27. September 2024
Die Türkei tötet gezielt kurdische Medienschaffende im Nordirak. Damit versucht sie, Kriegsverbrechen zu verschleiern.
Portraits getöteter Journalisten in Diyarbakır, 20. September 2024.
Ülkem Isen kam gerade mit ihrer zehnjährigen Tochter nach Hause, als sie plötzlich per Anruf einer Freundin von einem Angriff auf Journalisten im kurdischen Nordirak erfuhr. Ihr Herz blieb stehen, sofort dachte sie an ihre Schwester Gulistan Tara. Als sie die Nachrichten auf ihrem Telefon anschaute, sah sie direkt ein Bild von ihr und ihrer Kollegin Hêro Bahadîn. Es hieß, sie seien durch einen türkischen Drohnenschlag getötet worden.
Die beiden Journalistinnen waren mit ihrem Fahrer Rêbîn Bekir auf dem Weg von Silêmani in die Region Hewreman, um einen Dokumentarfilm zu drehen, als eine Rakete in ihr Auto einschlug. Bekir hatte Glück. Er wurde aus dem Frontfenster geschleudert und überlebte mit schweren Verletzungen, noch bevor das Auto direkt in Flammen aufging. Doch Gulistan Tara und Hêro Bahadîn starben umgehend. Laut Zeugenaussagen sollen ihre Körper zur Unkenntlichkeit verbrannt sein.
Laut der staatlichen Nachrichtenagentur der Türkei, Anadolu Ajansı, die sich auf »Sicherheitsquellen« beruft, war der Angriff Teil einer größeren Operation des türkischen Geheimdienstes zur »Neutralisierung« von »PKK-Terroristen«. Dabei geht es eigentlich um etwas anderes: Mit der gezielten Ermordung von Journalistinnen und Journalisten unterbindet die Türkei kritische Berichterstattung und verhindert so systematisch die Dokumentation von Kriegsverbrechen.
Dass diese Fälle aktuell so gehäuft auftreten, ist kein Zufall. Die Türkei führt seit Juni eine Militäroperation in der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak durch, und greift dabei vermehrt die Zivilbevölkerung an. Allein zwischen dem 23. August und dem 5. September wurden neun kurdische Zivilistinnen und Zivilisten durch türkische Militäraktionen in der Region Kurdistan getötet, davon acht bei drei Drohnenangriffen. Bei den Angriffen auf Zivilisten und Nichtkombattantinnen in Gebieten, die weit von den Frontlinien entfernt sind, handelt es sich nach humanitärem Völkerrecht, um extralegale Hinrichtungen. Die Türkei setzt also weiterhin auf eine gewalttätige Lösung der kurdischen Frage – mit schwerwiegenden Konsequenzen für die Bevölkerung und Medienschaffende vor Ort.
Hêro Bahadîn stammte aus Silêmanî und arbeitete als Redakteurin für die Produktionsfirma Chatr. 31 Viele junge Frauen sahen in ihr ein Vorbild und wollten genauso wie sie im Journalismus arbeiten, erinnern sich Mitmenschen an sie. In zwei Monaten hätte sie ihr Masterstudium an der Universität Dortmund begonnen. Wäre sie nicht getötet worden. Für ihren Vater Abdullah Bahadîn, steht fest, dass das türkische Regime »mutige und tapfere Journalisten zum Schweigen bringen will, um die Wahrheit zu unterdrücken und Stimmen, die sich gegen Ungerechtigkeit aussprechen, zu ersticken«.
Gulistan Tara wurde im nordkurdischen Êlih (tr. Batman) in der Türkei geboren. Sie arbeitete seit 2000 als Journalistin und war die letzten drei Jahre für Chatr in Silêmanî tätig. Zuvor arbeitete sie an verschiedenen Orten für freie kurdische Medien, unter anderem für den Frauensender Jin TV in Rojava/Nordostsyrien. Sie sei eine sehr soziale Persönlichkeit gewesen und habe »immer versucht, wichtige Themen aufzugreifen, die ihre Gesellschaft und vor allem die Frauen in dieser sehr harten Realität betreffen« so ihre Schwester Ülkem Isen. Deshalb habe sie sich entschieden, Journalistin zu werden. Mit ihrem frühen Tod sei sie in die »Fußstapfen von Cengiz Altun, Çetin Abayay und Nagihan Akarsel getreten«.
Ülkem Isen spielt damit auf drei andere kurdische Medienschaffende an, die ebenso wie ihre Schwester vom türkischen Staat getötet wurden. Cengiz Altun etwa war Korrespondent der Wochenzeitung Yeni Ülke und Çetin Abayay, der Batman-Korrespondent der Monatszeitschrift Ozgur Halk. Beide wurden auf dem Weg zur Arbeit ermordet, nachdem sie Morddrohungen von staatlichen Sicherheitskräften erhalten hatten.
