spenden der Konzerne verlassen, was bei seinem aktuellen Präsidentschaftswahlkampf, der alle finanziellen Rekorde bricht, nicht anders ist.
Doch Bidens Wirtschaftsnähe geht über reinen Pragmatismus hinaus. Es dauerte nicht besonders lange, ihn davon zu überzeugen, dass der Neoliberalismus die richtigen Antworten auf die Stagflation der 1970er Jahre bot, und diese Überzeugungen prägen seine Wirtschaftspolitik bis heute. Ein Fanatiker der freien Märkte wie Reagan war er nie. Jedoch war und ist er der festen Überzeugung, dass Politik zum Wohl der Gesellschaft nur mit dem Kapital gelingen kann. Im Herzen ist er Korporatist und sucht den Ausgleich unter verschiedenen Interessengruppen, immer unter der Maßgabe, dass sich »nichts fundamental ändern« darf, wie er seinen Großspendern versprach.
Allerdings ist Biden weniger für sein wirtschaftspolitisches Profil bekannt, dass für einen Demokraten seiner Kohorte ziemlich unauffällig ist. Sein politisches Meisterstück war die extrem autoritäre Strafrechtsreform, die er 1994 unter Bill Clinton gegen minimalen Widerstand durch den Kongress drückte. Bis vor wenigen Jahren war sie unter dem Namen »Biden Crime Bill« bekannt, eine Bezeichnung, vor der man sich nun auf demokratischer Seite peinlich zu distanzieren versucht.
Obwohl Polizei und Strafrecht in den USA schon immer vergleichsweise autoritär und gewalttätig waren, so war durch das Gesetzespaket eine völlig neue Qualität der Eskalation erreicht worden. Mit seinen drakonischen Strafmaßen zementierte es das US-Massengefängniswesen wie wir es heute kennen. Es ist vermutlich keine Übertreibung zu sagen, dass das von Biden mitinitiierte Reformpaket dafür verantwortlich ist, dass heute mehrere hunderttausend Menschen zusätzlich in Haft sitzen. Wahrscheinlich würde er das heute nicht einmal bestreiten.
Natürlich waren vor der Reform zuvorderst benachteiligte Minderheiten betroffen, denen das Justizsystem mit Rassismen sowohl struktureller als auch interpersoneller Art begegnet. Doch Biden handelte nicht allein, und nicht gegen den Willen der allermeisten afroamerikanischen Politiker in seiner Partei. Kriminalität, vor allem gewalttätiger Art, hatte in den USA seit den 1960er Jahren in der Tat enorm zugenommen. Stark betroffen waren die deindustrialisierten Innenstädte, wo arbeitslose Arbeiterinnen und Arbeiter, viele von ihnen Nichtweiße, ohne nennenswerte soziale Absicherung auskommen mussten. Sie waren somit sowohl unter den Tätern wie unter den Opfern überrepräsentiert.
Vor allem die afroamerikanische untere Mittelklasse und Arbeiterklasse litt akut unter den Folgen der gestiegenen Gewaltkriminalität. So stand die öffentliche Meinung im ganzen Land, inklusive des afroamerikanischen politischen Establishments fest hinter einer deutlich verschärften Law-and-Order-Politik. Auch Bernie Sanders, zu dieser Zeit Abgeordneter im Repräsentantenhaus, stimmte 1994 trotz großer Vorbehalte für das Paket zur drastischen Verschärfung des Strafrechts, hauptsächlich, weil es auch Maßnahmen zum Schutz von Frauen vor Gewalt enthielt.
Anders als Sanders kämpfte Biden jedoch 36 Jahre lang im Senat für die Interessen des Großkapitals. Weitere Höhepunkte seiner Karriere umfassen sein aggressives Werben für den Irakkrieg, die weitgehende Abschaffung der Sozialhilfe im Jahr 1996 und eine Reform des Insolvenzrechts, die es den Kreditkartenanbietern seines Heimatstaates deutlich einfacher machte, ihre Kundinnen in den Ruin zu treiben. Letztere Initiative ging selbst Bill Clinton zu weit, und Biden musste fünf Jahre warten bis George W. Bush das Gesetz schließlich unterschrieb.