Das Gleiche gilt für Nagihan Akarsal, Redakteurin der kurdischen Monatszeitschrift Jineolojî, die letzten Oktober vor ihrem Haus in Silêmanî von einem Attentäter hingerichtet wurde. Vieles deutet darauf hin, dass der türkische Militärgeheimdienst MIT hinter dem Mord steckt. Die Ermordung von Gulistan Tara und Hêro Bahadîn reiht sich also in eine Vielzahl von Angriffen auf weibliche Medienschaffende ein, die immer auch als gezielte Angriffe auf die kurdische Frauenbewegung an sich zu verstehen sind. Und die letzten Jahre haben gezeigt: Wenn der türkische Krieg in Kurdistan eskaliert, nehmen auch die Tötungen von Journalistinnen zu.
Nachdem der türkische Präsident Erdoğan im März vor seinem Kriegskabinett angekündigt hatte, »die Frage der irakischen Grenze in diesem Sommer endgültig zu klären«, rücken türkische Truppen und Panzerfahrzeuge in die Städte und Dörfer der Regionen Duhok und Amediye in der Autonomen Region Kurdistan vor. Seit 2017 hat die Türkei mit Bodenoffensiven gegen die Guerilla-Einheiten der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) weite Teile der Region besetzt.
Die PKK kämpft seit über 40 Jahren für die Rechte der kurdischen Bevölkerung. Während sie zu Beginn für einen kurdischen Nationalstaat eintrat, fordert sie nun politische Autonomie innerhalb der bestehenden Grenzen. Sie vertritt ein von Frauen geführtes, ökologisches Basisdemokratie-Modell. Dieses inspirierte die kommunalen Selbstverwaltungen in den kurdischen Gebieten der Türkei, die demokratische Selbstverwaltung in Nordost-Syrien und die Jin-Jiyan-Azadî-Revolte im Iran, deren Slogan heute in der ganzen Welt widerhallt.
International wird nur sehr wenig über den Krieg der Türkei in der kurdischen Region des Iraks berichtet. Dabei soll die Türkei mindestens 74 Militärstützpunkte im Nordirak gebaut haben. Das türkische Militär nutzt die Stützpunkte als Drehscheiben für ihre Bodenmissionen. Neben der intensiven Bombardierung der bergigen Region verbrennen türkische Streitkräfte Ackerland und roden Wälder. Dadurch wird die einheimische Bevölkerung vertrieben. Laut der NGO Community Peace Maker Teams mussten bereits jetzt Tausende Menschen aus über 170 Dörfern ihre Dörfer verlassen, 602 weitere Orte sind gefährdet. 344 Zivilistinnen und Zivilisten wurden zwischen 1991 und Ende Juni 2024 getötet.
Auch in Nordsyrien, wo die kurdische Bevölkerung im Laufe des syrischen Bürgerkriegs gemeinsam mit anderen Bevölkerungsgruppen die Demokratische Selbstverwaltung Nordostsyriens etablierte, wurden seit Anfang 2022 111 Zivilisten, darunter 13 Kinder, durch türkische Luftangriffe getötet. Die türkischen Angriffe zielen auf die Zerstörung der Infrastruktur. Bombardements im Oktober und Dezember 2023 haben dazu geführt, dass Millionen Menschen von der Strom- und Wasserversorgung abgeschnitten sind. Die Versorgung ist bis heute sehr mangelhaft. Außerdem haben türkische Streitkräfte und dschihadistische Milizen in drei völkerrechtswidrigen Angriffskriegen in den Jahren 2016, 2018 und 2019 Gebiete entlang der Grenze unter ihre Kontrolle gebracht. In den besetzen Gebieten sind Folter, Entführungen und Massaker, besonders an der kurdischen Zivilbevölkerung, an der Tagesordnung.
Der ideologische Vordenker der kurdischen Freiheitsbewegung und Gründer der PKK Abdullah Öcalan, der seit mehr als 25 Jahren in der Türkei inhaftiert ist, initiierte zwischen 2013 und 2015 einen Dialog mit der türkischen Regierung, der jedoch letztlich scheiterte. Nach den Parlamentswahlen 2015, bei denen die Kurden, vertreten durch die HDP, sehr erfolgreich waren, brach die Erdoğan-Regierung den Dialog ab. Was folgte, war ein politischer Vernichtungsfeldzug mit massenhaften Verhaftungen, Schließung von zivilgesellschaftliche Institutionen und einem intensiven Krieg gegen die kurdische Bewegung und Bevölkerung. Anstatt der kurdischen Frage auf friedlicher und politischer Weise zu begegnen, insistierte die Türkei darauf die Frage als »Terrorproblem« zu behandeln.
Nach dem versuchten Militärputsch 2016 beschloss die Regierung in Ankara, ihren Krieg gegen die Kurden über die eigenen Grenzen hinauszutragen, aus Angst die Existenz der kurdischen Selbstverwaltung in Nordostsyrien und der Autonomen Region Kurdistan im Irak könne eine Bedrohung für den türkischen Staat darstellen. Im Zuge dessen kündigte Erdoğan an eine »Sicherheitszone« von 30 bis 40 Kilometern entlang der Grenze zu Syrien und dem Irak errichten zu wollen, um gegen »Terroristen« vorzugehen. Während einer Rede vor der UN-Generalversammlung im Jahr 2019 präsentierte er eine Karte mit dem syrischen Teil des Vorhabens und kündigte an die kurdische Bevölkerung aus der Region zu vertreiben und durch »arabische Flüchtlinge« zu ersetzen.
Dabei beschränkt sich der Wille der Türkei die kurdische Bewegung zu zerschlagen, nicht nur auf die kurdischen Berge, sondern bestimmt seit dem Scheitern der Friedensverhandlungen zunehmend die türkische Innen- und Außenpolitik. Dazu gehören die Interventionen in Syrien und im Irak, die Verfolgung und Ermordung vermeintlicher Anhänger der PKK in Europa, die Erpressung Finnlands und Schwedens zur NATO-Mitgliedschaft ebenso wie die gewalttätige Unterdrückung kurdischer Sprache und Kultur in der Türkei. Das Schweigen der internationalen Öffentlichkeit, motiviert Erdoğan zusätzlich.
Seit 2003 genießen die Kurden im Nordirak weitgehende Autonomie. Die Autonome Region Kurdistan wird von zwei Familien autoritär regiert. Die Region Hewlêr wird von den Barzanis und ihrer Demokratischen Partei Kurdistans (PDK) kontrolliert, die Region Silêmani von der Patriotischen Union Kurdistans (PUK), die von der Familie Talabani dominiert wird. Der Türkei ist es in jüngster Zeit gelungen, die Zustimmung der irakischen Zentralregierung und der PDK für ihren Krieg gegen die PKK zu gewinnen, während sich die PUK bislang verweigert. Die kurdische Freiheitsbewegung spricht von einem Ankara-Hewlêr-Bagdad-Pakt, der gegen sie geschlossen wurde. Die Zusammenarbeit der PDK mit der Türkei hat auch mit den wirtschaftlichen Interessen beider Länder zu tun, die Türkei ist etwa der größte Abnehmer von Rohöl aus der Region.
Dieses Bündnis spiegelt sich auch in der Bewertung der türkischen Militäroperationen seitens der PDK. Die Anti-Terror-Abteilung und die Medien der Demokratischen Partei Kurdistans (PDK), die die Autonome Region Kurdistans regiert, hat die getöteten Journalistinnen Tara und Bahadîn in einer Erklärung schon wenige Minuten nach dem Angriff als »PKK-Kämpferinnen« bezeichnet.
Anders bewertet den Vorfall etwa Reporter Ohne Grenzen. Die Organisation verurteilte die Angriffe auf Journalisten vehement und fordert von der Türkei und dem Irak Aufklärung und die Verantwortlichen zu Rechenschaft zu ziehen. Inzwischen gehöre die Autonome Region Kurdistan zu »einem der gefährlichsten Orte für Journalisten weltweit«. Die Berichterstattung über Korruption, Vetternwirtschaft der kurdischen Autonomieregierung oder türkische Kriegsverbrechen kann für Journalisten mit Verfolgung, Haft oder sogar Tod enden.
Seit mehreren Jahren mobilisieren Dutzende von Organisationen auf der ganzen Welt mit Appellen an internationale Institutionen, Mahnwachen und Märschen, um Öcalans Freiheit und eine politische Lösung der kurdischen Frage zu fordern. Da es seit über dreieinhalb Jahren kein Lebenszeichen von ihm gibt, haben auch 69 Nobelpreisträger in einem Brief an den türkischen Präsidenten und verschiedene europäische Institutionen ein Ende der Isolation, die Freilassung Öcalans und die Wiederaufnahme von Friedensverhandlungen gefordert, um dem Krieg ein Ende zu setzen. Die türkische Regierung hat sich dem jedoch stets in jeder Hinsicht widersetzt.
Die deutsche Bundesregierung unterstützt die Türkei in ihrer Haltung weiterhin, durch die Kriminalisierung und Verfolgung kurdischer Aktivistinnen und Aktivisten in Deutschland. Auch die US-Regierung hat wiederholt indirekt grünes Licht für die türkischen Angriffe signalisiert, indem sie darauf verwies, dass die Türkei ihre Angriffe mit dem Irak und der Autonomieregierung abstimmen müsse.
So gehen die Bombardierungen, im Schatten des Ukrainekriegs und Genozids in Gaza einfach weiter und Erdoğan nutzt diese Situation aus, um seine Macht zu erhalten. Unter diesem Gesichtspunkt stehen den Kurden und ihren mutigen Journalistinnen und Journalisten noch schwierigere Zeiten bevor.
Justus Johannsen ist Aktivist, politischer Bildungsreferent und schreibt regelmäßig über soziale Bewegungen und internationale Konflikte.