Wie kann es sein, dass heute alles vergeben und vergessen scheint? Diese Frage lässt sich letztlich nicht zufriedenstellend beantworten. Bei den ersten vier Vorwahlen schnitt Biden 2020 extrem schlecht ab – wie zu erwarten von einem Politiker der Vergangenheit in einer sich scheinbar erneuernden Partei. Clyburn und der Erfolg in South Carolina retteten ihm die Haut. Sicherlich haben eine gefügige Medienlandschaft und großzügige Unternehmensspenden während der Vorwahlen ebenso dazu beigetragen, Biden politisch wiederzubeleben. Während der Vorwahlsaison wurde mehr über Bernie Sanders verunglückte Essays aus den 1970er Jahren diskutiert als über die glaubhaften Anschuldigungen von sexualisierter Gewalt gegen Biden.
Doch Geld allein kann das wundersame Comeback Bindens nicht erklären. Man sollte die Beweggründe seine Wählerinnen und Wähler also weiter ausloten, auch wenn das Ergebnis unbefriedigend ausfallen sollte.
Viele unter ihnen schienen mehr als bereit, Biden seine Fehler der Vergangenheit zu verzeihen. Vizepräsidentschaftskandidatin Harris sieht es ähnlich. Als sie in einem Interview gefragt wurde, ob ihre harsche Kritik an Biden nicht im Widerspruch zu ihrer Kandidatur stehe, lachte sie den Fernsehkomiker Stephen Colbert unverhohlen aus. »Es war eine Fensehdebatte«, belustigte sie sich. Alles halb so wild, man kennt sich ja.
Auch unter Neoliberalen gibt es sowohl zynische Karrieristen wie auch wahre Gläubige, nur sind letztere oft besser und kreativer darin, ihre Ideologie zu verkaufen und zu verbreiten, weshalb sie sich im politischen Wettbewerb tendenziell durchsetzen. Das Duo Biden-Harris ist hierfür ein Paradebeispiel. Biden war immer Überzeugungstäter, nie Zyniker. Er verbringt sehr viel Zeit mit Lobbyisten und scheint aufrichtig zu glauben: Was gut für JP Morgan Chase ist, das ist auch gut für Amerika. Einigen demokratischen Wählerinnen und Wählern ist das schon Grund genug, um ihn für einen anständigen Typ und aufrichtigen Patrioten zu halten.
In diesem Sinne ist vielleicht auch Bidens fortgeschrittenes Alter von Vorteil. Matt Karp argumentiert, dass bestimmte Wählerinnen und Wähler durch Bidens »Kombination von Alter, Verschmitztheit und gutmütiger Dämlichkeit« den Eindruck gewonnen hätten, »er gehöre zu einer längst ausgestorbenen Art von New-Deal-Demokraten«. Manche mögen auch glauben, dass die berüchtigte »weiße Arbeiterklasse« Trump eher abschwört, wenn man einen Gegenkandidaten aufstellt, der weder besonders kompetent noch fortschrittlich wirkt.
Zudem sind Bidens persönliche Sünden auch die Sünden der Partei. Biden war zwar tonangebend im Richtungswechsel nach rechts, vom Grundkonsens der Partei wich er aber zu keiner Zeit ab. Rechenschaft über seine politische Biographie abzulegen, würde im Jahr 2020 zu viele unangenehme Frage aufwerfen.
Bidens sichtbar schwindenden geistigen Kräfte tun ihr Übriges, um ihn vor Kritik zu bewahren. Wer seine Fernsehdebattenauftritte dieses Jahr verfolgt, erkennt den Mann nicht wieder, der den Republikaner Paul Ryan bei der Vizepräsidentschaftsdebatte 2012 förmlich bloßstellte. Einige jüngere Wählerinnen und Wähler erinnert er an liebenswürdige ältere Familienmitglieder; da erscheint es kleinlich, ihm seine Fehler und Rückständigkeit vorzuwerfen. Dieser Trick verfängt erstaunlich oft. Joe Biden ist auf dem besten Weg, Amerikas gutmütig-trotteliger Opa der Nation zu werden, den man sich allerdings dank seines Mitarbeiterinnenstabs und seiner lebenslang gepflegten Netzwerke als alles andere als harmlos vorstellen muss.
Viele Demokratinnen und Demokraten betrachten die Präsidentschaft Trumps als historischen Unfall und unvorhergesehene Abweichung vom normalen Betriebszustand ihres Staates. Sie sehnen sich nach einer Rückkehr zur Normalität. Selbst diejenigen unter ihnen, die von Biden nicht viel halten, versprechen sich von seiner Überparteilichkeit eine nationale Versöhnung. Dabei übersehen sie, dass Biden vielleicht nicht immer auf Seiten der Demokraten, jedoch stets auf Seiten der Konzerne stand.
Biden ist eine gewöhnliche Kreatur Washingtons: Gewöhnlich korrupt, mit gewöhnlichen Skandalen und den gewöhnlichen Leichen im Keller (was weniger über seinen Charakter und mehr über den Zustand der amerikanischen Demokratie aussagt). Wenn die Wiederherstellung der Normalität oberstes Gebot ist, mag es manchen vielleicht sinnvoll erscheinen, einen Politiker ins Weiße Haus zu wählen, der in seiner Gewöhnlichkeit – so abstoßend sie auch sein mag – das System wie kaum ein anderer verkörpert.
Sollte Biden gegen Trump verlieren, was auch im Oktober 2020 durchaus im Bereich des Möglichen liegt, ist die schon seit Jahrzehnten krankende amerikanische Demokratie in akuter Lebensgefahr. Dies ist keine liberale Wahnvorstellung, sondern schlicht und einfach Fakt. Trump war lange zögerlich, wenn es darum ging, die Fundamente des Rechtsstaats zu schleifen, doch im Wahljahr hat er sich dazu entschieden, alle Karten auf den Autoritarismus und nationalen Chauvinismus zu setzen. Wenn Trump gewinnt, wird er sich darin bestärkt sehen, sich vollkommen über das Gesetz zu stellen. Eine gefügige Bundesgerichtsbarkeit inklusive einer neuen Zweidrittelmehrheit am obersten Gerichtshof wird ihn darin nicht aufhalten. So sehr ihre Abneigung gegenüber Biden berechtigt ist: Kein Linker und keine Linke irgendwo auf der Welt sollten Trump die Daumen drücken.
Und wenn Trump verliert? Linke sollten sich für diesen Fall ebenfalls keine unberechtigten Hoffnungen machen. Es wird auf jeden Fall schlimm. Die Frage ist, wie schlimm genau.
Egal was Biden im Wahlkampf behaupten mag, Initiativen für neue Militäreinsätze und Kürzungen bei den bereits äußerst dürftigen Sozialprogrammen Medicare und Medicaid sowie bei der bescheidenen gesetzlichen Rente stehen auf jeden Fall an. Bei ersteren hat die parlamentarische Linke wenig Einflussmöglichkeiten, da das Mitspracherecht des Kongresses in solchen Fällen oft durch juristische Winkelzüge umgangen werden. Nur eine außerparlamentarische Massenbewegung könnte eine Biden-Regierung vom Versuch abhalten, das imperiale Projekt mit militärischen Mitteln fortzuführen. Doch die Friedensbewegung in den USA ist so schwach wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Drohnen, Stellvertreterkriege und die Rhetorik des liberalen, »aufgeklärten« Imperiums, dass nur seiner »Führungsrolle« gerecht wird, haben Krieg und Frieden aus dem öffentlichen Bewusstsein verbannt. Zwar ist der Militarismus der Bush-Ära fast ausgestorben (stattdessen wird oft die Polizei idealisiert), doch an seine Stelle trat eine generelle Apathie gegenüber dem strauchelnden Imperium, kein substanzieller gesellschaftlicher Konsens, es zurückzudrängen.
Was soziale Kürzungen anbelangt, so hat eine breite linke Allianz innerhalb und außerhalb des Parlaments mehr Chancen, ein solches Projekt aufzuhalten. Im nächsten Kongress werden etwa zwanzig Abgeordnete sitzen, die sich klar dem Sanders-Lager zuordnen lassen, und etwa vierzig weitere Demokraten, die man zu den zuverlässigen Anhängerinnen der Denkschule der linksliberalen Reformer zählen kann, wie etwa die Senatorin und ehemalige Präsidentschaftskandidatin Elizabeth Warren.
Von einer linken Mehrheit unter den Demokraten kann also nicht die Rede sein, und doch ist diese parlamentarische Linke stärker als seit Jahrzehnten. Da die Zusammenarbeit zwischen Republikanern und Demokraten längst nicht mehr funktioniert wie in den 1980er und 1990er Jahren wird Biden ohne ihre Stimmen schlecht regieren können.
Vor allem, wenn es den Demokraten gelingt, den Senat zurückzuerobern, könnte eine breite Massenbewegung, inklusive der Gewerkschaften, den Sozialabbau eventuell verhindern. Dies würde die linken Strukturen, die in den letzten fünf bis zehn Jahren im Land wiederaufgebaut wurden, bis aufs Äußerste ausreizen. Doch es lohnt sich, zu kämpfen. Ein Sieg bei der Verteidigung der mickrigen Reste des amerikanischen Sozialstaats könnte ein Katalysator für eine neue linke Mobilisierungswelle sein und hoffentlich wieder mehr Arbeiterinnen und Arbeiter an die Gewerkschaften binden. Eine Niederlage hingegen würde die gestresste, geschundene US-Gesellschaft, die bereits jetzt vielerorts am Rande des Zusammenbruchs steht, wohl endgültig dem Faschismus preisgeben.
Sollte Biden die Wahl klar gewinnen, wird das Establishment der Demokraten dies als Bestätigung ihres Mitte-Rechts-Kurses auffassen. Verliert Biden oder gewinnt er nur knapp, wird dies als Beleg dafür herhalten müssen, dass die verrückten Sanders-Spinner die Partei zu weit nach links getrieben hätten. So oder so, eine innerparteiliche Auseinandersetzung wird kommen.
Sind von einer Biden-Regierung auch positive Projekte zu erwarten? Ein prominenter amerikanischer Linker ist davon überzeugt. Bernie Sanders macht schon seit Monaten landauf landab fleißig Wahlkampf für linke Kongresskandidatinnen, aber eben auch für seinen ehemaligen Konkurrenten Biden. Denn auch zu Sanders hatte Biden immer einen guten Draht, schon seit dieser 1990 als sozialistischer Exot aus Vermont nach Washington kam. Die beiden scheinen während der für Sanders äußerst frustrierenden Obama-Jahre einen Modus gefunden zu haben, hart in der Sache zu bleiben und doch freundschaftlich miteinander umzugehen.
Bernie wird oft als ultimativer Außenseiter dargestellt, doch das ist nur die halbe Wahrheit. Im Repräsentantenhaus war er dafür bekannt, mehr Änderungsanträge durchgebracht zu haben als irgendjemand sonst. Wahrscheinlich gibt es Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner, deren Leben sich Dank Sanders politischer Beziehungen in Washington in kleinen Details verbessert hat, ohne dass sie es jemals ahnen werden.
Sanders scheint zu glauben, dass man mit Biden insbesondere in der Klimafrage Fortschritte erzielen könnte. Wenn China und Europa sich bewegen, wie sie es aktuell tun, ist gut möglich, dass auch in den USA Schritte in die richtige Richtung gemacht werden. Diese werden zunächst unzureichend sein und sicherlich nicht die redistributiven Elemente eines echten Green New Deal umfassen, und doch eröffnen sie vielleicht einen politischen (und physikalischen) Pfad, um beim Klimaschutz ein suboptimales, jedoch nicht katastrophales Endergebnis zu erreichen. Doch auch hier sollen wir unsere Erwartung nicht zu hoch ansetzten. Harris verkündete bereits, dass die Erdgasindustrie samt Fracking unter Biden nicht zur Disposition stünde.
Der wichtigste Unterschied zwischen der Präsidentschaft von Obama und einer möglichen Amtszeit von Biden wird aber sein, dass sich dieses Mal niemand Illusionen macht, mit wem wir es wirklich zu tun haben. Eine linke Demobilisierung wie unter Obama ist unwahrscheinlich. Wer mit Genossinnen aus den USA spricht, wird fast ohne Ausnahmen zu hören bekommen, dass der echte Kampf unter Biden erst noch bevorsteht. Nur wenn sie Biden durch massive Mobilisierung zum Handeln zwingt, hat die US-amerikanische Linke in den nächsten vier Jahren überhaupt eine Chance, das Land mitzugestalten. Ob es eine organisatorische Basis dafür gibt, muss sich erst noch zeigen.
Alexander Brentler ist Journalist und Übersetzer.